Stupor und Rage
- marczitzmann
- 26. Juli
- 6 Min. Lesezeit
In Avignon evoziert Milo Rau mittels einer inszenierten Lesung den Prozess der 51 Vergewaltiger von Gisèle Pelicot
„Schuldig oder unschuldig?“ fragt der Gerichtspräsident am Anfang von „Le Procès Pelicot“ in Substanz. Die Anschuldigung, für die sich fast alle der 51 Angeklagten des Großprozesses verantworten müssen, lautet auf Vergewaltigung mit den erschwerenden Umständen, dass diese jeweils gemeinschaftlich begangen wurde und dass das Opfer betäubt war. Die meisten antworten knapp mit „Nein“, manche erkennen den Tatbestand an, aber nicht die Absicht, ein paar wenige bezeugen Reue.
Wir sind in Avignon, wo der Strafgerichtshof des Départements Vaucluse in den letzten vier Monaten des vergangenen Jahrs den Prozess gegen die Nötiger von Gisèle Pelicot beherbergt hat – der Tatort, das 6000-Seelen-Dorf Mazan, liegt eine halbe Autostunde nordöstlich. Wir sind in Avignon, wo noch bis heute Abend das größte Theaterfestival der Welt stattfindet. In diesem Rahmen hat Milo Rau, Spezialist für die szenische Aufbereitung von Zeitthemen (namentlich in Form von Gerichtsverfahren), am 18. Juli den Pelicot-Prozess nacherzählt. Einen Monat zuvor hatte der Intendant der Wiener Festwochen dortselbst eine deutschsprachige Version der inszenierten Lesung vorgestellt. Die französische Fassung ist mit einer Dauer von vier Stunden halb so lang, aufgrund der sprachlichen und geografischen Nähe zum Thema aber dichter dran. „Jeder in Avignon“, sagt im Lauf des Abends ein zum Fall befragter Passant, „kennt jemanden, der einen der Angeklagten kennt“.

Das Dispositiv ist gezielt einfach. In der Mitte der großen Bühne im Innenhof des Cloître des Carmes steht ein schlichter Holztisch, an den sich zwei Erzählerinnen setzen. Links und rechts davon fünf Bänke, auf denen je drei bis vier Sprecherinnen und Sprecher Platz nehmen. Bei diesen handelt es sich großmehrheitlich um Personen aus dem Umkreis des Festivals (Mitwirkende an anderen Produktionen, aber auch die gegenwärtige Festspielpräsidentin und ein ehemaliger Intendant) sowie eine Handvoll „Experten“ – ein auf Inzest spezialisierter Anthropologe, eine Anwältin, die Missbrauchsopfer im Theatermilieu verteidigt, ein Gerichtspsychiater, der rund dreißig Angeklagte des Pelicot-Prozesses untersucht hat. In jedem der vierzig „Fragmente“ genannten Kapitel, aus denen die Lesung besteht, tritt eine(r) von ihnen an eines von zwei Pulten an der Rampe und liest einen Text vor – auf zwei quadratischen Leinwänden im Bühnenhintergrund ist jeder Auftritt in Nahaufnahme zu sehen. Bei den Texten handelt es sich meist um Gerichtsaussagen, mitunter aber auch um Exzerpte aus der Anklageschrift, aus Büchern oder Zeitungsartikeln sowie um E-Mails beziehungsweise Skype-Dialoge. Die Erzählerinnen führen jedes Fragment ein, stellen bei Verhören die Fragen und liefern auch Bühnenanweisungen wie „Pause“ oder „weint“. In drei Kapiteln treten zwei Sprecher ans Pult, in einem sogar deren elf.

