Die Pariser Neuproduktion von „Das Rheingold“ wird im Graben zum Ereignis: Das Orchester der Nationaloper und der Dirigent Pablo Heras-Casado begeistern mit einem „Wagner à la française“
Die Pariser Nationaloper hat kein Glück mit ihren „Ringen“. Richard Wagners Tetralogie wurde in Frankreichs Hauptstadt zunächst stückweise präsentiert, und in der falschen Reihenfolge: „Das Rheingold“, der Prolog des „Bühnenfestspiels für drei Tage und einen Vorabend“, kam erst 1909 zur Aufführung, nach „Die Walküre“ (1893), „Siegfried“ (1901) und „Götterdämmerung“ (1908) – und zwei Jahrzehnte nach ungleich kleineren Städten wie Basel, Bologna, Graz oder Triest. Erst 1911 gab es an der Opéra Garnier einen ersten vollständigen „Ring“, 35 Jahre nach der Bayreuther Bühnentaufe. Während der Intendanz von Rolf Liebermann wurde dann eine geplante ambitiöse Neuproduktion mit Georg Solti am Dirigentenpult 1976 auf halber Strecke abgebrochen – aus Kostengründen, wie es hieß.
So war der seinerseits an der Bastille-Oper präsentierte Zyklus von 2010/2011 der erste seit 1957 – doch leider trotz Philippe Jordans sensationeller Aufbauarbeit mit den in „Ring“-Dingen unerfahrenen Orchestermusikern nur ein halber Erfolg: Günter Krämers Inszenierung stieß von Beginn an auf einhellige Ablehnung. Jordans vorgesehener zweiter Chance mit einem neuen Regisseur, dem Spanier Calixto Bieito, machte dann 2020 die Pandemie einen Strich durch die Rechnung: Die Tetralogie musste konzertant gegeben werden – und als Radioübertragung vor leeren Sälen. Bieitos um vier Jahre verschobener „Ring“ endlich, zu welchem die hier besprochene Produktion den Auftakt bildet, beginnt mit einer derart dürftigen Regieleistung, dass allfällige Erwartungen in den szenischen Fortgang des Unternehmens sogleich auf null hinuntersausen.

