Zur Eröffnung von Cosquer Méditerranée am Vieux-Port von Marseille
Die „Restitution“ der weltweit einzigen Steinzeithöhle mit unterseeischem Eingang besticht im Detail mit akribischer Kopierarbeit, wirft als Ganzes aber museumsphilosophische Fragen auf.
Sieht so der Museumsbesuch der Zukunft aus? Wir setzen einen Kopfhörer auf und nehmen zu sechst Platz in einer Art futuristischem Boxauto. Dieses sogenannte Modul setzt sich automatisch in Bewegung und fährt in die „Restitution“ – wir kommen auf den Begriff zurück – der steinzeitlichen Grotte Cosquer in Marseille ein. Tropfsteine, Wasserflächen wie schwarze Spiegel, die ersten Anzeichen menschlicher Präsenz: Rauchspuren an der Decke und - man meint das Wiehern zu hören - vier kohleschwarze Pferde auf einer Kalksteinwand. Bald folgen gezeichnete und gravierte Bisons nach, Gämsen und Hirsche sowie Tierarten, die ausgestorben sind und/oder in der Höhlenmalerei nur selten vorkommen. Die Art und Weise, wie während der fünfunddreißigminütigen Rundfahrt der Blick der Besucherinnen und Besucher geführt wird, hat etwas Kinematographisches. Der Audioguide kommt auf ein Objekt im Raum zu sprechen, das „Modul“ dreht sich zu diesem hin, unsichtbare Projektoren leuchten die betreffende Stelle aus. Bei schlecht sichtbaren Ritzzeichnungen hebt gar ein Laserstrahl die Konturen hervor.
Vom finster erdfarbenen untersten Geschoss führt der Parcours weiter ins sonnig reinweiße oberste. Hier erhellt ein weiträumiges Centre d’interprétation auf 1325 Quadratmetern den Kontext. Die Nachbildung eines Höhlenunterschlupfs öffnet sich auf eine provenzalische Kaltsteppenlandschaft hin, belebt durch Bewegtbilder der steinzeitlichen Fauna. Beim Verlassen der Kaverne stößt man – in ausgestopfter oder nachgeschaffener Form – auf alle elf Tierarten, die in der Grotte Cosquer abgebildet sind: Bison, Gämse, Hirsch, Löwe, Pferd, Robbe, Saiga-Antilope und Steinbock sowie die ausgestorbenen Spezies Auerochse, Megaloceros und Riesenalk.
Ihnen zur Seite steht die lebensechte Replik einer helläugigen Sapiens-Schönheit. Über dem Brennnessel-Höschen trägt die paläolithische Venus einen Patchwork Pelz; ihr Stirnband zieren kleine Muscheln. So schlägt der Parcours elegant den Bogen zur Meeresthematik, die unter anderem Schmuckstücke aus Fischgräten oder Pottwal-Zähnen und ein Boot aus Bisonhäuten illustrieren. Evoziert wird hier auch der Anstieg des Meeresspiegels in den letzten neuntausend Jahren. Befand sich die Höhle einst sechs Kilometer von der Küste entfernt und lag ihr Eingang bis zu achtzig Meter über dem Meeresniveau, wurde ihr Inneres seit dem Ende der letzten Eiszeit zu vier Fünfteln überschwemmt. Der einzige Eingang liegt heute siebenunddreißig Meter unter Wasser! Mit dem erneuten Anstieg der Ozeane seit dem 20. Jahrhundert – an dem ausschließlich der Mensch die Schuld trägt – ist die Grotte Cosquer dem Untergang geweiht. Jedes Jahr hebt sich der Wasserspiegel um mindestens drei Millimeter; sämtliche Zeichnungen und Gravierungen befinden sich maximal zwei Meter über dem Wasserniveau.
