Missklang und Einklang
- marczitzmann
- 8. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Zur These, die Franzosen setzten lieber auf Konflikt als auf Konsens und Koalitionsbildung
In Paris ist heute die Regierung von François Bayrou gestürzt, völlig erwartungsgemäß. Schon kurz nachdem der Premierminister vor zwei Wochen angekündigt hatte, er werde der Nationalversammlung bezüglich des Regierungsentwurfs für den nächstjährigen Staatshaushalt die Vertrauensfrage stellen, war klar, dass die Mehrheit der Abgeordneten gegen die geplante Sparübung von 44 Milliarden Euro stimmen würde. Bayrou hatte den Kampf ums Überleben seiner Regierung – an den wohl nicht einmal er selbst glaubte – unter das zugespitzte Motto „Mein Budget oder das Chaos“ gestellt. Frankreichs Unterhaus hat fürs Erste eine Form von Chaos gewählt – von der niemand zu sagen weiß, ob sie mehr oder weniger Wirren verursachen wird als die soziale Unruhe, die die Annahme des besagten Haushaltsentwurfs gezeitigt hätte.

Akut stellt sich die Frage, ob das Land fähig sein wird, innerhalb des gesetzlich fixierten Zeitrahmens ein Budget für 2026 zu verabschieden. Sollte in den nächsten Tagen eine neue Regierung gebildet werden, hätte diese nur bis zum 13. Oktober Zeit, um der Nationalversammlung einen neuen Haushaltsentwurf vorzulegen. Bei Nichteinhalten dieser Frist müssten die derzeit geltenden Modalitäten für Einnahmen und Ausgaben so lang ins kommende Jahr hinein verlängert werden, bis ein neues Budget verabschiedet ist. Das war bereits letztes Jahr der Fall gewesen (der Haushalt für 2025 „stand“ erst Mitte Februar) – und hatte etliche Probleme gezeitigt.
Die verspätete Verabschiedung des Staatsbudgets wie der Sturz einer Regierung infolge eines Misstrauensvotums des Unterhauses (so im Fall der Regierung Barnier im Dezember 2024) beziehungsweise einer seitens derselben Parlamentskammer verneinten Vertrauensfrage (so jetzt im Fall der Regierung Bayrou) sind präzedenzlos in der Geschichte der Fünften Republik. Sie erklären sich durch die schlichte Tatsache, dass in der Nationalversammlung seit den Wahlen von 2022 keine Regierungsmehrheit mehr zu finden ist. Ein Missstand, den die vorgezogenen Wahlen von 2024 noch verschlimmert haben. Schon zwischen 1988 und 1991 hatte der Sozialist Michel Rocard fallweise am linken oder am rechten Rand seiner Regierungsminderheit die vierzehn Stimmen gesucht (und gefunden), die ihm in der Nationalversammlung fehlten. Aber weder Barnier noch Bayrou zeigten das Fingerspitzengefühl des linkszentristischen Balancierkünstlers Rocard. Und zum Regieren fehlten ihnen nicht weniger als 79 Stimmen – sowie gegnerische Fraktionen, die nicht (wie heute jene ganz links und ganz rechts) einen rein destruktiven Kurs fahren.
So stellt sich die grundsätzliche Frage, ob – beziehungsweise inwieweit – das Land regier- und reformierbar ist, wenn aus Wahlen kein klarer Sieger hervorgeht. Im Kern geht es hier um Tugenden wie Dialog- und Kompromissfähigkeit. Glaubt man vielen Autoren, lassen Franzosen diese missen – zugunsten einer Appetenz für Konfliktverhalten wie kein zweites Volk. Laut Karl Marx führen sie politische und soziale Kämpfe erbitterter als alle anderen; laut Raymond Aron ringen sie sich erst nach Revolutionen zu Reformen durch. In keinem anderen Land wurde derart massiv gegen Rentenreformen oder gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe demonstriert. Einen Mai 68 gab es in sechzig Staaten auf fünf Kontinenten – aber einzig in Frankreich (und allenfalls in Italien) kam es zu einer mehrwöchigen Totallähmung. Viele Franzosen sehen – um das Wort von Clausewitz umzukehren – die Politik als eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mittel an, wovon schon das politische Vokabular zeugt: „état-major“, „quartier général“, „ordre de bataille“…
Für Frankreichs „Konfliktkultur“ – so der Titel eines Kapitels in Jean-Pierre Rioux‘ und Jean-François Sirinellis Summe über die Kulturgeschichte des Landes – werden verschiedene Gründe genannt. Etwa die Prägung durch die Revolution, in deren Verlauf die Sansculotten den gewählten Volksvertretern immer wieder mit Gewalt ihre Wünsche aufgezwungen hatten. Oder die im Vergleich zu Großbritannien und zu Deutschland späte Institutionalisierung von Parteien und Gewerkschaften, der Bedeutungsschwund der Arbeitnehmervertretungen seit den späten Siebzigerjahren (heute ist nur noch jeder zehnte Lohnempfänger Gewerkschaftsmitglied) sowie, quasi als Kompensation, die starke, viele sagen: erdrückende Rolle, die der Staat in Sozialverhandlungen einnimmt. Der Fall ist demnach klar: Franzosen sind es nicht gewohnt, Kompromisse einzugehen und Koalitionen zu bilden.