Nach der eingangs zitierten Schuldfrage-Sequenz tut die Produktion drei Schritte zurück. Die Lektüre eines Ausschnitts aus dem Buch „Et j’ai cessé de t’appeler papa“ („Und ich habe aufgehört, dich ‚Papa‘ zu nennen“) von Gisèle Pelicots Tochter Caroline Darian evoziert das Familienhaus in Mazan: Traute Erinnerungen an späte Nachtessen mit Lachkrämpfen wurden durch die „finstere Seite“ des Vaters pulverisiert; ein von diesem gemalter Frauenakt beschwört ein anderes Bild herauf, jenes des noch unentdeckten Sexualverbrechers vor seinem Computer, auf dessen Festplatte er 20 000 Fotos und Videos hortete. Einer der Anwälte Pelicots beschreibt deren Leben zwischen der Verhaftung ihres Mannes 2020 (er hatte in einem Einkaufszentrum Frauen unter dem Rock gefilmt, was eine Hausdurchsuchung zeitigte) und dem Beginn des Prozesses genau vier Jahre später: Umzug an einen Ort, wo niemand sie kannte; verstecktes Dasein unter dem Mädchennamen; mit dem Nahen des Gerichtsverfahrens dann aber der aus Empörung geborene Entschluss, sich die eigene Geschichte anzueignen. Endlich ein Mail der Frankreichkorrespondentin des „Spiegel“, das den Gerichtssaal in Avignon beschreibt: klein, aber nicht Klaustrophobie erzeugend.
Dann beginnt der Prozess. Der Gerichtspräsident liest die Anklageschrift vor, die namentlich das informatische Beweismaterial auflistet (die beiden Ordner mit Filmaufnahmen von Gisèle Pelicots Vergewaltigungen durch ihren Mann allein beziehungsweise gemeinsam mit Dritten tragen die Namen „Nacht allein“ respektive „Übergriffe“) und die Schäden, die dem Opfer durch mindestens 92 Vergewaltigungen durch wenigstens 71 Täter über neun Jahre hinweg entstanden sind: Gewichtsverlust von 16 Kilogramm, Infizierung mit vier Geschlechtskrankheiten, starke Angstzustände mit dem Risiko einer schweren Dekompensation. Pelicot schwebte in Todesgefahr.
Ihre erste Gerichtsaussage, die das Material des über 25-minütigen siebten Fragments liefert, bildet, durch Ariane Ascaride mit unaffektierter, kämpferischer Disktinktion vorgetragen, einen der Höhepunkte des Abends. Aufgrund der in Speisen oder Getränke gemischten Psychopharmaka hatte Pelicot unerklärliche Gedächtnislücken; sie fürchtete, einen Hirntumor zu haben oder dement zu werden – und erklärte ihr engagiertes Auftreten vor Gericht auch mit dem Bestreben, Frauen mit ähnlichen Symptomen vor einer allfälligen Betäubung mit Vergewaltigungsdrogen zu warnen. So drang sie auf Verhandlungen ohne Ausschluss der Öffentlichkeit – auch und gerade bei der Ausstrahlung der Videos. Die Beschreibung der Filmaufnahmen des Täters dauert bei Rau volle zehn Minuten – Kubra Khademi bringt hier mit ihrer erst wie betäubten, dann tränenerstickten Lektüre dieser qualvoll klinischen Texte die Reaktion wohl der meisten Zuschauer in eine darstellerisch bezwingende Form.

Ein Dutzend Fragmente sind Aussagen der Täter und ihrer Frauen oder Freunde gewidmet. Rau wählt hier die komplexesten Fälle. Ein verdienstvoller Feuerwehrmann, formidabler Partner und symbiotischer Vater – der auf Skype ekelerregende pädophile Gespräche führte und nach der Ausstrahlung des ihn belastenden Videos erklärte: „Das ist mein Körper, aber nicht mein Geist“. Ein geistig begrenzter, mit schweren Identitätsproblemen geschlagener Farbiger, der blauäugigen blonden Vaterfiguren blind zu gehorchen pflegt (sic) und mutmaßte, er sei während der Vergewaltigung – an die er keinerlei Erinnerung mehr haben will – selbst betäubt gewesen. Ein Vater von fünf Kindern, der – als Bub aufs Schwerste missbraucht – die Ehefrau, die er liebt und die ihn zurückliebte, etwa zehnmal unter Psychopharmaka dem Monster von Mazan ausgeliefert hat. Auch dieses kommt am Ende zu Wort und gesteht zwischen zwei traumatischen Kindheitserinnerungen seinen Wunschtraum („fantasme“), die „ungefügige Gattin zu unterwerfen“.