Ein faszinierender Schutzfaktor ist dabei der Überdruck, der im Innern der Höhle herrscht. Diese ist weitgehend, aber nicht völlig luftdicht. Bei Südostwind und starkem Wellengang „injizieren“ die Brecher beim Aufklatschen auf das Kliff Myriaden von Bläschen in Mikroritzen, die mit der Grotte kommunizieren. So gelangt innert kurzer Zeit viel Luft ins Innere und fließt aufgrund der weitgehenden Dichtheit nur sehr langsam wieder zurück. Der solcherart erzeugte – permanente, aber in seiner Stärke fluktuierende – Überdruck bedingt, dass das Wasserniveau je nach Wetter und Jahreszeit zwischen zwanzig und hundertzwanzig Zentimeter unter jenem des Meeres liegt! Doch eines Tages wird wegen des Klimawandels auch der untere Teil des Kliffs mit seinen Mikroritzen überschwemmt sein. Dann wird sich der Überdruck mangels Luftnachschub verflüchtigen – und das Wasserniveau im Inneren auf jenes des Meeres anheben.
Die Zeit, die zum Erforschen der Grotte bleibt, ist gezählt. Zumal der Zugang mühsam ist, potenziell gefährlich (1991 ertranken drei Taucher in der Höhle) und nur bei Schönwetter möglich. Dabei besticht Cosquer nicht in erster Linie durch die künstlerische Güte ihrer Artefakte. Jean Clottes, Jean Courtin und Luc Vanrell, die die Grotte seit den frühen 1990er Jahren erforscht haben, nennen die darin identifizierten 229 Tierfiguren „ungeschliffen“ und „summarisch“. Einzige Farbe ist das Schwarz der Waldkiefer-Kohle, meist direkt in Form von Strichen auf Kalkstein- oder Kalzit-Oberflächen aufgetragen. Im Vergleich zu Altamira, Chauvet und Lascaux, den „Sixtinischen Kapellen“ der Höhlenmalerei mit ihren mehrfarbigen, großformatigen und figurenreichen „Wandtableaus“, wirkt Cosquer in der Tat ein wenig dürftig.
Dafür ist die Grotte nicht nur die einzige ihrer Art in der Provence, sondern auch die einzige weltweit mit einem unterseeischen Eingang. Und eine der ganz wenigen, die Meerestiere wie Robben, möglicherweise Fische und Quallen, vor allem jedoch drei an Pinguine gemahnende Riesenalke zeigen – die Embleme von Cosquer.
Faszinierend ist die Tatsache, dass die Autoren der Artefakte zum Teil zwischen 1,80 und 1,90 Meter groß gewesen sein müssen und dass sie an einigen Stellen ein Kind emporgehalten haben, dessen Handabdrücke sich in bis zu 2,40 Metern Höhe finden. Ferner trugen sie in größerem Umfang abgebrochene Stalagmit-Spitzen und den „Mondmilch“ genannten weichen Kalzit-Wandbelag aus der Höhle heraus – zu rituellen oder zu medizinischen Zwecken? Weitere Fragen betreffen die Handschablonen mit fehlenden Fingergliedern: Unfälle? Amputationen? abgewinkelte Finger? Die exakte Funktion der wenigen gefundenen Feuerstellen: Die Grotte diente nie je als Behausung. Die Bedeutung der zweihundertvierzig mit Feuersteinklingen in die Wand geritzten Zeichen (die man zum Teil auch aus anderen Höhlen kennt). Und nicht zuletzt die Natur des „l‘homme tué“ benannten Zwitterwesens: eine Mann-Robbe, die, durch eine befiederte und stachelbesetzte Wurfwaffe durchbohrt, auf dem Rücken liegt, alle viere von sich streckend. Und warum erlebte die lange Nutzung der Kaverne durch Vertreter der Gravettien- und Solutréen-Kultur – zwischen etwa 33 000 und 19 000 Jahren vor der Jetztzeit – einen rund acht Jahrtausende langen Unterbruch?
Derlei Fragestellungen der aktuellen Forschung widerspiegelt das Centre d’interprétation im obersten Geschoss nur am Rande. Dafür zeigt der Parcours im untersten die ganze Palette der Zeichnungen, Gravierungen und auch Höhlenminerale, die die Grotte zieren. Diese wurden mithilfe von bis auf einen Zehntelmillimeter genauen 3D-Erfassungen, die das Kulturministerium zur Verfügung gestellt hat, durch drei Equipen von Kunsthandwerkern nachgeschaffen. Ihre räumliche Anordnung ist indes eine andere als im Original – von daher die Selbstbezeichnung „Restitution“ statt „Replik“. „‘Replik‘“ klingt nach originalgetreuer Kopie“, erklärt Gabriel Beraha, der Mediationsbeauftragte von Cosquer Méditerranée, selbst Vorgeschichtler. „Uns schien ‚Restitution‘ ehrlicher: Es gibt formale Unterschiede, namentlich was das Volumen angeht“. In der Grotte müssen die Forscher klettern, kriechen und crawlen. In der Restitution dagegen setzen sich die Besucher einfach auf ein „Modul“ und sperren Augen und Ohren auf.
