Vorkämpfer für ein Musiktheater von heute: Dem Opernintendanten Stéphane Lissner zum Siebzigsten
2015 vermochte Stéphane Lissner bei einem Radioquiz von fünf Arien, die man ihm vorspielte, nur eine zu identifizieren. Die Häme war groß: Der Operndirektor erkannte weder „La Wally“ noch „La forza del destino“, „Madama Butterfly“ oder „Tosca“! Man kann die Sache indes auch anders sehen: Lissner, der privat lieber Kammermusik hört, hat als Intendant dreier Musiktheater und eines Opernfestivals von internationaler Ausstrahlung stets das Musikdrama der Sängeroper vorgezogen, das Risiko der Nummer sicher und die Reibung am Unbekannten dem Schwelgen im Altgewohnten.
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Vom Sprechtheater herkommend, übernahm der gebürtige Pariser 1988 mit dem Théâtre du Châtelet sein erstes Haus von überregionaler Bedeutung. Der damalige Pariser Bürgermeister, Jacques Chirac, suchte im Rahmen seines Konkurrenzkampfs mit Staatspräsident Mitterrand ein städtisches Pendant zur Nationaloper aufzubauen, deren Glanz seit der Liebermann-Ära verblasst war. Das Geld floss, Lissner hatte die Mittel, dem Châtelet bis zu seinem Abgang 1997 ein zweites goldenes Jahrzehnt zu bescheren, achtzig Jahre nach der „décénnie fabuleuse“ unter der Ägide des Konzertveranstalters Gabriel Astruc. Emblematisch für jene Jahre wurde der „Wozzeck“, den Daniel Barenboim und Patrice Chéreau gemeinsam mit Franz Grundheber und Waltraud Meier erarbeiteten: äußerste Reduktion und Konzentration der szenischen Mittel im Dienst an Text und Musik. Neben Barenboim und Chéreau verpflichtete Lissner am Châtelet etliche weitere Koryphäen, die ihn auf seinen folgenden Karrierestationen begleiteten – Luc Bondy, Pierre Boulez, William Christie, John Eliot Gardiner, Michael Grüber, Simon Rattle, Esa-Pekka Salonen, Peter Stein und Bob Wilson lauten einige der bekanntesten Namen.
Lissners zweite Großtat war 1998 die Rettung des Festival d’Aix-en-Provence aus existenzbedrohender Krise und seine Neugründung auf dauerhaftem Fundament. Der Intendant ließ den historischen Spielort im Ehrenhof des erzbischöflichen Palasts von Grund auf renovieren und fand vier weitere Spielorte in der Stadt (darunter ein altes Juwel, das Théâtre du Jeu de Paume, und ein neuer Klotz, das unter Lissners Nachfolger, Bernard Foccroulle, eingeweihte Grand Théâtre de Provence). Eine unter der Schirmherrschaft von Pierre Boulez ins Leben gerufene Académie européenne de musique wies der um fünf Jahre jüngeren Lucerne Festival Academy in mancher Hinsicht den Weg. Vor allem artikulierte Lissner in seiner ebenso ambitionierten wie avancierten Programmgestaltung mit Nachdruck die Überzeugung, dass „Oper in Resonanz zu den großen politischen und sozialen Fragen unserer Zeit treten“ müsse.
Hatte er zur Eröffnung der neu aufgestellten Festspiele Mozarts „Don Giovanni“ abwechselnd durch den Altmeister Claudio Abbado und einen blutjungen Unbekannten namens Daniel Harding dirigieren lassen, so bewies Lissner auch auf seinen drei nächsten Intendantenposten Mut zum Risiko. An der innovationsfeindlichen Scala (die er von 2005 bis 2014 leitete) gab er mehrere abendfüllende Werke in Auftrag und stellte mit Susanna Mälkki erstmals eine Frau ans Pult des Orchesters. An der Pariser Nationaloper (2015 bis 2020) ließ er den jungen Plastiker und Filmemacher Clément Cogitore mit sensationellem Erfolg seine erste Oper inszenieren, Rameaus „Indes galantes“. Am Teatro di San Carlo in Neapel endlich (seit September 2020) präsentiert er Ende dieser Spielzeit mit Ludovico Einaudis „Winter Journey“ ein zeitgenössisches Werk, das von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer handelt.
Heute feiert Stéphane Lissner seinen siebzigsten Geburtstag. Die Reibung am Unbekannten zieht er nach wie vor dem Schwelgen im Altgewohnten vor.
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