Ruinen, Gebetshügel, Trümmersammlungen und Wälder für die Zukunft: Tsunami-Gedenkstätten in Japans Nordosten
Was ist ein Tsunami? Gemäß gängiger Vorstellung: eine Riesenwelle, die heranrollt, alles auf ihrem Wege niederwälzt und sich kurz darauf wieder zurückzieht. Doch diese Sicht fokussiert zu eng. Ein Tsunami ist eine Kette von Ereignissen und von Reaktionen auf diese, die sich oft über Jahre, ja Generationen hinweg erstreckt. Auslöser ist fast immer ein unterseeisches Erdbeben, das auch an Land bereits Schäden zeitigen kann. Die Zerstörungskraft der nach Minuten oder auch erst nach Stunden heranbrandenden Flutwelle hängt dann nicht nur von der Stärke des Bebens ab, sondern auch von der Nähe seines Hypozentrums zum Land, von der – natürlichen wie baulichen – Beschaffenheit der Küsten, nicht zuletzt vom Grad der Vorbereitung der betroffenen Bewohner. Einer ersten Welle folgen oft weitere, höhere nach: Der Meeresspiegel hebt sich in brutalen Schüben. Doch auch mit dem langsamen Rückzug der Fluten endet der Zerstörungsprozess nicht. Überlebende finden sich unter Trümmern eingeschlossen, Brände wüten in Siedlungen und Wäldern, im schlimmsten Fall erleidet auch noch eine Chemiefabrik oder gar ein Kernkraftwerk eine Havarie. Von den Langzeitfolgen ganz zu schweigen – dem Trauma der Hinterbliebenen von Todesopfern, der quälenden Langsamkeit des Wiederaufbaus.
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Das sogenannte Tōhoku-Erdbeben vom 11. März 2011 zeitigte den verheerendsten Tsunami in Japans an Naturkatastrophen nicht eben armer Geschichte. Die Flutwelle forderte 22 252 Todesopfer, noch mehr als jene, die durch das Meiji-Sanriku-Erdbeben von 1896 ausgelöst worden war. Diese kostete 21 959 Menschen das Leben (wie bei vielen historischen Ereignissen variieren die Opferzahlen je nach Quelle; im Folgenden werden die Angaben angeführt, die vor Ort in den Gedenkstätten zu „3.11“ zu finden sind, wie die Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Flutwelle und der Nuklearkatastrophe von Fukushima in Japan oft genannt wird). Beide Tsunamis trafen mit besonderer Wucht die Sanriku-Küste, die sich im Nordosten von Japans Hauptinsel über etwa dreihundert Kilometer erstreckt. Zahllose fjordartige Einbuchtungen potenzieren dort mit ihrer zunehmenden Verengung und Verflachung zum Landesinneren hin die Verwüstungskraft von Flutwellen. Südlichste Station unserer Erinnerungstour dieser Küste entlang war Minamisanriku, ein Fischerstädtchen, das beim letzten japanischen Zensus vor vier Jahren 12 225 Einwohner zählte.
Auch wer noch nie eines der Hunderte von Amateurvideos des Tsunamis gesehen hätte, erhielte beim Anblick der Ruine des örtlichen Katastrophenschutzzentrums einen in seiner plastischen Anschaulichkeit frappierenden Eindruck von der Wucht der Wellen. Im Gefolge des 5,5 Meter hohen Tsunamis, der zweiundzwanzig Stunden nach dem Großen-Chile-Erdbeben 1960 einundvierzig Bewohner von Minamisanriku das Leben gekostet hatte, errichtete die Stadtverwaltung nahe dem Rathaus einen dreistöckigen Bau, der mit Stromerzeuger, Überwachungsmonitoren und Notfall-Kommunikationsausrüstung ausgestattet war. 2011 riefen Mitglieder der Gemeinderegierung von hier aus gleich nach dem ersten, brutalsten Stoß des Bebens, der von 14 Uhr 46 an die Erde hundertsechzig endlos erscheinende Sekunden lang erschütterte, die Bewohner via Lautsprecher zur Evakuierung auf. Sie selbst zogen sich, nachdem Japans Wetteramt seine ursprüngliche Vorhersage einer Flutwellenhöhe von sechs Metern auf deren zehn revidiert hatte, in den obersten Stock zurück. Um 15 Uhr 25 rollte die erste Tsunami-Woge heran; acht Minuten später brandete eine 15,5 Meter hohe Monsterwelle über das wesentlich niedrigere Gebäude hinweg. Von den dreiundfünfzig Menschen, die aufs Dach geflohen waren, überlebten nur zehn, an Feuerleiter und Antennenmasten geklammert.
