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Bilder im Spannungsfeld zwischen Sein und Schein

Gerhard Richter so vollständig wie noch nie – eine überwältigende Werkschau in der Pariser Fondation Louis Vuitton


Über Gerhard Richter zu schreiben ist schwer. Das Werk des 1932 in Dresden geborenen Wahl-Rheinländers mutet verwirrend vielgestaltig an. Es schwankt ständig zwischen den Polen „gegenständlich“ und „abstrakt“, „streng monochrom“ und „wild farbig“, „sinnleer“ und „bedeutungsvoll“, „restaurativ“ und „prospektiv“. Die ausgeprägt konzeptuelle Komponente fast aller Kreationen verleitet Kommentatoren gern dazu, die Kopfarbeit überzubetonen – zulasten des Handwerks, der intendierten visuellen Vertröstung, ja Verführung, der durch den Künstler oft und gern beanspruchten „Schönheit“. So springen viele direkt auf die Metaebene, beleuchten den theoretischen Überbau des Œuvres und bemühen dabei ausgiebig die einschlägigen Denker.


Das gilt auch für die Autoren des Katalogs der in jeder Hinsicht überwältigenden Retrospektive in der Pariser Fondation Louis Vuitton. Ihre Beiträge sind profund, aber schwer lesbar, zumal alle bis auf zwei aus dem Deutschen oder Englischen ins Französische übertragen wurden, was eine Unschärfe zeitigt, die im Gegensatz zu jener bei Richter ungewollt und unproduktiv ist. Das Profil, das diese Texte – und viele andere dem Künstler gewidmete – skizzieren, ist ein freudlos-verkopftes. Dabei ist Richter – nicht nur, aber auch – ein Dichter und ein Schwelger, ein lind lispelnder Romantiker und ein ekstatischer Derwisch der Farbtrance.


Wir möchten drum bei der Besprechung dieser Werkschau auf Barthes und Foucault, Lacan und Lyotard, Gadamer und Guattari, Wittgenstein und Virilio verzichten. Stattdessen soll beschrieben werden, was Besucher, die mit Richters Werk nicht unbedingt vertraut sind (die letzte große Retrospektive in Frankreich wurde 2012 durch das Centre Pompidou ausgerichtet), zu sehen bekommen – und wie sie darauf reagieren mögen. Was dem Ansatz an Gedankentiefe abgeht, macht er hoffentlich durch Anschaulichkeit wett.


Das erste der acht chronologischen Kapitel der Schau führt sogleich vor Augen, wie heterogen Richters Œuvre ist. Wer dieses nicht kennt, möchte meinen, die hier vereinten Arbeiten aus den Jahren 1962 bis 1970 seien durch ein Halbdutzend verschiedener Künstler geschaffen worden. Der Eingangssaal zeigt so das Opus eins des Catalogue raisonné nach der Flucht aus der DDR 1961: den nach einer Fotografie aus einer Architekturzeitschrift gemalten, dann mit Zeitungspapier beklebten und endlich mithilfe von Lösungsmittel in heftigen Kreisbewegungen partiell verwischten „Tisch“ – „Signal des Misslingens, der Auslöschung und der Flucht“, so Armin Zweite in seiner maßstabsetzenden Monografie. Daneben geflaute Reproduktionen in Öl von Fotos eines Nuba-Begräbnisses durch Leni Riefenstahl, von US-Bombern über Dresden sowie einer Familienszene mit Schäferhund Wolfi (dessen Name an Hitlers „Blondi“ erinnert).


Tisch, 1962 (Bild: © Gerhard Richter 2025 (18102025) / Photography © Jennifer Bornstein)
Tisch, 1962 (Bild: © Gerhard Richter 2025 (18102025) / Photography © Jennifer Bornstein)

Viele von Richters frühen Arbeiten kreisen – meist implizit – um die NS-Zeit. So auch in den folgenden Sälen der (nicht wie in der Schau zu lesen „zu Beginn des Kriegs“, sondern erst im Sommer 1944 gefallene) „Onkel Rudi“ oder die (1945 im Rahmen des Euthanasieprogramms ermordete) „Tante Marianne“. Doch entstanden in diesem ersten Schaffensjahrzehnt auch Werke, die sich radikal von diesen „fotorealistisch-flauen“ Schwarzweißgemälden abheben: monochrom graue Malereien, „Glasscheiben“ in mobilen Eisenrahmen, den Musterkarten von Farbenherstellern nachempfundene „Farbtafeln“, neoromantische Landschaftsgemälde, Wolkenbilder und Seestücke sowie Tableaus von Gebirgs- oder Stadtlandschaften, deren Faktur ungleich grober und deren Pinselstrich sehr viel freier und expressiver ist als jener der eingangs beschriebenen Werke.