Dafür begeistern Orchester und Dirigent. Die Instrumentalisten der Pariser Nationaloper hatten mit Jordan das erarbeitet, was man einen „Wagner à la française“ genannt hat. Dieser lässt sich nur mittels frankophiler Klischees umschreiben: schlank und geschmeidig, duftig und feingezeichnet, transparent und klangsinnlich. Auch jetzt „sitzt“ fast alles wieder perfekt (selbst bei den Hörnern wackelt kaum etwas): Bereits die Ensembleleistung ist bewundernswert. Wie zum Beispiel die Blechblasinstrumente (Hörner und Wagnertuben, Trompeten und Basstrompete, Posaunen mitsamt Kontrabassposaune sowie Kontrabasstuba) Akkorde ohne hörbaren Ansatz bilden und zu einem Mischklang finden, der nie stählern und kompakt, sondern weich und durchsichtig wirkt. Wie die Geigen, besonders magisch in der Aufhellung nach Alberichs finsterem Fluch, filigran und diaphan tönen, aber nie dünn oder gar strähnig. Wie Celli und Bässe ein warmdunkles, federndes Fundament beisteuern. Und wie das Holz – die französische Instrumentenfamilie par excellence – ein oft frühlinghaftes Flair verströmt, etwa in der Passage, in der Loge „Weibes Wonne und Wert“ besingt und alles im Graben webt und wallt. Rein instrumental bietet dieses „Rheingold“ eine (Hoch-)Kultur des Ensemblespiels, an der man sich kaum satthören kann.
Dazu das Dirigat von Pablo Heras-Casado. Der „Opernwelt“-Dirigent des Jahres 2024 hat klare Vorstellungen und vermittelt diese fruchtbringend. Das berühmte Vorspiel gestaltet er als eine lange lineare Steigerung, bevor in der Schlusskurve, pardon: -welle dann vier letzte Aufschwünge sinusförmig zu swingen beginnen. Die aquatische Trouvaille, die in medias res beziehungsweise mitten in den Rhein führt, ist nur einer von vielen Einfällen, die auf genauem Studium der Partitur beruhen. Gesucht, gewollt, gar gekünstelt wirkt hier nichts; gefunden und hingebungsvoll ausgestaltet hingegen vieles. Selbst da, wo das Orchester rezitativähnlichen Gesang bloß mit einzelnen Akkorden oder Begleitfiguren grundiert, tönen diese nicht nach sinnentleerter Pflicht, sondern nach bedeutungserfüllter Kür.
Alles hier ist sprechend, was ein vibrierendes Wechselspiel von laut und leise, gebunden und gestoßen, von Hebungen und Senkungen, Ritardandi und Beschleunigungen zeitigt. Die Gestaltung der Agogik im Kleinen wie der Temporelationen im Großen wirkt durchweg organisch. Umschriebe ein einziges Adjektiv Heras-Casados „Rheingold“, so wäre es: fließend. Was nicht heißen soll, dass das Werk dahinplätschert. Im Gegenteil: federnde Rhythmik, prägnante Artikulation und ausdifferenzierte Dynamik im zumeist leisen Bereich setzen diese 145 Minuten unter eine Spannung, die nie nachlässt – nicht einmal in Wotans länglichen Auseinandersetzungen mit erst seiner Gattin Fricka, dann den beiden Riesen zu Beginn der zweiten Szene.
Dabei stützt und trägt das Fehlen von Schärfen und Kanten, das man als eine Art Nivellierung empfinden könnte, eine um Kontinuität, um die große Linie, eben: um Fluss bemühte Lesart. Heras-Casado bewahrt das Werk vor dem Episodencharakter, den es bei weniger Formbewussten gern annimmt, ohne es seiner Wendigkeit zu berauben. Von allen Wagner-Opern ist „Das Rheingold“ diejenige, in der Stimmungen am raschesten umschlagen, Situationen am radikalsten umkippen: ein quecksilbriges Kaleidoskop, wo trübe Gewitter blitzartig Regenbögen in den späten Strahlen der Sonne gebären.
Ein letztes Verdienst des Dirigenten ist es, dank Zurücknahme im dynamischen Bereich die Balance zwischen Bühne und Graben so optimal auszutarieren, wie es angesichts der heiklen Akustik des Riesensaals möglich ist. Diese zeichnet – zumal im Parkett – das Orchester eine Spur weich, erstickt aber auch normaldimensionierte Stimmen ein wenig, so die Sänger nicht nah an der Rampe sind. Das ist besonders frappant im Fall von Brian Mulligan als Alberich, der in der dritten Szene dichter ans Publikum herandarf – und so jäh an Präsenz gewinnt. Doch in dem vierzehnköpfigen Solistenensemble erlangt allenfalls Gerhard Siegel als – in jeder Hinsicht – „sprechender“ Mime ein eigentliches Profil. Die übrigen Sängerinnen und Sänger rangieren zwischen befriedigend und gut, ohne Ausreißer nach unten, aber auch ohne Höhenflüge nach oben.

Mangelhaft dagegen Bieitos Inszenierung. In einer durch seine Dramaturgin verfassten Absichtserklärung verspricht der Regisseur, „Das Rheingold“ durch das Prisma der neuen, entmaterialisierten Technologien zu lesen. Zu sehen ist davon wenig. Ring, Speer und Tarnhelm, die man mit etwas Fantasie – in der Tetralogie ist vieles möglich – zu digitalen Geräten umdeuten könnte, sind hier ganz konventionell Halsreif, Metallspieß und Gesichtsmaske. Zwar hängt Alberich zwecks Cybersex (wieso?) an sperrigen Kabeln und flimmert im Bühnenhintergrund (warum?) immer wieder Pixelsalat auf. Aber Requisiten und Lichtspiele machen noch keine Interpretation, geschweige denn eine stringente.
Im Übrigen das Übliche: ungelenke Personenführung, überflüssige Nebenaktionen, Ausstattung statt Ausdeutung. Für den weiteren Pariser „Ring“ heißt es wohl: Ohren auf, Augen zu. Nur ist Bieitos Betriebsamkeit derart lärmig – auch und gerade im wörtlichen Sinn –, dass sich das Bühnengeschehen selbst so kaum ausblenden lässt.

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