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marczitzmann

Schauspielmusik als Weltraumoper

Laurence Equilbey und Antonin Baudry zweckentfremden schwer rettbare Partituren Beethovens als Soundtrack eines futuristisch-dystopischen Animationsfilms


In einem Selbstinterview gab Glenn Gould 1972 seine Abneigung gegen Beethovens „König-Stephan-Ouvertüre“ zu Protokoll – „mehr oder minder von der ersten bis zur letzten Note“. Die folgenden neun Nummern der anlässlich der Eröffnung des Deutschen Theaters in Pest am 9. Februar 1812 komponierten Schauspielmusik erwähnte der kanadische Pianist erst gar nicht. Ein x-te Idiosynkrasie des kauzigen Genies – im selben Atemzug meldete der Schwierige auch Zweifel an „Appassionata“, „Fünfter Symphonie“ und „Violinkonzert“ an? Nun, für einmal dürfte Goulds Meinung mehrheitsfähig sein. Wolfgang Winterhager fällt im „Beethoven Handbuch“ der Verlage Bärenreiter und Metzger ein noch vernichtenderes Urteil: „floskelhafte, ambitionslose Versatzstücke, die weder in der motivisch-melodischen Erfindung noch in der Instrumentation noch in der Harmonik über ein Mittelmaß hinausgehen und häufig offensichtlich nur die Zeit überbrücken sollen“.


Wie führt man ein solches Werk auf? Winterhager skizziert im Hinblick auf das zeitgleich mit „König Stephan“ entstandene Schwester-Schauspiel einen Ansatz: „Einige Stücke aus Beethovens ‚Ruinen-von-Athen‘-Musik […] wären zumindest ‚musikalisch noch zu retten‘, würden sie von ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung befreit und eventuell mit einem anderen Text versehen.“ Genau das tun die Dirigentin Laurence Equilbey und der Regisseur Antonin Baudry in ihrer Ende Mai in der Seine musicale bei Paris aus der Taufe gehobenen Produktion „Beethoven Wars“. Sie behalten den gesungenen Text, der indes nicht untertitelt wird und folglich in Frankreich kaum verstanden werden dürfte. Sie streichen jedes Wort, das zwischen den einzelnen Nummern oder – als Melodram – simultan zur Musik gesprochen wird. Und sie erfinden einen gänzlich neuen Plot, den sie in Form eines auf eine Riesenleinwand ausgestrahlten Animes vermitteln, mitsamt Tonspur aus Mono- und Dialogen sowie Geräuscheffekten. Die gesamte Musik zu „König Stephan“, stark umgestellt und angereichert mit der Ouvertüre und vier Nummern aus „Die Ruinen von Athen“ sowie mit dreien der vier Nummern der unvollendeten Musik zum Trauerspiel „Leonore Prohaska“ von 1815, wird so zweckentfremdet als „Soundtrack“ eines knapp einstündigen futuristisch-dystopischen Weltraum-Animationsfilms.


Ist das respektlos? Sagen wir: keck-couragiert. Funktioniert es? Im Hinblick auf das Zielpublikum, Nichtphilologen zwischen 7 und 107 Jahren, unzweifelhaft. Die Texte von August von Kotzebue für die beiden Schauspiele von 1812 sind sprachlich wie inhaltlich heute ungenießbar. Der erste spannt einen Bogen vom ersten ungarischen König, Stephan I. (1000-1038), zu seinem fernen kaiserlich-königlichen Nachfahren Franz I. (1804-1835), der zweite vom antiken Athen zum neuzeitlichen Pest, dem vorgeblich neuen Sitz der Musen. In „Beethoven Wars“ hingegen geht es um zwei Völker, die einander auf einem fernen Planeten befehden, nach einem Zweikampf ihrer Führer, bei dem zwischen Stephan und Gisele Liebe aufkeimt, dann aber Frieden schließen und gemeinsam zum Blauen Planeten aufbrechen. Die kriegsversehrte Erde ist da längst unbewohnbar geworden, nur im Meer regt sich noch Leben. So legen die beiden Nomadenstämme ihre Ressourcen zusammen und bauen eine blühende Weltraumoasenblase. Kotzebues simple Botschaft, „Friede, Christentum, paternalistische Monarchie“, wird durch eine ebenso simple, aber zeitgemäßere ersetzt: „Friede, Umweltschutz, kumpelhafte Aristokratie“.


Die Bilder, die auf einer 500 Quadratmeter großen, die Zuschauer zu 200 Grad einfassenden gerundeten Projektionsfläche aufleuchten, arbeiten durchweg mit limited animation: Nur bestimmte Teile des Gesamtbilds verändern sich. Das ausgewogene Verhältnis zwischen Bewegung und Statik, Detailliertheit und Pauschalität führt dazu, dass weder Langeweile noch Überreiz entsteht – einen Teil seiner Aufmerksamkeit möchten man ja auch der Musik zuwenden. Im „Stephan“-Teil wird der Gegensatz zwischen den Kriegsgegnern ausgereizt – Narbengesichter und orthogonale Turmhaus-Raumschiffe für die Welt des Königs, die Farbe Grün und rundliche Viren-Drohnen für jene der Gegenspielerin. Der „Ruinen“-Teil verzaubert mit einem Walfisch-Ballett sowie mit Quallen- und Schneeflocken-Gestöber.


Musikalisch bestechen die beiden Ensembles, die Equilbey gegründet hat: Der markig singende Kammerchor accentus und das auf Originalinstrumenten spielende Insula orchestra. Die Dirigentin arbeitet durchweg Details heraus, bei denen man innerlich „Beethoven!“ ausruft: Synkopen; Sforzandi auf schwache Taktteile; Terzfälle, melodisch oder harmonisch; Per-aspera-ad-astra-Spannungsbögen mit triumphal tirilierender Piccoloflöte am Ende; banales Material, das solcherart in einen großperiodischen Verlauf eingebunden wird, dass Funken stieben. Schwache Musik, Mister Gould? Gewiss – aber eben doch aus Meisterhand!



 

 

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