Das Beispiel dieses Katastrophenschutzzentrums wirft eine Kernfrage dieses Artikels auf: Warum starben ausgerechnet in jenem Land, das weltweit am besten auf Tsunamis vorbereitet sein sollte, derart viele Menschen im Gefolge von 3.11? Eine erste Antwort lautet: Weil die Flutwelle von 2011 jene von 1960, 1933 und selbst von 1896 vielerorts um das Zwei-, wo nicht gar Dreifache übertraf. Hatten diese in Minamisanriku eine Höhe von maximal sieben Metern erreicht, so türmte sich jene bis zu schwindelerregenden 23,9 Metern auf! Designierte Evakuierungsgebäude und -plätze wurden in vielen Küstenstädten schlichtweg überschwemmt – in Minamisanriku waren es nicht weniger als 34 von 78! Insgesamt verlor die Gemeinde an jenem Tag über achthundert Menschen, gut sechs Prozent ihrer damaligen Bevölkerung.
Die Ruine des Katastrophenschutzzentrums bildet heute das Herz eines sechs Hektar großen Parks. Ochsenblutrot angestrichen, ragt das ausgeweidete, durch die Wucht des Aufpralls grausam verkrüppelte Stahlskelett wie ein Mahnmal des ungelinderten Schmerzes gen Himmel. Bei unserem Besuch psalmodierten zwei junge Mönche vor einem Altar am Fuße des Metall-Mikados monotone Totengebete. Von dort aus führt ein Spaziergang durch den noch sehr proper-neuen Park über den „Rasen für Erzählungen über die Erdbebenkatastrophe“ und durch den „Wald für die Zukunft“ – derzeit noch eher eine schüchtern sprießende Baumschule – hinauf zum „Gebetshügel“. Dessen gewundener „Gedächtnispfad“ zum „Monument des Segens“ hin – einer steinernen Welle, die auf das jenseits der monumentalen neuen Deiche in trügerisch harmloser Unbeweglichkeit verharrende Meer hinausblickt – ist gesäumt von in den Asphalt eingelassenen Texttäfelchen mit einer Chronologie des Katastrophenhergangs.
Über ein Flüsschen führt eine elegant geschwungene Doppelstockbrücke für Fußgänger, die Kengo Kuma mithilfe von lokalem Zedernholz gebaut hat. Der Architekt von Tokios Nationalstadium ist in Europa unter anderem dank des Konservatoriums von Aix-en-Provence, der Cité des arts von Besançon und des V&A Dundee-Museums bekannt. Ein gutes Jahrzehnt lang war Kuma als Masterplaner am Wiederaufbau von Minamisanriku beteiligt. Selbst entworfen hat er neben der Brücke ein gegenüber dem Park gelegenes Einkaufszentrum sowie das benachbarte 311 Memorial. Dieser prismatische Bau beherbergt auf 1433 Quadratmetern Informationen und Archivmaterial über die Naturkatastrophe, ein Videotheater, in dem Besucher Überlebensberichten lauschen und über diese diskutieren können, sowie eine „Kunstzone“.
