Pap Ndiaye wird von Frankreichs Recht(sextrem)en als „rassialistischer Aktivist“ und „Propagandist der 'Woke-Ideologie'“ gegeißelt. Dabei ist kaum ein Politiker so gemäßigt und konsensfähig wie der jüngst zum Bildungsminister ernannte Historiker.
Die Ernennung von Pap Ndiaye zum Bildungsminister war die große Überraschung der am 20. Mai vorgestellten neuen französischen Regierungsequipe. Sie übertraf sogar die Verwunderung, die man angesichts der Beibehaltung der heftig umstrittenen Innen- und Justizminister aus der Vorgängerregierung empfinden mochte. Oder das Befremden, das die Ersetzung der ihrerseits weitherum respektierten, ebenso entscheidungsstarken wie fachlich kompetenten und politisch gut vernetzten Kulturministerin auslöste.
Wie zu erwarten war, wurde Ndiaye sogleich aus der rechten Schmuddelecke angegriffen. War Christiane Taubira, Tochter französisch-guyanischer Eltern und zwischen 2012 und 2016 Justizministerin, seinerzeit von Vertretern des besagten Lagers als „Äffin“ verunglimpft worden, so haben sich die Attacken gegen den Sohn einer Französin und eines Senegalesen jetzt vom Biologischen aufs Ideologische verlegt. Für Marine Le Pen, die ewig glücklose Präsidentschaftskandidatin des rechtsextremen Rassemblement national, ist Ndiayes Ernennung „der letzte Stein in der Dekonstruktion unseres Landes, seiner Werte und seiner Zukunft“. Parteifreunde Le Pens nannten den neuen Bildungsminister einen „rassialistischen Aktivisten“ und einen „Bullenfeind“ („anti-flic“).
Laut einem anderen rechtsextremen Bewerber für das höchste Staatsamt, dem weit abgeschlagenen Éric Zemmour, werde Frankreichs neuer Bildungsminister gar „die Geister der kleinen Franzosen umformatieren, um ihnen einzutrichtern, dass die Weißen ewig schuldig, die Schwarzen hingegen Opfer sind, und dass wir ein Immigrationsland sind und es vor allem bleiben müssen.“ Rechtspopulistische Vertreter der einst staatstragenden Partei Les Républicains fügten dem hinzu, Ndiaye sei ein Propagandist der „Woke-Ideologie“ und ein Adept des islamismusfreundlichen Linksextremismus („islamo-gauchisme“).
Keiner dieser Anwürfe hält auch nur einer flüchtigen Überprüfung stand. Es gibt kein ausgeglicheneres Temperament, keinen gemäßigteren Apologeten des Mittelwegs als Ndiaye. Weggefährtinnen und alte Bekannte des Historikers beglaubigen, er erhebe nie je die Stimme und besitze die beneidenswerte Gabe, jeden noch so hitzigen Konflikt zu besänftigen. Seine Schwester, die bedeutende Roman- und Theaterautorin Marie NDiaye (die Geschwister schreiben ihren Familiennamen, ursprünglich „N’Diaye“, jeweils anders), erwiderte auf die zitierten Attacken: „Pap ist nie extrem, nie radikal, er sucht die Einigung, den Konsens.“ Ihr Bruder, so brachte die Goncourt-Preisträgerin es auf den Punkt, sei ein Anwalt des aufgeklärten Friedens.
Selbst charakterisiert sich Pap Ndiaye als „engagiert, aber nicht militant“. Mit fünfundzwanzig Jahren erwachte in ihm bei einem Studienaufenthalt im Süden der USA das Bewusstsein für die eigene Hautfarbe. Diesem fundamentalen Erlebnis entsprangen eine Reihe von Publikationen, die das Wort „schwarz“ im Titel tragen. „La Condition noire“ (2008), ein fünfhundertseitiger „Essai über eine französische Minderheit“, verstand sich so als der Versuch, ein gallisches Pendant zu den US-amerikanischen Black Studies zu begründen.
Kraft seiner Fachkompetenz nimmt Ndiaye regelmäßig an Diskussionen zum weiten Problemfeld „Rassismus“ teil, oft mit Verweis auf die Unterschiede zwischen Frankreich und den USA. „Universalistische» Bürgerrechtsbewegungen seien nicht, wie von manchen kritisiert, Bastionen alter weißer Männer, wären aber gut beraten, sich verstärkt Jüngeren, Andersfarbigen zuzuwenden; „partikularistische“ antirassistische Vereinigungen ihrerseits neigten mitunter zu Nabelschau und Selbstgerechtigkeit. Einen Staats-Rassismus gebe es in Frankreich nicht, wohl aber einen „strukturellen Rassismus“, der zum Beispiel entsprechende Praktiken in der Polizei erkläre. Mit den jungen Vertreterinnen und Vertretern der durch das Schlagwort „Wokeness“ bezeichneten Bewegung teile er die meisten Engagements (Kampf gegen Rassismus, Sexismus, Umweltzerstörung…), nicht jedoch die Neigung zum sentenziösen Moralisieren. Man könnte so fortfahren – doch Ndiayes Grundhaltung ist klar: weder gutmenschliche Generalamnestie noch sektiererische Sippenhaft.
