Wie Agenten des illiberalen Autoritarismus ihre progressiven Gegner mundtot machen wollen – eine Streitschrift von Éric Fassin
„Antisemitismus von links“ – ein Begriff, der im öffentlichen Diskurs seit längerem Konjunktur hat. Was aber, wenn seine Verwendung oft einen anderen Zweck hätte, als den – realen und durch nichts zu entschuldigenden – Judenhass mancher Vertreter des linken Lagers anzuprangern? Der französische Soziologe Éric Fassin stellt in einer Streitschrift mit dem etwas unscharfen Titel „Elend des Antiintellektualismus“ die These auf, der Antisemitismusvorwurf ziele häufig darauf ab, kritische Denker, progressive Geister, Empörte gegen die bestehende Ordnung mundtot zu machen.
Wer erhebt diese Anklage mit besagter Absicht? Zunächst und zuvörderst staatliche Agenten des illiberalen Autoritarismus, der weltweit auf dem Vormarsch ist, schreibt der Professor für politische Wissenschaften an der Universität Paris-VIII. Fassin streicht hier Emmanuel Macrons „illiberale Wende“ heraus, kaum war der laut Selbstvermarktung „weder rechte noch linke“ ehemalige Investmentbanker 2017 erstmals ins höchste Staatsamt gewählt worden: Jagd auf Migranten, autoritäre Verwaltung der Problembanlieues, Repression der Gelbwesten und der Demonstranten gegen Polizeigewalt oder wider die Rentenreform.
Aus allen Rohren feuerten der Präsident und seine Gefolgsleute den Antisemitismusvorwurf ab, als es am 12. März dieses Jahres bei der Besetzung eines Hörsaals der Pariser Elitekaderschmiede Sciences Po durch propalästinensische Studenten zu einem Eklat kam. Laut der Union des étudiants juifs de France wurde da einer jüdischen Studentin der Zutritt zu besagtem Auditorium verwehrt mit den Worten „lasst sie nicht rein, sie ist eine Zionistin“. Das Problem: Die Betroffene selbst hat diesen Satz nicht gehört, ebenso wenig wie zahlreiche Anwesende, von denen Dutzende ebenfalls jüdischen Glaubens sind – der Vorfall ist bis heute weder bestätigt noch widerlegt. Was Macron nicht daran hinderte, den höheren Ausbildungsstätten (im Plural) sogleich „Separatismus“ vorzuwerfen – bereits 2020 hatte er sie für schuldig erklärt, „die Republik auseinanderzureißen“. Eine Ministerin präzisierte: Was vorgefallen sei, trage den Namen „Antisemitismus“. Der damalige Premierminister lud sich gar zu einer Verwaltungsratssitzung ein und deutete unverhohlen an, der Staat könnte die Kontrolle über das autonome Etablissement übernehmen.
Dies laut Fassin der eigentliche Grund für den geballten Vorstoß: Die höheren Lehranstalten zu maßregeln. Der Antisemitismusvorwurf, im vorliegenden Fall ebenso schwach begründet wie lautstark formuliert, verbirgt dabei das eigentliche Ziel: Während die Gleichschaltung durch Agenten des illiberalen Autoritarismus in Frankreichs Medien- und Verlagssektor rüstig voranschreitet, versperren sich die – auf dem Papier autonomen – höheren Bildungsstätten bis jetzt einer solchen Einflussnahme. Als Horte der Aufklärung, des Progressismus, der republikanischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (sprich: Selbstbestimmung, Antirassismus und Solidarität) sind sie den Gegnern der sogenannten Wokeness ein Dorn im Auge. Unter ihnen auch Macrons ehemaliger Bildungsminister Jean-Michel Blanquer, ein Kreuzritter wider Forschungsfelder wie Intersektionalität (Offenlegung der Überkreuzungen von Diskriminierungsformen), Genderstudies (Hinterfragung der Geschlechterrollen, -hierarchien und -stereotypen) und Critical Race Theory (Entlarvung des strukturellen, systemischen Rassismus‘). Laut Blanquer allesamt Importe aus Übersee – als grassierten nicht auch diesseits des Atlantiks Missstände in den entsprechenden Bereichen. Der Antisemitismusvorwurf soll die Universitäten gefügig machen und die Verbreitung des als gefährlich erachteten Gedankenguts in der Gesamtgesellschaft verhindern.
