Spielt Mozart so, wie Michelangelo Marmor skulptierte
- marczitzmann
- vor 12 Minuten
- 4 Min. Lesezeit
Ein Loblied auf den Pianisten und Dirigenten Alexander Lonquich
Quizfrage für Klavierliebhaber: Welcher lebende Pianist stellt das deutsch-österreichische Repertoire von Bach bis zur Zweiten Wiener Schule in den Mittelpunkt seines Wirkens, wird bewundert für seine Mozart-, Beethoven-, Schumann-, Brahms- und insbesondere Schubert-Interpretationen, spielt aber auch Musik aus der Zeit seit 1945, oft und gern Kammermusik, dazu immer wieder Liederzyklen, tritt häufig als Lehrer und als Dirigent in Erscheinung, nährt sich von Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis und alterniert geläufig zwischen Konzertflügel und Pianoforte, mitunter im selben Konzert? Die meisten werden antworten: „András Schiff“ – und hätten recht damit. Doch es gibt noch einen zweiten Pianisten, auf den diese Beschreibung zutrifft. Alexander Lonquich steht Schiff in Sachen Berühmtheit um vieles nach, in puncto musikalische Potenz aber um nichts. Der demnächst fünfundsechzigjährige Wahlrömer und -florentiner mit deutschem Pass ist, sagen wir es rundheraus, einer der begnadetsten und beglückendsten Interpreten unserer Zeit.

Könner und Kenner, Berufskollegen und Klavierliebhaber kommen beim Besuch seiner Konzerte, beim Hören seiner Aufnahmen kaum heraus aus dem Staunen, wie sauber und souverän Lonquich sein Handwerk beherrscht. Das meint nicht vordergründige Brillanz und Bravour, sondern den Feinschliff. Die Fähigkeit etwa, Stimmverläufen und Strukturen durch das milligrammgenaue Austarieren von Doppelgriffen und Akkorden in beiden Händen Prägnanz ohne Penetranz zu verleihen. Oder die Steuerung der Polyphonie gleichsam durch drei oder vier unabhängige Hirne, welche es Lonquich ermöglicht, selbst Komplexestes wie die Fuge aus Beethovens „Hammerklavier-Sonate“ im Konzert nicht nur in hohem Tempo fehlerfrei aufzuführen, sondern in jedem Moment auch mit der angemessenen (hier: ekstatischen, ja stellenweise hochgestimmt hysterischen) Stimmung zu erfüllen. Nicht zu vergessen die stupende Beherrschung der vier Pedale (das sogenannte Fingerpedal mitgezählt) – und namentlich des rechten, dank welcher, selbst wenn Letzteres (etwa im Schlussrezitativ des Mittelsatzes von Beethovens zweitem Klavierkonzert, zu Beginn des zweiten Stücks von Schumanns „Kreisleriana“ oder in Ravels „Gibet“) über ungewohnt lange Zeit hinweg im Einsatz bleibt, aufeinanderfolgende Töne nie wie dick aufgetragene Ölfarben verklumpen, sondern vielmehr wie Aquarellfarben transparente Lasuren bilden.
„Technik“ im wohlverstandenen Sinn ist indes nicht nur die Beherrschung der manuellen Mittel, sondern auch die geistige Durchdringung der Partitur. Das beginnt mit genauem Lesen. Ein paar Beispiele aus der Studioaufnahme von Schuberts letzter Sonate, um zu veranschaulichen, wie Lonquich akribisches Textstudium in tönende Offenbarungen zu transformieren versteht. Im Trio des Scherzos findet sich da unter vier verschiedenen Basstönen insgesamt siebenmal die Vortragsanweisung „fzp“. Das meint ein starkes Herausstechen, das aber augenblicklich zurückgenommen wird, ohne völlig zu verstummen. Auf dem Klavier, wo ein einmal angeschlagener Ton a priori nicht mehr modifiziert werden kann, ist das schwer zu realisieren. Aber nicht unmöglich. Lonquich drückt so die betreffende Taste jäh herunter und lässt sie sogleich wieder hochschnellen, aber nicht ganz – und verstärkt das Manöver durch eine ähnliche Behandlung des rechten Pedals. Der Effekt ist der eines Pizzicatos, bei dem die Streichersaite, kaum angerissen, mit leicht aufgelegtem Finger am Schwingen gehindert, aber nicht ganz gestoppt wird. Ein schlagend „sprechender“ Kunstgriff, der nicht zuletzt zu Ohren führt, dass – und wie – der Musiker in rhetorischen und orchestralen Dimensionen denkt.