Beleuchtet werden die Prozess-Fragmente durch Streiflichter, die Aktivisten, Anthropologen, Essayisten, Philosophen und Psychiater auf Problemthemen und -fragen werfen wie „Maskulinität“, „Pornographie“, „Pelicot als Heldinnenfigur?“, „Was können Männer tun?“ und „Hilft unser Strafsystem den Opfern?“. Eingerahmt wird die inszenierte Lesung durch Darbietungen von Purcells „Cold Song“ durch den Countertenor Serge Kakudji, denen Petrarcas Bericht über die Besteigung des Mont Ventoux nachfolgt beziehungsweise Pelicots Dankesrede nach der Urteilsverkündung. Das brennende Leid, das sich unter der syllabisch stockenden Eiskruste der Barockarie Bahn zu brechen versucht, ist ein adäquates Klangsymbol für die gegensätzlichen Gefühle, die der Prozess hervorruft: Stupor und Rage. Petrarcas Text gipfelt im Vorsatz, den Blick nach innen zu wenden; Pelicots Rede hat ihrerseits etwas Optimistisch-Zukunftszugewandtes, als breite das Opfer die Flügel aus, um sich über die Niederungen des soeben zu Ende gegangenen Prozesses zu erheben. Prolog wie Epilog stehen in scharfem Kontrast zur Nüchtern- und Konkretheit des übrigen Regiedispositivs: Sie nehmen gleichsam die Funktion von Intro und Outro in einem Spielfilm an.

Drum sei es an dieser Stelle erlaubt, kurz die Frage nach dem Einsatz ästhetischer Mittel zum Zweck der moralischen Erschütterung aufzuwerfen. Letztere ist klar, worauf „Le Procès Pelicot“ abzielt: Die Zuschauer im Cloître des Carmes (und in den Kinos und Brasserien von Avignon, wo die inszenierte Lesung live übertragen wurde) sollen im Innersten ergriffen und so für Pelicots Kampf gegen chemische Unterwerfung und ganz allgemein gegen Gewalt an Frauen mobilisiert werden. Rau setzt dafür erklärtermaßen auf eine „einfache Form“: Er lässt das Material, so weit möglich, für sich selbst sprechen. Was dieses auch tut, mit oft beträchtlicher Wirkung. Aber fantasie- und abwechslungsreich wirkt der Abend nicht eben – auf die Länge muten seine Schlichtheit, seine repetitive Struktur, der konsequente (aber auch bequeme) Verzicht auf jeglichen „Regieeinfall“ den Verfasser dieser Zeilen sogar eher arm und monoton an. Es mag ungerecht sein, derlei im Künstlerischen gründende Vorwürfe gegen eine Produktion zu erheben, die gratis und nur ein einziges Mal gegeben wurde, für die es vermutlich nur wenig Geld und Probezeit gegeben hat und die sich in erster Linie als eine im Dokumentarischen wurzelnde Hommage an Pelicot versteht.
Aber grundsätzlich bleibt die Frage im Raum stehen: Ist der weitgehende Verzicht auf Theaterkunst bei der szenischen Aufbereitung eines „Problemthemas“ der moralischen Erschütterung des Zuschauers tendenziell dienlich – oder im Gegenteil eher hinderlich? Für unseren Teil war die mit Abstand wirkungsmächtigste Produktion dieser Art, die wir je zu sehen bekamen, Claude Régys Inszenierung von Charles Reznikoffs eisig dokumentarischem Gedicht „Holocaust“. Eine extrem leise, peinvoll langsame, undurchdringlich dunkle und total durchgestaltete Regiearbeit – die Zuschauer laut und herzzerreißend zum Schluchzen brachte. Das war 1998: Der Schock bebt bis heute nach.
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