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Medizin vom Mixologen

Aktualisiert: 29. Sept. 2022

Chill und chic: Classique bietet Klassiker mit Qualität (und oft einem überraschenden Dreh) in einer ehemaligen Apotheke südlich von Pigalle

Nomen est omen. Classique gibt sich als ein traditionelles bar-café in dem Viertel, das Journalisten und Werbeleute vor fünfzehn Jahren in „SoPi“ (für „South Pigalle“) umzutaufen versucht haben. Der affige Name ist vergessen, die Anziehungskraft des Hipsterviertels um die Avenue Trudaine jedoch ungebrochen. Es ist leicht, über die Gentrifizierung und ihre mitunter possierlichen Begleiterscheinungen zu spotten. Aber im vorliegenden Fall ist eine erfreuliche Vitalisierung zu verzeichnen. Der Südteil der Rue des Martyrs wimmelt tagsüber von Flaneuren, die sich an den Vitrinen der (zum Teil: sehr) gehobenen Lebensmittelläden die Nase plattdrücken – so sie nicht der Versuchung erliegen, bei La Poularde Saint-Honoré ein Bressehuhn mitzunehmen, bei der Fromagerie Quatrehomme einen getrüffelten Mont d’or oder bei der Chambre aux Confitures eine Ananas-Kokosnuss-weiße-Schokolade-Marmelade.


Abends verbreiten Gastbetriebe bis in die ersten Morgenstunden hinein Feststimmung auch an Werktagen. So Classique in einem Sträßchen, das an der Place Lino Ventura mit ihrem Postkarten-Karussell von der Rue des Martyrs abzweigt. Marmortresen, Milchglasleuchten und freistehende Träger aus Schmiedeeisen, aber auch Zementfliesen, Einlegearbeiten und Apothekerschränke, die aus der pharmacie hinübergerettet wurden, welche bis zur Eröffnung von Classique am 19. Mai 2021 hier möglicherweise seit den 1910er Jahren Pillen und Pflaster vertrieb. Das Interieur des bar-café wirkt heimelig, aber aufgeräumt, gepflegt, aber einladend: chill mit Chic.



Die Karte, augenzwinkernd geschmückt mit einer Äskulapnatter, die sich um ein Cocktailglas windet, führt sechzehn Kreationen zwischen 10 und 13 Euro auf. Bemerkenswert: fünf oder sechs von ihnen werden alle paar Wochen durch neue ersetzt, erklärt uns Hugo Combe, zusammen mit Benjamin Le Seigneur Besitzer von Classique. Die beiden Barmänner arbeiten konsequent saisonal: „‘Bloody Mary’ gibt es bei uns nur zur Tomatenzeit“, führt Combe aus, „dafür werden wir demnächst eine Art alpenfrischen Lassi aus mit Vanille und weißem Wermut versetztem griechischem Jogurt auf die Karte setzen, dem wir die ersten, exzeptionell zarten Erbsen des Frühlings beimischen“. Nichtalkoholische Zutaten kommen u. a. von Ausnahme-Feinkosthandlungen wie Trouvailles & Terroirs oder Les Vergers St-Eustache.

Flaue Frische: Im “Erbalunga”, einer Daiquiri-Variation mit einer Basis von Cap Corse blanc grande réserve, konnte ich Sumach und Tonkabohne nicht herausschmecken.

Die Gläser können sich sehen lassen. Meinem „Call Clémentine“ auf einer Basis von Wermut und Bitter verleihen Klementine und Erdnussmilch einen fruchtig-vernaschten Dreh. Mein Begleiter Rod investiert in einen „Business Plan“ aus Wermut und Berto Aperitivo, den ein hausgemachtes Zitronen-Sauerampfer-Likör mit Curcuma sowie ein Schuss Champagner in Richtung Dolce Farniente umleiten: ein sophistizierter Spritz sozusagen. Auf stille und subtile Art komplex – wenngleich für meinen Geschmack eine Spur zu wenig alkoholhaltig – der abschließende „Naïma“: Rye Whisky und weißer Burgunder mit Noten von Birne, Buchweizen, Haselnuss und Orangenblüten.



Ihren Vorsatz, Klassiker mit Qualität (und oft auch einem überraschenden Dreh) zu präsentieren, wollen Combe und Le Seigneur demnächst auf eine Mittagskarte ausweiten. Diese soll Säulen der Bistrot-Küche wie œuf mayo (mit Limetten-Kaviar) und tartare de bœuf (mit Ponzu) aufführen – verwirklicht unter der Aufsicht der japanischen Sterneköchin Katsuaki Okiyama, deren Restaurant Abri am südöstlichen Rand von „SoPi“ liegt.

Nach dem dritten Glas verschwimmt alles: “Naïma” mit Rye Whisky, weißem Burgunder, Birnenschnaps, Haselnüssen und Buchweizen-Sirup mit Orangenblüten

Unter dem Strich


Ort: hält sich aus dem Trudaine-Trubel heraus; die Terrasse verlockt bereits im Winter – 14/20

Stimmung: ruhiger Mittwoch, trendige Pärchen sowie gutsituierte Anwohner, die am Tresen zwölf Austern schlürfen kommen und dazu zwei, drei Gläschen leeren – 13/20

Service: Chef wie Ober sind äußerst aufmerksam – 16/20

Cocktails: gehobenes Niveau mit einem kleinen Abstrich: bei meinem „Erbalunga“, einer Daiquiri-Variation, konnte ich Sumach und Tonkabohne nicht herausschmecken – 14/20
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