Aber ist der Fall wirklich so klar? Am 1. Oktober wird der Historiker Laurent Wirth ein Buch veröffentlichen, das ich vorab lesen konnte. Der Titel, „La Discorde et la concorde“, lässt sich mit „Missklang und Einklang“ übersetzen. Es geht, in der Langzeitperspektive von Louis XVI bis zu François Bayrou, um den Wechsel von Phasen schriller Dissonanzen und von Perioden wohliger Harmonie. So führt Wirth neben Beispielen geschichtsträchtiger innerfranzösischer Konflikte auch solche historischer Kompromisse an, die sich auf breiten Konsens abstützten. Errungenschaften von generationenübergreifender Beständigkeit fallen in diese Sparte wie die Trennung von Kirche und Staat 1905, die Einführung umfassender Sozialversicherungen 1928 oder die Dezentralisierung ab 1982. Geht man noch weiter zurück in der Geschichte, waren auch das Direktorium, das Konsulat und die endgültige Verankerung der Republik im Jahr 1875 Früchte von Kompromissen in Zeiten fehlender Mehrheiten – ganz zu schweigen von dem Umstand, dass Frankreich zwischen 1944 und 1958 permanent durch Koalitionen von mindestens drei Parteien regiert wurde. Wege finden sich also durchaus, wo ein Wille da ist.
Statt der allzu simplen These von der französischen Konfliktkultur vertritt Wirth so jene von der gallischen Zyklothymie. Das Wort meint das, was Wirths Zunftgenosse Michel Winock 1986 in einem Buchtitel „La Fièvre hexagonale“ genannt hat: eine fiebrige Folge von Phasen der Euphorie und von Perioden der Depression. Es ist in der Tat frappierend, in wie kurzer Zeit die Grande Nation von einem Extrem ins andere fallen kann. Im Mai 1958 stand die Vierte Republik angesichts des Putschs in Algier vor dem Abgrund; im September desselben Jahrs erklomm das Land nach der Begründung der Fünften Republik durch de Gaulle (dessen Verfassungsentwurf fast 80 Prozent der Wähler zustimmten) neue Gipfel. Im Mai 1995 errang Jacques Chirac mit dem Gelöbnis, den „sozialen Riss“ zu kitten, einen komfortablen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen; sechs Monate später legten Streiks und Massendemonstrationen gegen eine weitherum als Bruch des Wahlversprechens empfundene Renten- und Sozialversicherungsreform das Land während Wochen lahm.
Wirth führt noch viele weitere Beispiele an, konstatiert aber vor allem, dass sich der zyklothymische Zyklus seit den Parlamentswahlen von 2022 schwindelerregend beschleunigt hat. Die rasche Folge von vier Premierministern innerhalb von drei Jahren erinnert dabei an die als instabil verschriene Vierte Republik. Wobei Kommentatoren wie der Historiker Nicolas Rousselier, Autor eines Standardwerks über Frankreichs Exekutive, der Zeit zwischen 1946 und 1958 durchaus Tugenden attestieren – namentlich die Kompromissbereitschaft und Koalitionsfähigkeit vieler Parlamentarier. Ein wenig vom Geist jener Zeit findet man heute im Lager der Grünen und Sozialisten. Zwar mochten sie Bayrou keinen Blankocheck ausstellen. Aber im Hinblick auf eine mögliche – besser: eine hypothetische – Übernahme des Regierungsgeschäfts nach dessen Sturz zeigen sich viele bereit, Wasser in ihren Wein zu gießen.
Die Zukunftsszenarien sehen allesamt wenig rosig aus. Erneute vorgezogenen Parlamentswahlen, womöglich unter Anwendung des Verhältniswahlsystems, für das manche plädieren, ließen die ohnehin schon starke Fraktion des rechtsextremen Rassemblement national noch einmal monströs anschwellen. Das Umgehen des Parlaments mittels Dekreten, Verordnungen und Personalernennungen widerspräche dem Geist der Verfassung und wäre allenfalls auf kurze Dauer praktizierbar. Ein Rücktritt des Präsidenten beschädigte die höchste Staatsfunktion nachhaltig. So könnte es zumindest einen Versuch wert sein, die Karte der gemäßigten Linken auszuspielen – in welcher Form auch immer.



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