In letzterer findet sich neben harmoniesüchtigen Harmlosigkeiten einheimischer Künstler und einem an diesem Ort eher aufgesetzt wirkenden aschgrauen Gedenkraum von Christian Boltanski mit den bekannten Blechdosentürmen unter glimmenden Glühbirnen auch eine erfrischende Serie von Masashi Asada. In neunzehn elaborierten Schnappschüssen arrangiert der Fotograf da Stadtbewohner zu fantasievoll-vielgestaltigen Tableaus, die von Farbe, Energie und Lebenswille strotzen. Wenn man eines aus dem Memorial 311 mitnimmt, dann diesen unerwarteten Optimismus. Zuversicht in die Zukunft durchdringt auch die Zeugnisse in einem vor Ort ausgestrahlten Dokumentarfilm zum Wiederaufbau. Der Austernzüchter Goto Kiyohiro erzählt da zum Beispiel stolz, wie das 2016 für die lokalen Muscheln gewonnene Gütesiegel des Aquaculture Stewardship Council weit über die einschlägigen Kreise hinaus das Gemeinschaftsgefühl verstärkt habe. Derweil sich der Wakame-Farmer Takahashi Naoya über eine nie zuvor erfahrene Wertschätzung für seine Algen freut. Sein Fazit: „Wir haben viel verloren in dieser Katastrophe – aber noch mehr gewonnen!“
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Das Rias-Ark-Kunstmuseum im einen halbe Autostunde küstenaufwärts gelegenen Kesennuma stellt 3.11 noch dezidierter in einen doppelten, gesellschaftlichen und artistischen Kontext. Die 1994 eröffnete Institution illustrierte ursprünglich das Leben an der Sanriku-Küste mithilfe völkerkundlicher Exponate, die auf das Themenfeld „Nahrung“ fokussieren, und bot zugleich Künstlern aus Japans Norden (oder mit Beziehung zu diesem) eine Ausstellungsplattform. Zum ethnologischen und ästhetischen Standbein gesellt sich seit April 2013 ein drittes, dokumentarisches: Ein Parcours mit knapp fünfhundert Stücken zum Tsunami in einem eigenen Riesensaal.
In den zwei Jahren nach der Flutwelle nahmen Kuratoren des Rias-Ark-Kunstmuseums rund dreißigtausend Fotos zerstörter Siedlungen auf. Zweihundertdrei von diesen sind ausgestellt, versehen mit Legenden, die die physische und psychische Befindlichkeit des jeweiligen Betrachters zum Zeitpunkt der Aufnahme zu vermitteln suchen. Eine Bildunterschrift restituiert zum Beispiel Sinneseindrücke: „Ablagerungen von Trümmern, die das Gehen erschweren; hier und da steigt Rauch auf. Der Wind bläst gelegentlich und kräuselt die verzinkten Bleche der zerstörten Häuser. Ein Laut, den wir noch nie gehört haben, wie ‚Balalaan… Kalalaan‘, dringt aus allen Richtungen. Sonst nur das Rauschen eines Hubschraubers in der Luft. Mir fehlen die Worte.“
Daneben sind hundertfünfundfünfzig „Trümmer-Stücke“ zu sehen: Artefakte, die teils die zerstörerische Kraft des Tsunamis plastisch vor Augen führen, teils an das (Haushalts-)Leben erinnern, das die Katastrophe zunichte gemacht hat. Auch hier finden sich suggestive Legenden, die den einzelnen Gegenständen mögliche, aber erfundene „Biografien“ andichten. So erklärt die imaginäre Besitzerin eines verschlammten und verrosteten Exemplars des japanischsten aller Küchengeräte: „Ich fand den Reiskocher weit hinten im Bambushain unseres Hauses. Als ich ihn öffnete, war da nichts als ein Klumpen schwarzer Schlamm. Ich warf das Gerät weg – und unter dem Dreck trat weißer Reis zutage. Dieser sollte an jenem Tag unser Abendessen bilden. Als ich das sah, musste ich weinen.“
Historische Tiefe verleihen der Schau, die oft etwas irrlichternd Fremdes, ja Surrealistisches hat, hundertsiebenunddreißig Dokumente zu den Tsunamis von 1896, 1933 und 1960. Etwa dramatische Druckgrafiken von Menschen aller Alter, die eine Riesenwoge wegschwemmt. Oder Bilder lebloser Körper, die Fischer im Netz an den Strand ziehen. Das Museum, das den Tsunami erklärtermaßen in die lokale Kulturgeschichte einzuschreiben sucht, prangert mit Verweis auf die Zeit vor 1960 auch zwei Missstände an, die in den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders gründen: Die Sorglosigkeit, mit der viele Küstenbewohner frühere Flutwellen vergaßen; und die durch diese Unbekümmertheit erst möglich gemachte Gewinnung von Neuland durch Aufschüttung. Die dem Meer abgetrotzten Flächen wurden 2011 dann am schlimmsten verheert. 3.11 war, so das Fazit des Rias-Ark-Kunstmuseums, eine primär natürliche, aber maßgeblich auch menschengemachte Katastrophe.
