Je suis Aboubakar
- marczitzmann
- vor 20 Stunden
- 4 Min. Lesezeit
Nach dem Mord an einem Muslim streitet Frankreich über Islamophobie
Am 25. April wurde in dem 5000-Seelen-Städtchen La Grand-Combe 60 Kilometer nordwestlich von Nîmes ein junger Mann durch einen anderen ermordet. Ersterer war ein illegaler Einwanderer aus Mali, Letzterer ein Franzose mit bosnischen Wurzeln. Ersterer war dabei, dem ihm unbekannten Moscheebesucher die Gesten des muslimischen Gebets zu zeigen, als Letzterer, auf dem Papier ein Christ, 57. Mal mit dem Messer auf ihn einstach. Dann filmte er sein sterbendes Opfer und stellte das Video mit den Worten „Ich hab’s getan. Dein Scheiß-Allah!“ in die asozialen Medien.

Seitdem streitet Frankreich über Islamophobie. Gründete die Tat in Hass auf Muslime? Die zitierten Äußerungen legen es nahe. Doch frohlockte der Täter auch, man werde ihn einen Serienmörder heißen. Und hatte er zuvor im Netz morbide Fantasien von vergewaltigten Frauen, von Morden und nekrophilen Akten verbreitet. Hätte er ebenso gut irgendwen attackieren können? Das gegen ihn eingeleitete Verfahren lautet auf „Mord aus ethnischen oder religiösen Gründen“, ein allfälliger terroristischer Beweggrund wurde nicht berücksichtigt. Mit Spekulationen über Motive sollte man sich zurückhalten, solang man nichts Genaueres weiß. Die beleidigende Erwähnung des Gotts der Muslime bildet aber auf jeden Fall einen erschwerenden Umstand.
Nach der Entdeckung des Leichnams dauerte es dreißig Stunden, bis der Justizminister einen „schändlichen Mord“ geißelte. Der Premierminister wurde kurz darauf deutlicher und sprach von „islamophober Verwerflichkeit“. Der Präsident seinerseits brauchte noch einen vollen Tag länger, bis er sich zum Fall äußerte – bei der mörderischen Attacke mit einem Rammbockfahrzeug in Vancouver reagierte Emmanuel Macron am 27. April ungleich rascher. Doch am stoßendsten war das schier ostentative Desinteresse des Innenministers, der qua seiner Zuständigkeit für Kultus in vorderster Reihe hätte stehen müssen. Bruno Retailleau, der neue Präsident der Rechtspartei Les Républicains, der sich mit antimuslimischen Breitseiten erfolgreich als eherner Republikaner profiliert hat, sprach mit einem verräterischen Lapsus von einem „antiislamistischen Anschlag“, entstellte im Fernsehen Aboubakar Cissés Namen, nannte das Opfer zumeist bloß „das Individuum“, traf sich nicht mit dessen Familie, nahm nicht am Gedenkmarsch in La Grand-Combe teil und besuchte statt der dortigen Moschee, die er trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht bewachen ließ, obwohl der Täter drei Tage lang auf der Flucht war, erst nach 48 Stunden die 10 Kilometer entfernt gelegene Unterpräfektur. NGO ziehen Retailleaus „betäubende Stille“ (SOS Racisme) einen „schweren Fehler“ (Französische Liga für Menschenrechte).
Denn die Islamophobie im Lande nimmt stetig zu. Auf offizielle Zahlen ist hier kein Verlass. Das Innenministerium verzeichnet für das vergangene Jahr 173 „antimuslimische Übergriffe“. Doch aufgrund des schlechten Rufs der Polizei bei Muslimen verzichten die meisten Opfer darauf, Anzeige zu erstatten. Auch trennen die Statistiken religiöse und rassistische Übergriffe, Attacken gegen Muslime und solche gegen Araber – eine Unterscheidung, die im Kopf vieler Angreifer kaum existieren dürfte, die die betreffende Statistik aber zwangsläufig minimiert. Das Brüsseler Collectif contre l’islamophobie en Europe hat seinerseits im vergangenen Jahr 1037 Angriffe auf Muslime in Frankreich registriert, ein Viertel mehr als 2023. Bis 2020 war diese von der betreffenden Gemeinschaft anerkannte NGO unter anderem Namen in Frankreich tätig, doch nach ihrer Zwangsauflösung durch die Behörden musste sie sich in Belgien neu aufstellen. Grund für diese Massnahme war die angebliche Nähe zur Muslimbrüderschaft.
