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Krieg, Kälte und knappe Kröten

Aktualisiert: 23. Mai 2023

Luden am Leicester Square: Célines wiedergefundener London-Roman handelt vom Niedergang einer Bande frankophoner Zuhälter in den Kriegsjahren 1916 und 1917


„Londres“ heißt der neue Roman von Louis-Ferdinand Céline, der zweite veröffentlichte Text aus dem letztes Jahr wiederaufgetauchten Manuskripte-Schatz. Im Gegensatz zum im Mai erschienenen „Guerre“ ist hier sowohl der Titel als auch die Gattungsbezeichnung unangreifbar. War der (Arbeits-)Titel „Guerre“ nur zweimal flüchtig in Célines Korrespondenz aufgetaucht (und das in zwei verschiedenen Formen, „Guerre“ und „La guerre“), so steht „Londres“ auf allen vier Mappen, in denen der Autor die 1161 Manuskriptblätter aufbewahrt hatte. Und im Gegensatz zu „Guerre“, einer mit 131 dünn bedruckten Seiten mageren postumen Montage von sechs Sequenzen, die mitten im Geschehen beginnt, da wohl die neun ersten Kapitel fehlen, bildet „Londres“ einen vermutlich vollständigen Roman, dessen Länge jener der jeweils rund fünfhundertseitigen Würfe „Voyage au bout de la nuit“ („Reise ans Ende der Nacht“, 1932) und „Mort à crédit“ („Tod auf Kredit“, 1936) entspricht, zwischen denen das Werk wahrscheinlich entstanden ist.


Manna für Gallimard: Die Erstauflage von „Londres“ beträgt 80 000 Exemplare, von „Guerre“ wurden seit Mai deren 180 000 verkauft. (Bild: flickr)

Ein ausgewachsener neuer Céline-Roman also. Und was für eine tolle Geschichte! Wir schreiben das Frühjahr 1916. Ferdinand, der in „Guerre“ verwundete junge Soldat, ein Alter Ego des Autors, ist der durchtriebenen Dirne Angèle von einem Lazarett bei Ypern nach London gefolgt. Dort teilen die beiden ein grässliches Geheimnis – Angèle hat in Französisch-Flandern ihren Mann und Zuhälter als Deserteur denunziert und so vor das Erschießungskommando gebracht – und einen Teil des Geldes, das die nunmehr von einem skurrilen Major namens Purcell ausgehaltene Kokotte verdient. Ferdinand seinerseits hat sich einer Gruppe französischer Mädchenhirten angeschlossen, deren Anführer ihm wohlgesinnt ist. Triebfeder des Geschehens ist der unaufhaltsame Niedergang der Bande im Würgegriff der englischen Polizei. Deren Schlingen ziehen sich immer enger um Luden im Allgemeinen und um fahnenflüchtige Franzosen im Besonderen. Der Roman trägt so Züge eines Abzählspielchens, einer Milieuchronik und eines Ganovenromans.


Louis Ferdinand Destouches (dritter von links) nach seiner Kriegsverwundung im Dezember 1914. Die zehn Monate, die der spätere Louis-Ferdinand Céline vom Mai 1915 an in Großbritanniens Hauptstadt verbrachte, lieferten den Stoff für die beiden London-Romane. (Bild: Collection Véronique Chovin)

Faszinierend ist zunächst die Porträtgalerie von schiefen Fressen zwischen Dix und Grosz, die „Londres“ entwirft. Da ist der mediterran ausgeglichene Cantaloup: ein Bandenführer mit Autorität und Augenmaß, der indes Mühe hat, die Mitglieder seiner dysfunktionalen „Familie“ vor Fehltritten zu bewahren. Den Kern der Gang bildet ein schillerndes Trio. Bijou ist Zuhälter, begnadeter Tänzer und Polizeispitzel in einem; seine zunehmend panischen Bestrebungen, mit Informationen über seine kriminellen Kollegen einen Aufschub für die Rückbeorderung an die Front zu erkaufen, kosten ihn schließlich Kopf und Kragen. Rodriguez Ostende – der Name ist so unecht, wie er klingt – ist Deserteur, hauptberuflich aber Falschspieler; sein pathologischer Drang zu betrügen hat ihm einen Bannfluch sämtlicher Spielhöllen eingebracht. Der russische Bär Borokrom endlich wurde wegen seiner Manie, anarchistisch-kommunistischen Überzeugungen mit dem Werfen von Bomben zusätzliche Sprengkraft zu verleihen, von Amerika bis Eritrea gejagt; das Traktieren von Tasteninstrumenten ist nicht sein geringstes Talent. Unter den zahlreichen mit dem Stichel gestochenen Nebenfiguren seien zumindest der gefallene Baronet Lawrence Gift genannt, dessen Würde weder Trunksucht noch Geldnot einen Abbruch tun; und der polnische Arzt Yugenbitz, dessen frappierend positive Zeichnung beweist, dass Céline zumindest vor seiner Hinwendung zu einem Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung 1937 durchaus Sympathie für jüdische Figuren zu bezeugen fähig war.