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Mit noch viel landesuntypischerer Unverblümtheit listet das Tsunami-Memorialmuseum der Präfektur Iwate im eine weitere halbe Autostunde küstenaufwärts gelegenen Rikuzentakata auf Wandtafeln auf, was am 11. März 2011 alles fehlgegangen ist. Unter anderem mangelte es da an Notstrom und -treibstoff, wurden berufliche und freiwillige Retter (namentlich Feuerwehrleute) in großer Zahl selbst zu Opfern, versagten Evakuierungspläne, die auf vorangegangenen Tsunami-Erfahrungen basierten, mangelte es an alternativen lokalen Entscheidungsträgern für den – leider eingetretenen – Fall, dass der Bürgermeister und Teile des Gemeinderats ums Leben kamen, gab es auf der übergeordneten Ebene keine Koordinierung zwischen den Hauptquartieren der Präfekturen und den regionalen Antennen, und tauschten die diversen für die Suche nach und für die Identifizierung von Leichen zuständigen Amtsstellen keine Informationen aus.
Keine Entschuldigung, wohl aber eine Erklärung für die vielen Versagen der Behörden bildet das selbst für japanische Verhältnisse fast präzedenzlose Ausmaß der Katastrophe. Ausgelöst wurde der Tsunami durch ein Beben, das mit einer Stärke von 9,1 auf der Momenten-Magnituden-Skala das viertstärkste jemals in der Welt gemessene war (wobei festzuhalten ist, dass die Stärke einer Erschütterung des Erdkörpers nicht mit seiner Intensität korreliert ist, der Schwere seiner Auswirkungen: Das Große Kantō-Erdbeben von 1923 zeitigte mit einer Magnitude von „lediglich“ 7,9 – auch infolge der Stadtbrände, die es auslöste – über 105 000 Todesopfer und materielle Schäden in Höhe von vier Jahresbudgets des japanischen Staats). Das Hypozentrum des Tōhoku-Bebens war riesig: Es maß, parallel zu den nordöstlichen Küsten-Präfekturen Ibaraki, Fukushima, Miyagi und Iwate, vierhundert Kilometer in der Länge und, pazifikeinwärts, zweihundert Kilometer in der Tiefe. Zweiundsechzig Gemeinden wurden auf einer Gesamtfläche von 561 Quadratkilometern überschwemmt, fünf von ihnen standen zu über achtzig Prozent unter Wasser. Durch die Flutwelle wurden 122 000 Gebäude ganz und 283 000 partiell zerstört. Erschütternd die Statistiken über die Todesopfer. Zwei Drittel von ihnen waren mindestens sechzig Jahre alt, Behinderte stark überrepräsentiert. Während die Mehrzahl – wie bei einer Flutwelle zu erwarten – ertrank, wurden vier Prozent „erdrückt“ und „verbrannte“ ein weiteres Prozent (beide Todesarten malt man sich lieber nicht konkret aus). Endlich mussten 470 000 Menschen in bis zu 2456 Notunterkünften untergebracht werden – wo 50 000 von ihnen noch nach acht Jahren lebten.
Anhand von Fallbeispielen warnt das Tsunami-Memorialmuseum der Präfektur Iwate vor Irrvorstellungen und Fehlverhalten. Das Meer weicht, bevor ein Tsunami heranrollt, nicht immer zurück; die erste Welle ist selten die höchste. Auf vergangene Erfahrungen sollte man nicht bauen: Eine 86-Jährige in einem Nachbarstädtchen von Rikuzentakata, die die Tsunamis von 1933 und 1960 überlebt hatte, verlor bei jenem von 2011 das Leben, weil sie sich – wie seinerzeit – im dritten Stock ihres Stahlbetonhauses sicher wähnte. Laut einer Umfrage vom Juli 2011 machte sich sofort nach dem Beben nur etwas mehr als die Hälfte der Betroffenen zu höherem Grund auf. Bei 3.11 griff weitherum der sogenannte normalcy bias, eine auch als „negative Panik“ bekannte kognitive Verzerrung, die die Bedrohlichkeit einer Notsituation herunterspielt und wähnt, es werde schon alles gutgehen.
