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Seine Seele ist schon lange tot

Der Fall XDDL, benannt nach dem Familienmörder Xavier Dupont de Ligonnès, fesselt die Franzosen – auch Schriftsteller und Filmemacher

 


Anfang April 2011 verschwand in Nantes eine sechsköpfige Familie. Nach ein paar Tagen erhielten Freunde und Verwandte einen Brief des Vaters, der in aufgekratztem Tonfall – „Hallöchen alle zusammen! Mega-Überraschung“ – von einer Express-Ausschleusung nach Amerika kündete, von einem Zeugenschutzprogramm der Drug Enforcement Administration, für die er als Informant gearbeitet habe, und von einem Abbruch der Kommunikation auf lange Jahre hinaus. Bei der französischen Polizei glaubte niemand ein Wort davon.


Bald wurden unter der Gartenterrasse die Leichen der Mutter, der vier Kinder sowie der beiden Hunde ausgegraben. Es fehlte der Vater, der sogleich als Hauptverdächtiger galt. Peu à peu setzten die Fahnder das Puzzle von dessen Handlungen zusammen. Zwischen dem 3. und dem 6. April hatte er die Opfer erst betäubt, dann durch jeweils mehrere Kopfschüsse getötet. Die vier Tage nach dem letzten Mord verbrachte er mit dem Ausheben der Gräber, einer zugleich liebevollen und um Unauffindbarkeit bemühten Bestattung (die Körper lagen, mit christlichen Objekten in Decken, Planen und Müllsäcken verpackt, unter Schichten von Zement, Branntkalk, Schutt und Plastik), dem Reinigen des Hauses, in dem nur wenige Blutspuren gefunden wurden, dem Entsorgen aller Kleider und elektronischen Geräte, dem Räumen der Studentenwohnungen der beiden ältesten Söhne und anderen „Säuberungsaktionen“, die einen geordneten, wenngleich geheimen Wegzug beglaubigen sollten.


Dann begann er eine eher gemütliche Autoreise, die ihn mit vier Zwischenübernachtungen ins südliche Département Var führte. Dort hielt eine Überwachungskamera fest, wie er am 15. April sein Fahrzeug vor dem Hotel abstellte und zu Fuß wegging, eine Anzugtasche über der Schulter, die womöglich die Tatwaffe enthielt. Um 16 Uhr 10 verschwand Xavier Dupont de Ligonnès aus dem Blickfeld – und ward seitdem nicht mehr gesehen.


Der Fall „XDDL“, wie der Täter im akronymverliebten Frankreich gerufen wird, fesselt Vertreter aller Generationen und Gesellschaftsschichten wie kein Zweiter. „Wer war Xavier Dupont de Ligonnès, warum hat er seine Familie ausgelöscht, lebt er irgendwo versteckt oder hat er Selbstmord begangen – und warum findet man ihn beziehungsweise seinen Leichnam nicht?“ sind Fragen, die Endlosdiskussionen an realen wie an virtuellen Stammtischen nähren. Ständig glaubt irgendwer, XDDL irgendwo erkannt zu haben: In seiner Geburtsstadt Versailles oder in Las Vegas, in der Provence oder in Thailand, in einer Tankstelle, einem Kloster oder einem Swingerklub. Geschätzt 2000 Hinweisen sind Fahnder im In- und Ausland bis heute nachgegangen, allesamt vergebens. Am Abend des 11. Oktobers 2019 kam es zu einem medialen und polizeilichen GAU, als Fernseh- und Radiosender mit Berufung auf Polizeiquellen in Großbritannien und in Frankreich meldeten, der Flüchtige sei in Glasgow verhaftet worden. Am nächsten Morgen entpuppte sich das gefasste Genie des Bösen als ein armer Teufel, der weder von fern noch von nah aussah wie XDDL. Und auch die asozialen Medien tragen das Ihre bei zur Hysterisierung: Mit „Cyber-Ermittlungen“, die, wie zuletzt im April, zu Todesdrohungen gegen Nichtbeteiligte führen können.


Da hält man sich lieber an die gute alte Presse. Im Sommer 2020 veröffentlichte die Halbmonatsschrift „Society“ in zwei Lieferungen das Ergebnis einer jahrelangen Investigation: 13 Kapitel, 77 Seiten, knapp 210 000 Anschläge. Der Bericht, von dem 400 000 Exemplare verkauft wurden, ist zugleich akribisch recherchiert und feuilletonistisch aufbereitet. Er liest sich wie eine schwarze Novelle, erschütternd und todtraurig. Die Autoren, Pierre Boisson, Maxime Chamoux, Sylvain Gouverneur und Thibault Raisse – sie verdienen, namentlich genannt zu werden –, beleuchten unter vielem mehr die Rolle der zwei besten Freunde von XDDL. Für Emmanuel Teneur war dieser die (unerwiderte) Liebe seines Lebens; mit Michel Rétif reiste der Fan von Countrymusik als junger Mann insgesamt neun Monate lang durch die USA und teilte später im Rahmen einer Dreier-Beziehung sogar die eigene Frau. Beide wurden nach dem Massaker der Fluchthilfe verdächtigt, wegen Textnachrichten, Telefonaten und sogar Reisen ins Département Var, die sie nicht zufriedenstellend erklären konnten. Doch Handfestes fand sich nicht gegen sie – und letzten Endes rieben sich beide an dem Rätsel XDDL zu Tode: Alkoholismus, schwere Erkrankungen, Herzinfarkt während eines Entzugs beziehungsweise Selbstmord. „Society“ sieht Teneur und Rétif als Dupont de Ligonnès‘ sechstes und siebtes Opfer an.