Im Kopfsatz findet sich hierfür ein weiteres Beispiel. Das Hauptthema wird da nach seinem ersten Erklingen über einer wiegenden Bewegung im Bass fortgesponnen. Diese tönt bei vielen Interpreten undifferenziert. Nicht so bei Lonquich: Er verwandelt den ersten Ton der 8- oder 16-teiligen Schaukelgruppen je in einen getupften Kontrabassimpuls (Schubert setzt da einen Staccatopunkt), welcher in höherer Lage gemurmelte Cellooszillationen zwischen Grundton und Terz oder Quart auslöst. So bringt man Notentext zum Sprechen und Singen. Wie differenziert Lonquich dabei zu Werke geht, zeigt im selben Satz der berühmte Basstriller. Er steht je am Ende des Vorder- und Nachsatzes des Hauptthemas; die meisten Pianisten spielen ihn beide Male gleich. Nicht so Lonquich: Ihm ist aufgefallen, dass Schubert da erst „tr“ unter den betreffenden Ton schreibt, was es dem Interpreten freistellt, die entsprechende Bewegung schneller oder langsamer zu gestalten – doch dass der Komponist beim zweiten Mal den Triller in Form von Zweiunddreißigstelnoten präzise ausschreibt. So klingt das hier konsequent verschieden: Erst ein diffuses Grummeln, das sich in Nichts auflöst, dann eine klar konturierte Reibung, die ein tonales Absacken nach sich zieht.
Der Pianist wurde in weiteren Kreisen (zumindest von Könnern und Kennern) zunächst bekannt als Duopartner des Geigers Frank Peter Zimmermann. Neben Alben mit Französischem, Russischem und Tschechischem besticht hier vor allem die Gesamtaufnahme von Mozarts Violinsonaten. Doch ist der Interpret über diese ebenso forschen wie feinnervigen Darbietungen noch weit hinausgewachsen mit – leider nur in klanglich eingeebneten Konzertmitschnitten auf YouTube zu hörenden – leuchtend-raffinierten Interpretationen eines Halbdutzends von Klavierkonzerten und des „Kegelstatt-Trios“. Lonquichs quasiidealen Mozart möchte man ähnlich beschreiben wie den „David“ in seiner Wahlheimatstadt Florenz: Muskulös ohne Steroide, elegant ohne Manieriertheit, superlativisch proportioniert ohne das geschleckt Unpersönliche eines Vorzeigemodel(l)s.
Zwischen 2004 und 2007 hat der Pianist so alle originalen Solokonzerte mit dem Orchestra da Camera di Mantova aufgeführt, vom Flügel aus dirigierend. Warum nur wurde das nicht alles mitgeschnitten? Warum nicht die „Goldberg-“ und „Diabelli-Variationen“, das Gros von Schuberts Sonaten, von Schumann namentlich „Davidsbündlertänze“, Humoreske und Novelletten, von Liszt die h-Moll-Sonate zuzüglich Gewichtiges von Stockhausen und Rihm, warum nicht fast alle Hauptwerke der Kammermusik von Haydn über Dvořák und Bartòk bis zu Schostakowitsch, aufgeführt mit gleichgesinnten Partnern wie Vilde Frang, Ilya Gringolts, Christian Tetzlaff und den Widmann-Geschwistern, warum nicht endlich Bergs Kammerkonzert und Schönbergs „Pierrot lunaire“? Immerhin haben die Labels Alpha und ECM in den zwei letzten Jahrzehnten ein gutes Halbdutzend (Doppel-)Alben veröffentlicht, die Facetten von Lonquichs Kunst in herausragender Tonqualität festhalten. Man müsste sie alle nennen; aufgrund ihrer besonderen Originalität seien zumindest Beethovens fünf Klavierkonzerte mit dem Münchener Kammerorchester herausgehoben, desselben Komponisten sämtliche Werke für (Guadagnini-)Cello und (Graf-)Pianoforte mit Nicolas Altstaedt sowie ein Album mit den „Kreisleriana“ und Heinz Holligers – András Schiff gewidmeter – Partita.
Im Telefongespräch verrät der Pianist, er sei dabei, im Hinblick auf Beethovens zweihundertsten Todestag 2027 dessen zweiunddreißig Klaviersonaten einzustudieren beziehungsweise aufzufrischen. Da möchte man die Labels beknien, diese Interpretationen dereinst zu verewigen. Und vieles mehr schon jetzt – wo der Pianist auf dem Zenit seines Könnens steht.

Kommentare