Umgekehrt hebt die Schau das Vorbild des Städtchens Hirono heraus, wo keiner der seinerzeit knapp 20 000 Bewohner ums Leben kam. Zu verdanken war dieses „Wunder“ nicht in erster Linie dem hohen Damm – einen solchen besaßen auch andere Orte –, sondern einer breiten Palette laufender Sensibilisierungsmaßnahmen. So wurde der vielerorts am Morgen des 3. März – dem Jahrestag der Flutwelle von 1933 – abgehaltene jährliche Tsunami-Drill in Hirono auf einen Sonntag verlegt, um mehr Werktätigen die Teilnahme zu ermöglichen. Seit 2008 führten überdies Freiwilligenverbände in jedem Viertel des Städtchens Aktionen aus, die nicht bloß theoretisch, sondern ganz konkret auf den Ernstfall vorbereiteten. Beispielweise Unkrautjäten oder Schneeschaufeln auf den Evakuierungspfaden die Berge hinauf, um diese Fluchtwege nicht nur zu jeder Jahreszeit begehbar zu halten, sondern auch und zuvörderst um möglichst viele Bewohner mit ihrer Lage vertraut zu machen.
Das 2019 eröffnete Museum ist in einem langgezogenen Flachbau untergebracht, der sich in die sanfte Hügellandschaft zwischen Meer und Bergen einschmiegt. Bei schönem Wetter verstrahlt der weitläufige Park mit seinen beiden Flüsschen, deren einer in einen Sumpf mündet, eine bukolische, friedvolle Stimmung. Vor der Aussichtsplattform auf dem neuen Deich kräuselt sich das saphirblaue Meer in einer lauen Brise; in der Ferne zeitigt nachmittäglicher Nebel einen Sfumato-Effekt. Doch an vier verschiedenen Orten in der Grünanlage erinnern Ruinen an die Katastrophe, die 1761 Einwohner das Leben kostete und über fünfzig Prozent der Gemeindefläche überflutete. So die Überreste der Mittelschule, die evakuiert werden konnte, bevor Welle um Welle über ihr Dach hinwegspülte. Oder ein mächtiger Wohngebäuderiegel, dessen Balkone und Fensterrahmen bis zum fünften Stock hinauf zerschmettert sind. Am stärksten frappiert indes die völlig verrenkte und aus den Fundamenten gerissene frühere Jugendherberge, die im März 2011 zum Glück leer stand. Diesen Bau umgaben einst 70 000 Pinien, die im neunzehnten Jahrhundert zum Schutz vor Wind und – eben! – Wellen gepflanzt worden waren. Das pittoreske, weitherum bekannte Wäldchen hatte den Tsunamis von 1896, 1933 und 1960 getrotzt – doch 3.11 legte sämtliche Bäume um. Bis auf einen: die sogenannte Wunderpinie. Zwar starb der 173-jährige Riese dann im Folgejahr an einer Überdosis Salzwasser. Doch sein „einbalsamierter“ Stamm, den eine Replik des einstigen Wipfels krönt, versinnbildlicht bis heute den Geist des Widerstands.