Der Kampf gegen die „Brüder“ und ganz allgemein gegen alle Strenggläubigen, die laut offizieller Lesart „Separatismus“ und „Entrismus“ betreiben, ja im Namen einer „geheimen Agenda“ „Wühlarbeit“ leisten, ist das Steckenpferd der stramm Rechten, die in Frankreichs Regierung zunehmend das Sagen haben. So richtig und wichtig es ist, Islamisten zu bekämpfen, die Gesetze brechen, wo nicht gar Gewalttaten begehen, so ungerecht und letztlich unrepublikanisch ist der Generalverdacht, unter den Anhänger des Islams gestellt werden. Vom Schleierverbot in Schule und öffentlichem Dienst, für das es gute Argumente gibt, bewegt sich Frankreich nunmehr langsam, aber sicher in Richtung eines Banns im öffentlichen Raum. Der Innenminister sieht im Schleier nichts weniger als das „Banner des Islamismus“ – er will das Stück Stoff explizit für Sportlerinnen verbieten, für Studentinnen in höheren Bildungsanstalten und für Mütter, die Kinder bei Schulausflügen begleiten. „Nieder mit dem Schleier!“ lautet, ganz wörtlich, Retailleaus Kampfruf.
Auch die Aufkündigung der Verträge, die den Staat an muslimische Schulen binden, ist Teil dieses breit angelegten Vorstoßes. Nach dem Lycée Averroès in Lille 2023 war Anfang dieses Jahrs das Etablissement Al-Kindi bei Lyon von einer solchen Maßnahme betroffen. Reportagen, etwa von „Mediapart“, legen nahe, dass bei Kontrollen forciert nach „Fehlern“ gesucht wurde. Stichhaltig fündig wurden die Behörden dabei nicht: Im April hat ein Verwaltungsgericht die Auflösung des Vertrags mit dem Lycée Averroès annulliert und dabei betont, es gäbe keine schweren Verfehlungen, die eine solche Aufkündigung gerechtfertigt hätten. Al-Kindi war die letzte muslimische Schule im ganzen Lande – gegen 7000 katholische Lehranstalten. Eine davon ist das prestigeträchtige Pariser Lycée Stanislas, das letztes Jahr wegen entwürdigender Unterrichtsmethoden und wegen Fällen von Sexismus und von Homophobie Schlagzeilen gemacht hat. Von einem Rückzug des Staats war da nie die Rede. Klagen Frankreichs Muslime über Doppelmoral, können sie auf Fälle wie diesen verweisen.
Wie auch auf die unsägliche Diskussion über den Begriff „Islamophobie“. Fehlgeleitete Politiker, die ein irriges Verständnis von Laizismus antreibt, wie der ehemalige Premierminister und gegenwärtige Minister für Übersee, Manuel Valls, und reaktionäre Essayisten wie Caroline Fourest und Pascal Bruckner behaupten, das Wort sei Ende der 1980er Jahre durch Irans Mullahs erfunden worden, um den angeblich gotteslästerlichen Schriftsteller Salman Rushdie mundtot zu machen. Eine glatte, oft widerlegte Lüge: Wissenschaftler haben klar belegt, dass der Begriff seit 1910 westliche Vorurteile gegen Muslime bezeichnet. Dennoch halten noch heute viele – beileibe nicht nur im rechten Lager – dafür, das Wort „Islamophobie“ sei eine „Falle“ von Islamisten, um jede Kritik am muslimischen Glauben zu disqualifizieren.
Ob des müßigen Diskutierens über den Begriff verliert man dabei aus dem Auge, was dieser benennt: Die zahllosen Arten von Ausgrenzung, von Verfolgung und von verbaler, wo nicht gar physischer Gewalt, die dazu führen, dass immer mehr Muslime – wie im Übrigen auch Juden – sich im Lande nicht mehr sicher fühlen. Entsprechend häufen sich die Zeugnisse von Angstzuständen und von Depression, von innerer und äußerer Emigration.
Islamophobie ist eine Form von Rassismus. “Stammfranzosen“ mobilisieren den Hass auf Muslime, um „Konkurrenten“ niederzuhalten, die sozial immer öfter aufsteigen. Politikern dient die Stigmatisierung von Sündenböcken als eine wohlfeile Ablenkung von der Austeritätspolitik und von ihrem gebrochenen Versprechen, eine gerechte Umverteilung zu gewährleisten.
Comments