Wie in der Restitution der Grotte Chauvet im Herzen der Ardèche, die ebenfalls von der Gruppe Kléber Rossillon betrieben wird, ist der Hauptakzent klar ein touristischer. Es geht darum, möglichst viele Besucher anzuziehen. Und diese möglichst, sagen wir: fluid durch den Parcours zu schleusen. In der Grotte Chauvet 2 Ardèche marschiert alle fünf Minuten eine achtundzwanzigköpfige Gruppe hinter einem Führer los. In Cosquer Méditerranée fährt alle achtundvierzig Sekunden ein Modul mit sechs Fahrgästen ab. Nicht von ungefähr frohlockte bei der Pressevorstellung am 2. Juni der Tourismusbeauftragte der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur über den neuen Marseiller „Eiffelturm“. Derweil Geneviève Rossillon, die Präsidentin der Trägergruppe, sich über die erwartete halbe Million Besucher im Jahr die Hände rieb. Bei einem Eintrittspreis von sechzehn Euro für Erwachsene ist ein stattlicher Umsatz zu erwarten.
Kurioserweise ist Cosquer Méditerranée in einem Bau untergebracht, der ursprünglich eine ganz andere Bestimmung hatte: die durch Stefano Boeri und Ivan Di Pol konzipierte Villa Méditerranée. Einen Steinwurf vom Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée (Mucem) entfernt und im selben Jahr 2013 wie dieses eröffnet, als Marseille europäische Kulturhauptstadt war, hatte der strahlend weiße Wurf mit dem signalhaft auskragenden Dach zwei Funktionen. Inoffiziell ging es darum, dem staatlichen Mucem ein durch die Region getragenes Gegenstück an die Seite zu setzen. Offiziell war die Villa als Instrument des regionalen Soft Power gedacht: mittels Empfängen, Arbeitstreffen, Konferenzen usw. sollten hier Bande zu anderen großen Gebietskörperschaften im Mittelmeerraum geknüpft werden.
Die (nicht nur in der Provence zunehmend populistisch getönte) Rechte, die 2015 die seit siebzehn Jahren regierenden Sozialisten ablöste, konnte mit diesem Programm nichts anfangen. Erst wollte sie den Bau in ein Kasino verwandeln (sic), dann bezeugte sie ein derart ostentatives Desinteresse für den geplanten Einzug der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum, dass sich diese stattdessen in Neapel niederließ. Mit der Umnutzung zugunsten von Cosquer Méditerranée stellt die Region jetzt ein öffentliches Gebäude einem privaten Betreiber zur Verfügung. Und bezieht dafür (laut Vertrag bis 2045) ein ansehnliches Entgelt. So lässt das Projekt auch ein Streiflicht fallen auf die Rivalität zwischen Staat und Regionen und auf die gänzlich andersgearteten Regierungspraxen von Sozialisten und Rechtspopulisten.
Vor allem jedoch wirft es faszinierende kulturpolitische, ja -philosophische Fragen auf. Sieht so der Museumsbesuch der Zukunft aus?, wunderten wir uns eingangs. Wird man dereinst Exponate bestaunen, die ausnahmslos Kopien sind? Wird man sich für Parcours begeistern, die Kulturstätten im Detail akribisch kopieren, als Ganzes aber stark ummodeln? Und wird man sich willig durch lautlose Gefährte zu Artefakten hin kutschieren lassen, brav den Kopf drehen oder heben, wenn die Stimme im Ohr es suggeriert, und nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, aus der aufoktroyierten „3D-Kinovorstellung im realen Raum“ auszubrechen?
Verwendete Literatur:
Jean Clottes, Jean Courtin, Luc Vanrell: Cosquer redécouvert. Ed. du Seuil, Paris 2005.
Pedro Lima: La Grotte Cosquer révélée. Synops, Brüssel/Marseille/Montélimar 2021.
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