Quartierskneipe mit dem Empfang eines Palasthotels: Gravity Bar punktet unweit des Canal Saint-Martin in allen Disziplinen
Sport ist Mord, für mich. Fußball, Boxen und Gewichtheben töten meines Erachtens, wo nicht instant den Körper, so auf Dauer den Geist. Einzig für Boule, Golf und Eiskunstlauf bringe ich eine gewisse Nachsicht auf.
So ist es zähneknirschend, dass ich in diesem Beitrag eine Rolle rückwärts mache und – ausgerechnet! – über eine Sportbar schreibe. Freilich eine Sportbar auf der Meta-Ebene.
Gravity Bar wurde 2015 durch den ehemaligen Journalisten Marc Longa und einen Skiprofi gegründet, der hier nicht namentlich genannt werden möchte. Seinem Wikipedia-Eintrag entnehme ich, dass er nichts lieber tut als über vereiste Gräte zu balancieren, annähernd senkrechte Bergwände hinabzufliegen, mithilfe von Schanzen und Gleisen die halsbrecherischsten Sprünge auszuführen und off-piste durch Tiefschneefelder zu rasen, stets den Atem einer potenziellen Lawine im Nacken. Sport ist Selbstmord, eben.
Doch dieser – in meinen Augen: dubiosen – Leidenschaft für Extrem-Strapazen ist ein kleines Juwel von einer Bar entsprungen. Sowohl formal als auch inhaltlich spinnt Gravity Bar die sportliche Metapher aus: nicht mit dem Nebelhorn trötend, sondern subtil alludierend, mit minimalistischen Fingerzeigen. Der hufeisenförmige Bartresen besteht so aus einem Ortbeton, dessen gesprenkelte Rauheit an Bergfelsen oder Skateparks gemahnen mag. Die Regalwand voller Flaschen dahinter wächst bis zur Decke empor und schwappt gar auf diese über in Form von Wogen aus Holzlamellen – ein möglicher Verweis auf das feuchte Reich der Surfer. Wie in den erwähnten Sportarten wird Schwerkraft in der Gravity Bar zumindest für Augenblicke in Klammern gesetzt. Der Name des kleinen, feinen Etablissements verspricht Momente der Unbeschwertheit ohne irdischen Ernst.
Ähnlich beziehungsreich wie Antoine Vauclares Innenarchitektur ist die Cocktailkarte, die Geschäftsführer Steven Chicard und Barfrau Jeanne Mathieu während des letzten Lockdowns im Frühjahr 2021 erarbeitet haben. Sie trägt den Titel „Hot Spot Menu“, ein Verweis auf zehn Flecken, Regionen oder ganze Staaten (wo nicht gar Kontinente), die für Asphalt-, Schnee- oder Wellenreiter von besonderer Bedeutung sind. „Wir haben uns für jeden Spot gefragt, was die Bewohner dort essen und trinken, was für Geschichten, Traditionen, Legenden oder fiktionale Figuren es gibt – und davon ausgehend einen Cocktail kreiert“, erklärt mir Chicard.
„The Dude“ ist so eine Akklimatisierung des „White Russian“ an das Skater-Mekka Kalifornien. Dort trinkt man gern Rum, welcher hier den Wodka des Originalrezepts ersetzt, aromatisiert mit Kaffeelikör und Hanf-Sirup – der Namengeber des Cocktails, Jeffrey Lebowski aka „The Dude“, Antiheld der Filmkomödie „The Big Lebowski“ der Coen-Brüder, ist am glücklichsten mit einem „White Russian“ in der einen Hand und einem Joint in der anderen. Mit Milch, Zitronensaft und etwas griechischem Joghurt versetzt, ruht die Mischung über Nacht, bevor sie gefiltert wird. Dank dieser Klarifizierung hat „The Dude“ die Farbe von Rum, obwohl Milchprodukte in ihm enthalten sind.
„Bush Tucker“ seinerseits fasst – politisch und geographisch nicht ganz korrekt – Australien und Neuseeland zu einer Einheit zusammen. Inspiriert ist der Cocktail zunächst von dem ephemeren „Mountain Dew Skate Pinball“, den die namengebende Limonade-Marke 2011 bei Auckland hatte errichten lassen. Der Cocktail sollte etwas von der Frische und Energetik des einem kunterbunten Flipper nachempfundenen Skateparks vermitteln.
Bei der Wahl der Ingredienzien ließen sich Chicard und Mathieu dann vom australischen „Bush Tucker“ leiten, der Jagd- und Sammel-Ausbeute der Aborigines. Neuseeländischer Wodka wird so mit Sirup von Gelber Bete versetzt – das australische Agrarprodukt schlechthin –, erhält dank Chartreuse jaune einen wildgrasigen Touch, dank Zitronensäure einen Schuss stechende Frische und dank Kaffernlimetten-Zeste die aromatische Schlusspolitur.
„Zicatela“ wiederum bezieht sich auf einen der bekanntesten Surfspots Mexikos, die Playa Zicatela in Puerto Escondido. In destrukturierter Form schafft der Cocktail die Nationalsauce Mole nach (von der zig Varianten existieren). Getrocknete Tomaten werden mit Piment in Mezcal ziehen gelassen, Kakaobohnensplitter in Bourbon (der bekanntlich zu mindestens 51 Prozent aus Mais besteht, dem mexikanischen Nationalgemüse). Tomatensirup steuert etwas Süße bei, chocolate bitters eine vernaschtere Spielart von Kakao. „Escondido“ heißt „versteckt“, weswegen der Cocktail in einem schwarzen Becher auf den Tisch kommt. Dessen Rand netzt ein Ring Karottensalz, zur Begleitung werden gegrillte Kichererbsen gereicht – ein für Allergiker ungefährlicher Verweis auf die Nuss-Komponente des Mole…
„Supertramp“ endlich ist eine erstaunliche Kreation, die von dem Ski-Spot Haines in Alaska inspiriert ist. Getrocknete Blau- und Moosbeeren zaubern Wald in den Whisky, Fernet Branca steuert Wildkräuter-Duft bei. Das Ganze ruht vier Tage lang in Flaschen, deren Inneres mit Bienenwachs tapeziert wurde. Selbst dem Grizzlybär wässern da die Lefzen, zumal die Kreation auf einer Holzscheibe mitsamt Biskuit serviert wird. Wer da Heißhunger bekommt, kann diesen mit den kleinen Köstlichkeiten stillen, die der Brasilianer Ricardo Rebeiro Palacio Jr. mit Sinn für Ästhetik wie für Gaumenkitzel in der offenen Küche zubereitet.
Im Juni wird eine neue Cocktailkarte vorgestellt. Wieder gibt es ein übergeordnetes Thema: Diesmal sind es acht Künstlerinnen und Künstler, die der Gravity Bar und ihrer kleinen Belegschaft nahestehen. „Jede und jeder von ihnen“, führt Chicard aus, „wurde ausführlich befragt, dann haben wir anhand der Antworten eine Art alkoholische Porträtgalerie kreiert.“ Neben dem Geschäftsführer und der Barfrau durfte auch die Auszubildende Jane Leprovost ihr Senfkorn dazugeben – am Abend unseres Besuchs war ihr Service, wie meine Schwester befand, „reif fürs Ritz“.
Die Atmosphäre einer Quartierskneipe und der Empfang eines Palasthotels. Cocktails zum Frühstarten und Tapas zum Rekordbrechen. Gravity Bar ist olympiareif.
un autre merveilleux article, Marc! J'aimerais pouvoir essayer ces œuvres d'art à boire !