Onkel Rudi, 1965 (Bild: © Gerhard Richter 2025 (18102025))
Onkel Rudi, 1965 (Bild: © Gerhard Richter 2025 (18102025))

Gemein sind all diesen sehr heterogenen Hervorbringungen zwei Dinge: die konstant hohe, oft hinreißende Qualität – man könnte sich stundenlang in den Farbnuancen des „Seestücks (leicht bewölkt)“ von 1969 verlieren – und das mal sachliche, mal spielerische Hinterfragen des Begriffes „Bild“. Im Kern geht es bei Richter stets ums Darstellen, ums Sehen und ums gedankliche (aber auch gefühlsmäßige) Verarbeiten der gesehenen Darstellungen. Die „fotorealistisch-flauen“ Arbeiten verunklaren und verfremden so ihre Vorlagen, die „Glasscheiben“ erkunden Spiegelungen und leicht getrübte Durchblicke im gerahmten Raum, die „Farbtafeln“ zwingen Farben in rigide Raster und nehmen ihre Kombinationen unter die Lupe, die „Graus“ tasten mithilfe der titelgebenden „Nichtfarbe“ den Pinselstrich ab, fragen nach Charakter, Härte und Breite des benutzten Werkzeugs, nach Dynamik und Rhythmik des Farbauftrags, nach der Textur der Materie. Abstrakte Werke, zunehmend losgelöst von Vorlagen, lassen ab 1976 der „Hand“ des Künstlers freien Lauf, figurative Arbeiten experimentieren mit klassischen Genres wie Porträt, Landschaft und Stillleben – nicht zu vergessen Historienmalerei wie im Fall der epochalen fünfzehnteiligen Serie „18. Oktober 1977“ (1988), die um den Tod von vier Gründungsmitgliedern der RAF kreist.


Gudrun, 1987 (der Titel verweist auf Gudrun Ensslin, die zu den vier RAF-Mitgründern zählt, um welche die Serie „18. Oktober 1977“ kreist) (Bild: Fondation Louis Vuitton, Paris © Gerhard Richter 2025 (18102025))
Gudrun, 1987 (der Titel verweist auf Gudrun Ensslin, die zu den vier RAF-Mitgründern zählt, um welche die Serie „18. Oktober 1977“ kreist) (Bild: Fondation Louis Vuitton, Paris © Gerhard Richter 2025 (18102025))

Die durch Dieter Schwarz und Nicholas Serota kuratierte Ausstellung ist so vollständig, wie es sich nur träumen lässt. Nicht nur, weil sie mit 275 Exponaten in 34 Sälen Richters sieben offizielle Schaffensjahrzehnte von 1962 bis heute abdeckt. Sondern auch, weil (fast) sämtliche Hauptwerke zu sehen sind – mit Ausnahme ortsgebundener Arbeiten wie der Installation „Schwarz, Rot, Gold“ im Berliner Reichstag oder des Kölner Domfensters. So namentlich Schlüssel-Serien wie „Verkündigung nach Tizian“ (1973), die in fünf Etappen erfolgende Auflösung einer Vorlage des Venezianers in farbigen Dunstnebel; „S. mit Kind“ (1995), wo – autobiografisch begründet – der Typus des süßlichen Salonbilds mit Unbehagen aufgeladen und mithin mit Ambivalenz angereichert wird; „Cage“ (2006), eine durch Zufall mitgesteuerte spröde Reflexion über Gitter und Geste, sowie deren späteres, trauerschweres Pendant „Birkenau“ (2014) nach den vier Sonderkommando-Fotografien aus dem Vernichtungslager Auschwitz II; endlich „Foricano“ (2023), halb „automatische“ Zeichnungen (Richter hat das Malen 2017 aufgegeben), die gleich Partituren von John Cage zwischen choice und chance mäandern.


Einen reicheren Überblick über das Werk eines der bedeutendsten lebenden Künstler dürfte man auf längere Zeit hinaus nicht mehr zu bestaunen bekommen. Bei aller Vielgestalt der Form kreist Richters Schaffen ganz um diesen einen Inhalt: das Bild im Spannungsfeld zwischen Sein und Schein.


Venedig (Treppe), 1985 (Bild: © Gerhard Richter 2025 (18102025))
Venedig (Treppe), 1985 (Bild: © Gerhard Richter 2025 (18102025))




Die Ausstellung „Gerhard Richter“ läuft zum 2. März 2026 in der Fondation Louis Vuitton, Paris.

Katalog: Gerhard Richter (Hrsg.: Nicholas Serota und Dieter Schwarz). Citadelles & Mazenod, Paris 2025. 416 S., Euro 49,90.
 

Weitere verwendete Literatur:

Armin Zweite: Das Denken ist beim Malen das Malen. Schirmer/Mosel, München 2019. 480 S., vergriffen.


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