Als (kurzlebiger) Leiter des Pariser Museums für Immigrationsgeschichte seit März 2021 hatte der Historiker den dort ausgerichteten Debatten die Form höflicher, nuancierter Konversationen zu geben versucht. Die Diskussionsteilnehmer lud er ein, „sich durch den Standpunkt des Gegenübers verwandeln zu lassen“. Ndiayes „nicht-militantem Engagement“ sind in jüngerer Zeit im Kulturbereich das Mitverfassen eines Berichts über fehlende Diversität an der Pariser Nationaloper entsprungen sowie die Mitarbeit an einer Ausstellung des hauptstädtischen Orsay-Museums über die schwarzen Modelle weißer Maler des 19. Jahrhunderts.
Vom Werdegang her ist der Jeansträger und Jazzliebhaber ein reines Produkt der republikanischen Meritokratie; vom Habitus her ein fast idealtypischer Exponent der Kultur des akademischen Disputs. Unter der Obhut der alleinerziehenden Mutter, einer Schullehrerin mit bäuerlichem Familienhintergrund, in einem „ausschließlich weißen“ Pariser Vorort aufgewachsen, brillierte der künftige Minister als Literatur- und Geschichtsstudent an Pariser Eliteschulen. Zwei von ihnen, die École des hautes études en sciences sociales und Sciences Po, beriefen ihn später zum Dozenten. Wenig Wunder schimpften schwarze Extremisten Ndiaye einen Verräter, Kollaborateur und „Bounty“: Wie der Schokoriegel sei er außen schwarz und innen weiß.
Wie wird sich ein Intellektueller mit schwacher Vernetzung in der Politwelt auf einem derart exponierten Posten bewähren? Ndiayes Amtsvorgänger hatte mit einem Kulturkampf gegen „Wokeness“ und „islamo-gauchisme“ die Gesellschaft im Allgemeinen polarisiert und die Lehrerschaft im Besonderen gegen sich aufgebracht. Der neue Bildungsminister inaugurierte seinerseits seine Amtszeit vor zehn Tagen mit einer Verneigung vor dem durch einen Islamisten enthaupteten Schullehrer Samuel Paty. Eine ebenso demütige wie konsensfähige Geste.
Es ist ungewiss, wie das Experiment ausgeht. Vielleicht ist Ndiaye tatsächlich bloß ein Feigenblatt für ein rechtsliberales bis rechtskonservatives politisches Projekt, wie viele links der Mitte befürchten. So fragte jüngst Johann Chapoutot, Professor für Gegenwartsgeschichte an der Sorbonne, in der „historischen Kolumne“ der Tageszeitung „Libération“, wie Ndiaye im Ministerrat wohl neben jenen sitzen werde, die bewusst und zynisch die Rechtsextreme gefördert hätten, um ihrer Wiederwahl auf Lebenszeit sicher zu sein. „Wie wird er einen [Innenminister] Darmanin ertragen, der sich schier erstickt, wenn man Übergriffe der Polizei erwähnt, die es laut Macron ohnehin nicht gibt? Wie kann er solidarisch sein mit der Politik einer Regierung, die die Pensionierung für Tote anstrebt (ein Viertel der Ärmsten erreicht nicht das 65. Lebensjahr) und verbissen an der Abschaffung der Vermögenssteuer festhält? Wie diesen darwinschen Neoliberalismus tolerieren, der nichts gegen Ungleichheiten tut und den Planeten ausbrennen lässt?“
Auf die Gefahr, eine bloße Alibifunktion auszufüllen, war Ndiaye bereits angesprochen worden, als Macron ihn letztes Jahr zum Leiter des Musée de l’immigration ernannt hatte. Damals entgegnete er ebenso sachlich wie pragmatisch, die schiere Existenz eines Nichtweißen in einem derart prestigeträchtigen Amt setze bereits ein wichtiges Zeichen. Ein Schwarzer als Museumsdirektor oder als Minister sei ein Rollenmodell für alle Farbigen in Frankreich.
Comentarios