Coverbild der Investigation von „Society“ (Bild: Society)
Coverbild der Investigation von „Society“ (Bild: Society)

Unter den zahllosen audiovisuellen Beiträgen, die der Fall gezeitigt hat (darunter eine mediokre Episode der Netflix-Serie „Unsolved Mysteries“), ragt unseres Wissens allein eine sechstteilige Reihe des Podcasts „Crime Story“ der Tageszeitung „Le Parisien“ heraus. Und auch bei den Buchpublikationen gibt es viel Streu von wenig Weizen zu trennen. Bruno de Stabenrath, ein etwas geltungssüchtiger Jugendfreund von XDDL, schwelgt in seinem 600-seitigen Wälzer „L‘Ami impossible“ lieber in der Vergangenheit, als dass er sich mit der Gegenwart auseinandersetzt. Romain Puértolas, ein ehemaliger Polizist, dem der Fall keine Ruhe lässt, entwirft in seinem Erfolgsroman „Comment j’ai retrouvé Xavier Dupont de Ligonnès“ Szenarien des Fortlebens des Flüchtigen in Katalonien, Texas oder auf den Philippinen. Laurent Rivelaygue imaginiert in „Il faut toujours envisager la débâcle“ einen Houellebecq’schen Antihelden, der sich am Schriftstellern wie am Lösen eines anderen berühmten französischen Cold Case versucht – beides mit Hilfe von XDDL, der all die Jahre in einer Schreibtischschublade des Erzählers versteckt war! Ähnlich bizarr, aber gewollt trashiger der Spielfilm „Les Pistolets en plastique“ von Jean-Christophe Meurisse: Eine Serie von abgeschmackten Sketchen über die Suche nach dem Unauffindbaren.


Am pietätlosesten ist jedoch die Verschwörungstheorie, die Christine Dupont de Ligonnès, die jüngere Schwester des mutmaßlichen Mörders – juristisch genießt XDDL bis heute die Unschuldsvermutung –, in ihrem letztes Jahr veröffentlichten Buch „Xavier, mon frère présumé innocent“ aufstellt: Die Familie sei tatsächlich ausgeschleust worden; bei den fünf Leichnamen handle es sich um jene von Körperspendern, die Geheimagenten anatomischen Instituten oder Universitäten abgekauft hätten; während der Obduktion hätten besagte Supermänner zudem die Proben ausgetauscht.


Nicht durchweg überzeugt endlich „L’Énigme publique n. 1“ des bekannten Gerichtspsychopathologen Daniel Zagury, um den sich seit Wochen die Interviewer reißen. Auf der Sollseite: Unnötige Wiederholungen, deplatzierte Familiarität („Mon pauvre Xavier“) sowie die Marotte, ständig populäre Chansons gleich Volksweisheiten anzuführen. Auf der Habenseite: Stringente Überlegungen zum psychischen Prozess, der zum Massaker geführt hat. Weder habe XDDL aus Hass, Rache, Geldgier, Sadismus, sexuellen oder sonstwelchen „niedrigen “ Beweggründen gehandelt noch sei die Tötung der Liebsten das Ergebnis eines jähen „Ausrastens“ gewesen, wie sonst fast stets bei Familiendramen. Vielmehr schwebte das Vorhaben laut Zagury seit Langem im Geist des Familienvaters und verfestigte sich unter den finsteren Einflüsterungen einer aus beruflichen Misserfolgen und zunehmender Geldnot geborenen Depression zu einer fixen (Heils-)Idee.


Hier nun greift gemäß dem Psychopathologen zum einen XDDLs in die Kindertage zurückreichende Spaltung zwischen dem Hedonismus‘ des Vaters und der Bigotterie der durch apokalyptische Gottesdiktate gesegneten beziehungsweise geschlagenen Mutter: Der künftige Mörder war ein Meister der Kompartimentierung, was es ihm ermöglichte, seine Seelenpein auch vor Nahestehenden zu verbergen. Und zum andern besagte Frömmelei mit sektiererischem Einschlag, von der XDDL sich bloß nominell, nicht aber im tiefsten Innern gelöst hat – er rieb sich zeitlebens an einer hausgemacht-fundamentalistischen Abart des Katholizismus‘. Am Ende sei es dieser Quell gewesen, in dem die geplante kollektive (Selbst-)Tötung sich zum „Opfer“ reinwaschen ließ – zu einem „altruistischen Verbrechen“, um der Familie Armut und Schande zu ersparen und alle Mitglieder auf immer und ewig zusammenzuhalten.


Die Lektüre der Investigation von „Society“ wie des Buchs von Zagury hinterlässt einen schalen Trauergeschmack. Der blutige Ausgang der Geschichte war nicht vorgezeichnet. XDDL hätte geholfen werden können, so er sich denn hätte helfen lassen. Sollte er noch am Leben sein – was aus psychologischen Gründen unwahrscheinlich scheint –, ist seine Seele schon lange tot.

 




Verwendete Literatur:

Daniel Zagury: L’Énigme publique n. 1. Éditions du Seuil, Paris 2025. 176 S., Euro 17,50.



 
 
 

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