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Ohne Phrasen noch Chichis

Aktualisiert: vor 3 Tagen

Der Starschauspieler Denis Podalydès blickt in einem delikaten, leuchtenden Buch auf seine über vier Jahrzehnte als Hausfreund der Familie von Pierre Bourdieu zurück

 


„L’Ami de la famille“ heißt das jüngste Buch von Denis Podalydès. Der Untertitel, „Souvenirs de Pierre Bourdieu“, benennt das Oberhaupt der Familie, deren „Hausfreund“ – so die deutsche Übersetzung des Haupttitels – der heute 62-jährige französische Schauspieler und Regisseur seit über vier Jahrzehnten ist. 1983 sympathisierte dieser in einer Pariser Eliteschule mit Emmanuel Bourdieu, dem mittleren der drei Söhne des schon damals berühmten Soziologen – und wurde in den Schoss von dessen Familie aufgenommen.


(Bild: PD)
(Bild: PD)

Das seinerzeitige Haus des Autors von „Die feinen Unterschiede“: Nicht der Elfenbeinturm eines vergeistigten Forschers, vielmehr ein lichter, warmer Ort des Lebens, wo Tennisschläger, Sporttrikots und -schuhe, Fuß-, Basket- und Rugbybälle herumlagen. In Paris, wohin die Bourdieus bald umzogen, spielte der junge Podalydès jahrelang mit Emmanuel, Laurent und Jérôme Tennis und Fußball. Und besuchte die Brüder oft in der elterlichen Wohnung, wie auch im baskischen Ferienhaus, wo er mehrere Sommer verbrachte. Marie-Claire Bourdieu hieß den Jüngling einmal ihren vierten Sohn; Podalydès selbst spricht von seiner „Wahlfamilie“ vor dem Hintergrund der Spannungen daheim, die bis hin zu Gewalt seitens des Vaters reichten. Bei den Bourdieus schien im Vergleich immer alles entspannt, doch nicht lax, kultiviert ohne Dünkel, harmonisch, dabei diskussionsfreudig – eine Sicht, die, wie der Autor zugibt, seinem bis heute verklärten Blick geschuldet sein mag.


Zu dieser Verklärung trug das Ansehen des Hausherrn bei. Diesen hatte der Hausfreund in Bernard Pivots seinerzeit sagenhaft einflussreicher Literatursendung „Apostrophes“ gesehen und ob seiner humorvollen Zugänglichkeit bewundert. Die erste persönliche Begegnung blieb ihm nicht im Gedächtnis haften, wohl aber ein im Lauf von zwei Jahrzehnten bestätigter Eindruck von zeitgleicher An- und Abwesenheit, von Schalk und scheuer Distanz, Offenheit und Empathie – vor allem aber von Widerwillen gegen jede Repräsentation, jegliches Posieren.


Mit dem Auge und Ohr des Schauspielers registrierte Podalydès bei zahlreichen Zusammentreffen Intonationen und Mienenspiele. Lesen wir, wie er einen nicht bierernsten Vorwurf des Paterfamilias an den Sohn Emmanuel erinnert, der sich in der väterlichen Bibliothek bedient hatte: „‘Hör mal, Schweinehund, hast Du mir das Buch von Rorty stibitzt?‘ Er gebrauchte den Begriff ‚Schweinehund‘ in einem persönlichen, stark abgemilderten Sinn, mit einem Lächeln und einer lässigen Zärtlichkeit in der Stimme, so dass das Wort, in hoher, singender Lage vorgebracht, nichts Beleidigendes oder Verletzendes hatte. Ich höre es enden und fortklingen in seiner Stimme, die in jenen Momenten des Frotzelns oder des geringfügigen Tadelns gleich einer subtilen Musik kurioserweise ins hohe Register ausgriff. Er schickte, mit unverändert leichter, fundamental friedfertiger Stimme, ohne jeden Akzent der Autorität oder die geringste Schroffheit, ein paar geläufige Sarkasmen nach, mit freudiger Opfermiene die Fahrlässigkeit, den Mangel an Respekt ihm selbst gegenüber bezeugend; und sein Gesicht erhellte ein großes Lächeln, das auf manchen Fotos zu sehen ist : Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, in den tiefschwarzen Pupillen blitzte jener Schalk auf, mit dem er die Kinder beschenkte, wenn er sie bei Tisch neckte. Auch ich erhielt meinen Teil davon, was mich entzückte und mit Wohlbehagen erfüllte.“


Bourdieu entwarf für Podalydès den Plan von dessen Magisterarbeit über Wittgenstein, nahm ihn später bei sich auf, als dieser infolge einer Ehekrise zeitweilig obdachlos war. Vor allem jedoch betraute er den zwischen Theater und Universität Schwankenden in einer Phase des Leerlaufs mit dem Verfassen zweier der Interviews des epochalen Sammelbands „La Misère du monde“. Eines davon führte Podalydès mit einer gescheiterten Schauspielerin – und spätestens hier mischt sich Selbstreflexives unter die Erinnerungen: Das Buch springt in die Metaebene der mise en abyme. Der Darsteller wirkte nämlich nicht nur 1993 an der ersten Dramatisierung von „Das Elend der Welt“ mit. Er las nicht nur 1994 vor seiner eigenen Inszenierung einer Komödie von Voltaire auf Bourdieus Bitte hin vor petrifiziertem Publikum eine lange Namensliste von Opfern des algerischen Bürgerkriegs vor. Er warf auch als zunehmend erfolgreicher Film- und Theaterdarsteller, als Truppenmitglied der Comédie-Française seit 1997 und heute als ein Stern am Himmel der Schauspielkunst einen genuin Bourdieu’schen Blick auf das eigene Fach.


So spielte er 2009 den Cavaliere aus Goldonis „Campiello“ als einen Feldforscher „mit Bourdieus Stimme“, entdeckte er Feldstrukturen (ein Schlüsselbegriff des Soziologen) in Inszenierungen von Peter Brook, Alain Françon, Jacques Lassalle, Thomas Ostermeier – und las umgekehrt „Die feinen Unterschiede“ als eine „Menschliche Komödie“ in spe, derweil er in „Das Elend der Welt“ ein Kaleidoskop von (Theater-)Figuren sah, mit einer „Treffsicherheit im Ton und einem Sensorium für Unausgesprochenes“ wie bei Tschechow und Goldoni.


„Sans phrase et sans chichi“ war der Wahlspruch der Bourdieus – und ist es, über den Tod des Familienoberhaupts 2002 hinaus, noch immer. Auf Wohlwollen, Zartgefühl, einer Art von keuscher Zurückhaltung begründete diese feinsinnige Familie eine fragile, vergängliche Welt (was würde Bourdieu, der schon vor drei Jahrzehnten die Entartung von Medien zu Propagandainstrumenten anprangerte, den Rechtsdrall der Gesellschaft und den Raubbau am Service public, über das Frankreich von CNews, von Marine Le Pen und der rekurrenten „Rettungspläne“ durch Personalabbau sagen?). Podalydès gelingt es in seinem delikaten, leuchtenden Buch, diese Welt gebührend zu ehren und zu feiern – mit erklärtermaßen verklärtem Blick, aber ohne Phrasen noch Chichis.

 



Denis Podalydès: L’Ami de la famille. Souvenirs de Pierre Bourdieu. Éditions Julliard, Paris 2025. 256 S., Euro 21.-.

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