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Diesen verkörpern auch zwei Frauen aus Kamaishi und Umkreis, eine knappe Autostunde weiter küstenaufwärts. Akiko Iwasaki besitzt und betreibt in dem 32 000-Seelen-Städtchen das gepflegte Gasthaus Horaikan. Es liegt etwas abseits an einem idyllischen Sandsträndchen mit Pinien und Riedgras – und ohne den Mammut-Deich, der überall sonst die Sicht aufs Meer verstellt. Im Anschluss an das Nachtmahl, bei dem neben Fischen und Krustentieren auch die lokalen, milchig-fleischigen Austern begeistern, lädt Iwasaki Interessierte zu einem Vortrag mit Bild- und Videoprojektionen ein. Sie erzählt, wie die Welle sie 2011 bei der Flucht bergaufwärts erfasste und unter ein Boot zog, sie sich jedoch freischwimmen und auf einen Hügel retten konnte. Energischer noch als zuvor lebt die 67-jährige seither ihren Leitspruch „Carpe diem“. So hat sie zur Revitalisierung ihres Gemeinwesens beigetragen mit der Teilnahme an erfolgreichen Kampagnen für die Aufnahme von Kamaishis Eisenbergwerk und -hütte auf die Unesco-Welterbeliste oder für den Bau des Stadions, das auf Englisch den sprechenden Namen „Recovery Memorial Stadium“ trägt – einer der Austragungsorte der Rugby-WM 2019.
Iwasakis Motto „Morgen scheint die Sonne über dem Horizont“ teilt Mio Kamitani. Die 48-jährige, die nach Jahren in den USA akzentfrei Englisch spricht, bietet als Mitglied der Vereinigung Oraga Otsuchi Yume Hiroba Tsunami-Touren durch Otsuchi an. Sie begrüßt uns in der neuen Stadthalle vor einem Modell des Städtchens im Maßstab 1:500. Eine Hervorbringung des Projekts „Verlorene Heime“, das die Erinnerung an das frühere Stadtbild Dutzender durch die Flutwelle entstellter Gemeinden wachhält. Der Unterschied zur Jetztzeit sticht beim Spaziergang durch den Ortskern ins Auge. Erstens versperrt nunmehr ein neuer Deich, der mit 14,5 Metern zweieinhalbmal so hoch ist wie der alte, die Sicht auf den Ozean. Derlei monströse Schutzdämme, die in ihrer Maßstablosigkeit Klaustrophobie erzeugen können, findet man heute entlang der gesamten Sanriku-Küste – die nach 2011 errichtete „große Mauer von Japan“ ist insgesamt über vierhundert Kilometer lang und im Durchschnitt dreizehn Meter hoch. Zweitens wurde der weitläufige Teil der Stadt, der zwischen Deich und Bahngleisen liegt, für Wohnhäuser gesperrt und weist entsprechend nur noch spärlich Bauten auf. Und drittens ist die Baudichte heute generell viel niedriger als einst: Selbst im Zentrum stehen viele Parzellen leer, weil ihre Besitzer der Wiederaufbau an diesem Ort zu riskant dünkte – sie sind in die Hügel hinauf gezogen oder ganz weg. Was indes neu gebaut wurde, wirkt nicht wie aus der Retorte, sondern durchaus individuell – und vor allem sehr proper. „Keines der Wohnhäuser ist älter als fünf Jahre“, erklärt Kamitani. „Die ersten sieben Jahre nach 3.11 wurden damit verbracht, den Boden zu entgiften und um zwei bis fünfzehn Meter aufzuschütten – durch Abtragen der umgebenden Berge!“
Auch unweit der Stadthalle findet sich ein großes unbebautes Grundstück. Lediglich ein hölzernes Gebetshäuschen steht darauf, kaum mehr als ein zum Freien hin offener Unterstand. Im Innern findet man Statuetten von Heiligen diverser Religionen sowie schlichte Gaben wie Getränkefläschchen oder Schnittblumen in Gießkannen. Hier gedenken Bewohner des früheren Bürgermeisters sowie der vierzig Mitglieder der Gemeindeverwaltung, die 2011 im einst an dieser Stelle gelegenen Rathaus den Tod fanden. Nachdem der Wetterdienst zunächst nur eine drei Meter hohe Welle angekündigt hatte, fühlten sie sich hinter dem alten, 6,4 Meter hohen Damm sicher. Andere Stadtkinder blieben im Verkehrsstau stecken; Dritte stiegen kurz vor oder kurz nach der ersten Welle aus sicherer Höhe wieder in die Stadt hinab, um sich wärmere Kleidung zu holen oder um nach jemandem zu suchen. Insgesamt verlor Otsuchi an jenem Tag fast jeden zehnten Bewohner: 1286 Menschen! Unter ihnen der Vater von Kamitanis späterem Mann. Dieser fand die sterblichen Überreste des Vermissten erst nach wochenlangem täglichem Durchforsten aller Leichenhallen im näheren Umkreis. „Ich hatte hunderte von Leichensäcken geöffnet“, erinnerte sich Takuya Ueno in einem Text, der unter dem Titel „Takuya’s Story“ online zu finden ist.
