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Wenn ein Aggressor einen anderen verteidigt

Gérard Depardieu wurde im Mai nicht nur wegen sexueller Übergriffe verurteilt, sondern auch, weil sein Anwalt im Gerichtssaal die beiden Opfer malträtiert hat. Seitdem diskutiert Frankreich über sekundäre Viktimisierung.

 


Bei dem Pariser Strafprozess, der im Mai mit Gérard Depardieus Verurteilung zu achtzehn Monaten Haft auf Bewährung wegen sexueller Übergriffe endete, wurden die beiden Opfer sowie deren Anwältinnen malträtiert. Jérémie Assous, der Verteidiger des 76-jährigen Starschauspielers, nannte die Klägerinnen käufliche, hasserfüllte Lügnerinnen. Er entstellte gern ihre Nachnamen, äffte ihre Aussagen mit schriller Stimme nach und erging sich in ironisch-ätzenden Spitzen wie: „Sie ist eine Heilige, ein Opfer, sie muss geschont werden“, „sie ist gefallsüchtig, sehen sie nur, wie sie sich auf den Fernsehpodien produziert“ oder: „es mag ja sein, dass sie nicht ‚Le Monde‘ liest, weil das zu anspruchsvoll ist, aber dann sollte sie wenigstens ‚Closer‘ lesen!“. Die Verteidigerinnen ihrerseits nannte Assous gern süffisant „werte Freundin“ oder „meine glänzende Anwältin“, so er nicht eine „unerträgliche Stimme“ oder ein „hysterisches Lachen“ geißelte beziehungsweise brutal beschied: „Sie sind widerlich“.


Gérard Depardieu und sein Anwalt im März 2025 im Pariser Strafgerichtshof (Bild: flickr)
Gérard Depardieu und sein Anwalt im März 2025 im Pariser Strafgerichtshof (Bild: flickr)

Dass die Klägerinnen malträtiert wurden, befanden gleich nach dem Ende der Verhandlungen Ende März rund zweihundert Anwältinnen und Anwälte. In einem durch „Le Monde“ veröffentlichten offenen Brief beklagten sie, die Verteidigung habe sich „nach Herzenslust in Sexismus und Frauenfeindlichkeit ergangen“. Das Recht sprechen impliziere „formal, legal, verfassungsmäßig, Frauen als Frauen zu respektieren, umso mehr, wenn diese in Gestalt von Anwältinnen an der Verhandlung teilnehmen“. Doch auch das Pariser Strafgericht konstatierte die Misshandlung der Opfer durch Depardieus Anwalt – und verurteilte den Star und Schänder zur Zahlung von je tausend Euro an beide. Seitdem läuft in Frankreich eine Diskussion über den Strafbestand der „victimisation secondaire“.


Sekundäre Viktimisierung wurde schon in den 1980er Jahren in Nordamerika konzeptualisiert, ist in Europa – und erst recht in Frankreich – aber noch recht neu. Der Ausdruck meint die „zweite Verletzung“, welche Opfer sexueller Übergriffe dadurch erleiden, dass Vertreter der Ordnungsgewalt, des Justizwesens oder der Medizin, statt zu helfen, sich unangemessen bis kontraproduktiv verhalten und solcherart die Scham, ja den Selbsthass der Traumatisierten verstärken. Von einem französischen Gericht wurde dieses Verhalten jetzt zum ersten Mal explizit belangt. Der Europäische Menschengerichtshof hat seinerseits schon seit 2015 Slowenien, Portugal, Italien, die Türkei, Zypern und – jüngst im April, für drei andere Fälle als das Verfahren gegen Depardieu – Frankreich wegen sekundärer Viktimisierung verurteilt.


Die französischen Diskussionen kreisen um drei Fragen. Erstens: Beschneidet die Möglichkeit einer Sanktion die Rechte der Verteidigung? Seit der Aufhebung des sogenannten Audienzdelikts 1982 verfügen Anwälte in Frankreich über uneingeschränkte Redefreiheit. Doch diese Freiheit, schrieb das Pariser Strafgericht in seinem Urteil, legitimiere nicht Äußerungen, die zu verletzen, zu demütigen, ja einzuschüchtern trachteten. Jérémie Assous hatte schon zuvor auf den offenen Brief seiner zweihundert Kolleginnen und Kollegen mit einer langen Apologie des kontradiktorischen Charakters des Gerichtsverfahrens geantwortet. Dieses sei keine „Sühnezeremonie“, sondern eine „Probe der Wahrheit“ – Letztere offenbare sich, nachdem sie „in Gefahr gebracht, bedrängt, malträtiert“ worden sei. Formal brillant, vergaß diese Verteidigung des Verteidigers indes vor lauter hehren Grundsätzlichkeiten, auf die beschuldigten Besonderheiten von Assous‘ Berufsausübung einzugehen.


Zweitens: Ist es gerecht, dass für eine sekundäre Viktimisierung, die der Anwalt verschuldet hat, der Angeklagte büßen muss? Im vorliegenden Fall zeigte sich Depardieu sehr zufrieden mit seinem Rechtsbeistand – „ein Aggressor, den ein anderer Aggressor verteidigt“, wie eine Anwältin der Anklage über das Zweigespann ätzte. Was jedoch, wenn sich eines Tages ein Angeklagter von den Äußerungen seines Verteidigers distanziert, für welche er verurteilt wurde?


Drittens und endlich: Warum hat der Gerichtspräsident kein einziges Mal mäßigend oder mahnend eingegriffen – nach dem Verfahren dann aber das Gebaren von Assous sanktioniert? Berufene Kommentatoren vermuten, dass die Antwort weniger im Temperament des betreffenden Richters gründet denn in der Beschaffenheit des Systems. Frankreichs Justizapparat ist derart überlastet, dass Gerichtspräsidenten sich kein Sandkorn im Getriebe der rostigen Riesenmaschine leisten können. Eine Unterbrechung der Verhandlung, eine Anrufung des Präsidenten der Anwaltskammer, gar eine Klage wegen Beschneidung der Rechte der Verteidigung, wegen Parteilichkeit des Richters – das alles könnte zu einer Verlängerung, einer Vertagung, wo nicht gar zum Abbruch des Verfahrens führen. Was das System womöglich mehr fürchtet als eine sekundäre Viktimisierung des schwächsten Glieds der gerichtlichen Kette – eben: des Opfers.

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