Céline 1916 (Bild: flickr)

Fesselnd sind sodann die Situationen, die der Romancier ersinnt. Im Keller der Mutter Crokett versetzt Bijous Tanztalent tobende Docker in einen derartigen Taumel, dass sie den Ballerino schier totschlagen. Ferdinand, der mit einer Gehirnerschütterung davonkommt, wähnt sich jäh in die mittelalterliche „Legende vom König Krogold“ katapultiert (einen weiteren 2021 wiederentdeckten Céline-Text, der nächstes Jahr erscheinen soll); in einem späteren Kapitel interagieren die Märchengestalten gar mit den Romanfiguren. Borokrom verfrachtet die beiden Opfer der orgiastischen Schlägerei auf einen Handwagen und karrt sie durch halb London; in dem „Totenbahnhof“, von wo aus jede Nacht eine frische Fuhre Verstorbene zu einem fernen Friedhof abfährt, erwacht Bijou aus dem Koma. Beim Arzt Yugenbitz, wo die drei sich zeitweilig einnisten, wird Ferdinand seiner Berufung zum Mediziner gewahr. Sein erster Patient, für den er keine Mühe scheut, verstirbt prompt; Krankheit und Tod dieses Wickelkinds erinnern an das erschütternde Dahinscheiden des kleinen Bébert in „Reise ans Ende der Nacht“ und bilden einen emotionalen Höhepunkt von „Londres“ – wie auch Passagen über Yudenbitz‘ junge Töchter und über den Kater Mioup, ebenfalls Figuren der Unschuld.


Nach der Rückkehr in die Pension am Leicester Square, wo die Bande nistet, verengt sich der Horizont dann zusehends. Ein neues Mitglied weckt mit seiner Prahl- und Prügelsucht die Aufmerksamkeit Scotland Yards; die Überwachung wird immer dichter, allen droht nunmehr die Verhaftung wegen Desertion und/oder krimineller Machenschaften. Bestrebungen, sich der drohenden Festnahme zu entziehen, führen in immer lausigere Verstecke: erst das ungeheizte Landschloss des Baronets, dann den feuchtkalten Keller von Purcells Villa, endlich die Tube, in deren unterirdisches Gangsystem sich die nach einer Schießerei und einem Großbrand verbliebenen vier Flüchtigen verkriechen. Das Ende des Manuskripts, teilweise zerrissen und unentzifferbar, löst sich auf in „fragilen, freien Nebeln, die wie Tänzerinnen an der Oberfläche der Wasser vorbeiziehen“.


Céline 1960 (Bild: flickr)

„Londres“ ist ein Roman der Kälte und Nässe, der feuchtfrierenden Angst, die den Körper klamm werden lässt und den Geist in eisigen Dunst hüllt. Célines alles durchdringendem Pessimismus eignen hier noch die im neunzehnten Jahrhundert wurzelnde Schwärze und drastische Humorigkeit der frühen Romane „Voyage au bout de la nuit“ und „Mort à crédit“. In den Werken der Nachkriegszeit weichen diese dann der freudlosen Galligkeit autobiografischer Endlos-Jeremiaden, freilich gewandet in einen hochartifiziell mündlichen Stil, der wie Spitzen geklöppelt ist, und überhöht durch eine Metaphorik, die in „Londres“ gerade erst zu halluzinieren lernt. Ist es bloß ein Eindruck? Der erste der drei Teile, laut dem Herausgeber als einziger überarbeitet, wirkt ungleich dichter und prägnanter als die beiden anderen. So gewinnt ein matter Gesichtsausdruck hier dank der Charakterisierung „Übelkeit des Unendlichen“ schier plastisches Relief, und erwecken die Evokationen von Tanzschul-Direktorinnen oder Varietétheater-Pianisten – wie zahllose andere mehr beschwörende als beschreibende Passagen – ein subjektiv erlebtes und erzähltes London zum Leben: nicht in Sepia-, sondern in Regenbogenfarben.


Im Manuskript des ersten Teils von „Londres“ finden sich Seiten mit Nummerierungen wie „bis“, „ter“ usw., die darauf schließen lassen, dass der Autor hier einen ersten Wurf überarbeitet und erweitert hat. (Bild: collection succession Lucette Destouches)

„Guerre“ bot eine zugleich faszinierende und frustrierende Lesekost. Personen und Situationen darin tragen unverkennbar Célines Stempel, aber die erzählerische Ausarbeitung wirkt oft summarisch, die sprachliche ungelenk. Streckenweise liest sich das Werk wie eine holprig formulierte Synopsis. „Londres“ dagegen weist zwar offenkundige Schwächen auf: die Dialoglastigkeit der beiden letzten Teile; die pikareske Gesamtstruktur, die bloß Episode an Episode reiht; die ungenügende Distanz zu einem Naturalismus, der Inkonsistenzen des Plots umso augenscheinlicher macht. Aber das Werk zeigt klar einen Autor, der seine Sprache, seinen (frühen) Stil gefunden hat.


Rund zehn Jahre später verarbeitete Céline dann exakt denselben Stoff in einem neuen Roman. „Guignol’s Band“ (1944) ist weitaus gelungener als „Londres“, und das nicht nur, weil es sich im Gegensatz zu diesem ersten Wurf um eine ausgefeilte Endfassung handelt. Die unentbehrliche Publikation des ersten London-Romans in Gallimards Bibliothèque de la Pléiade wird dereinst nicht nur Fragen wie die nach seiner Entstehung, seinem Verhältnis zu „Guignol’s Band“ und den Gründen für seinen Verwurf beantworten müssen. Auch ein kritischer Apparat ist dringend vonnöten: Die vorliegende Paperback-Ausgabe hat kaum Fußnoten, das Verzeichnis der verwendeten Gaunersprache-Wörter und -Wendungen ist mangelhaft. Dabei heißt Céline verstehen zwingend auch, ständig zwischen Text und Glossar hin und her blättern. Dem Lesevergnügen tut dies keinen Abbruch.



Louis-Ferdinand Céline: Londres. Gallimard, Paris 2022. 558 S., Euro 24.-.

Einen Beitrag über "Guerre" finden Sie hier, einen weiteren über das Wiederauftauchen der acht Jahrzehnte lang verloren geglaubten Céline-Manuskripte hier.
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