Über vierhundert Körper, ein enormer Prozentsatz, sind bis heute verschollen. Was die Trauerarbeit der Hinterbliebenen qualvoll erschwert: „Waren sie endlich dazu gezwungen, einen Totenschein einzureichen, weil verwaltungstechnisch sonst vieles nicht möglich ist“, erklärt Kamitani, „so nagte an ihnen ein Gefühl schwerer Schuld, als hätten sie die betreffende Person selbst getötet.“ Manche versanken in Verzweiflung, verfielen dem Alkohol, litten (und leiden bis heute) an posttraumatischer Belastungsstörung.
Doch bei allen Problemen – zu denen auch japanische Grundübel wie Landflucht und Überalterung zählen – zeigt sich Otsuchi resilient. Viele Bewohner sind zurückgekehrt, haben neue Häuser gebaut, setzen sich für ihr Gemeinwesen ein. Kamitani, die als gebürtige Großstädterin ursprünglich nur für ein paar Monate in das Dorf gekommen war, um humanitäre Hilfe zu leisten, fand dort ihren Gatten und ein neues Heim. Ihrem heute achtjährigen Sohn bläut sie das Gebot des tsunami-tendenko ein. „Tendenko“ meint im regionalen Dialekt „jeder für sich“. „Ich sage ihm ständig: Denk nicht an die anderen Familienmitglieder! Wir kommen nicht, um dich zu holen. Bring dich selbst in Sicherheit – dann finden wir später alle wieder wohlbehalten zusammen“. Tsunami-tendenko stößt da an die Grenzen des menschlich Machbaren und/oder Ertragbaren, wo eine bettlägerige Großmutter oder auch „bloß“ ein eingeschlossenes Haustier in die Gleichung einbezogen werden muss. Aber die Losung macht Sinn, wenn das oberste Ziel darin besteht, die Opferzahl so gering wie möglich zu halten. Viel zu viele Menschen wurden 2011 von der Welle erfasst, weil sie sich auf dem Weg befanden, um andere zu retten – die ihrerseits womöglich schon in Sicherheit waren.
Unsere Tour endet spätnachmittags am etwas abseits gelegenen Fischerhafen. Der einzige Ort in der ganzen Stadt, wo nicht ein gigantischer Wall den Blick aufs Meer verstellt. Keine Menschenseele zwischen den pittoresken Bötchen mit handschriftlichen japanischen Schriftzeichen. Lachs und Tintenfisch hat man vor Ort schon seit Jahren nicht mehr gefangen, die Industrie ist im Niedergang. Schuld ist wohl der Klimawandel. Über den begrünten Hügeln in der Ferne wirft der Abendnebel einen matten, silberblauen Schein auf die Wogen. Fast eine skandinavische Fjordidylle – wäre da nicht der ferne, fremde Hall von Klaviermusik aus Kamaishi: Dreimal täglich testet man dort die Lautsprecheranlagen, wie in vielen Küstenorten. Und der urjapanische Anblick eines Inselchens mit Leuchtturm, Torii und Shintō-Schrein. Turm, Tor und Tempel zerstörte seinerzeit der Tsunami, aber die Statue der von Fischern verehrten Göttin Benten-sama saß nach dem Rückzug der Wassermassen noch an ihrem Platz. „Das gab den Bewohnern von Otsuchi Hoffnung“, beschließt Kamitani unseren Rundgang. „Sie erwirkten von der Präfektur die Instandsetzung des schmalen, langen Fußwegs zur Insel – und ließen zwei Jahre nach der Katastrophe das alttradierte Festival zu Ehren der Göttin wiederaufleben. Das markierte die Neugeburt des Gemeinwesens.“
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