Fassin zieht hier eine Parallele zu dem parlamentarischen Inquisitionsverfahren gegen Universitätspräsidentinnen in den USA vor einem Jahr. Damals mussten unter dem Druck republikanischer Mitglieder des Repräsentantenhauses die Leiterinnen von Harvard und Penn zurücktreten, während jene von Columbia, um den eigenen Kopf zu retten, Mitglieder des eigenen Lehrkörpers unter die Räder geworfen habe. Auch hier wurde anlässlich propalästinensischer Proteste der Antisemitismusvorwurf instrumentalisiert. Dabei warnten 23 jüdische Dozenten von Columbia in einem offenen Brief vor einem „neuem McCarthyismus“, der unter dem Vorwand des Schutzes einer Glaubensgemeinschaft in Wahrheit die Forschungs-, Denk- und Lehrfreiheit einzuschränken trachte.
Es ist bezeichnend, dass die vorgeblichen Judenfreunde am rechten Rand des politischen Spektrums jene sind, unter denen handfester Antisemitismus laut Erhebungen am stärksten verbreitet ist. Fassin zitiert hier den jüngsten Jahresbericht von Frankreichs Nationaler beratender Kommission für Menschenrechte, wonach der Intoleranzgrad eines Individuums steigt, je älter, ungebildeter und politisch „rechter“ es ist. Entgegen dem Zerrbild vom überhandnehmenden linken Antisemitismus sind die Autoren antisemitischer Übergriffe nach wie vor mehrheitlich Rechtsextreme. Derselbe Bericht unterstreicht auch, dass die kritische Einstellung gegenüber Israel mit zunehmender linker Gesinnung steigt. Allerdings, und das ist der kapitale Punkt, gebe es keine Korrelation zwischen negativer Perzeption Israels und Judenhass. Entgegen einer von Gegnern noch und noch wiederholten Verleumdung lag der Antisemitismus bei Anhängern der linkspopulistischen Partei La France insoumise so zum Zeitpunkt der Erhebung im November 2023 auf demselben Niveau wie bei Anhängern von Macrons Bewegung – weit unter jenem des rechtsextremen Rassemblement national.
Der Taschenspielertrick der Agenten des illiberalen Autoritarismus – Fassin nennt sie mit guten Argumenten „neofaschistische Neoliberale“ – besteht nun darin, Antizionismus als Antisemitismus auszugeben. Dabei ist die Trennlinie klar: Es ist legal, Israels Regierung zu kritisieren, deren Politik und auch das zionistische Projekt als solches; ja, selbst der Aufruf zum Boykott (des Staates, nicht „der Juden“) ist in Frankreich erlaubt. Hingegen ist es ein Strafbestand, mit essenzialisierenden Scheinargumenten wie Aussehen oder Charakter ein angebliches „Rasseprofil“ zu konstruieren. Doch den falschen Judenfreunden geht es nicht darum, Stereotype zu beseitigen, die sie ja selbst oft eifrig verbreiten. Vielmehr instrumentalisieren sie den Antisemitismusvorwurf als Waffe in ihrem Kulturkampf. So werden auch linke, progressive Juden als Antisemiten abgestempelt, ja zu „Unjuden“ erklärt. Dass in den Rängen der größten Judenhasser auch die glühendsten Bewunderer Israels zu finden seien, bilde dabei nur vermeintlich ein Paradoxon. Geführt durch einen starken Mann, der sich auf rechtsextreme Verbündete stützt, buttere Israel seine arabischen Bürger gnadenlos unter, von den Palästinensern in den illegal besetzten Gebieten ganz zu schweigen. Und verwirkliche so den Traum aller illiberalen Rechten weltweit: Die Schaffung eines „ethnisch-autoritären“ Apartheidstaats mit durchmilitarisierter Gesellschaft und expansionistisch-kolonisatorischer Dynamik.
Einen im Detail angreifbaren, in der Substanz aber nicht uninteressanten Seitenblick wirft Fassin am Ende seiner Streitschrift auf Deutschland. Hier sei die Lage eine andere als in Frankreich und in den USA: Antiintellektualismus in Form von Universitätsschelte bilde östlich des Rheins bloß eine Begleiterscheinung. Aufgrund seiner Geschichte neige Deutschland zu einer Überidentifikation mit den Juden im Allgemeinen und mit Israel im Besonderen; diese münde bisweilen in den Irrglauben, man kenne beider Interessen besser als die Betreffenden selbst. Die bedingungslose Verteidigung des sogenannten Judenstaats gegen jede vermeintliche Regung von Antisemitismus – auch da, wo es sich klar um Antizionismus handelt –, erfülle den doppelten Zweck der Sühneleistung für Deutschlands historische Schuld und der Zurschaustellung demokratischer Vorbildlichkeit.
Fassin resümiert den Taschenspielertrick der Agenten des illiberalen Autoritarismus wie folgt: „Erstens Rassismus, Islamophobie und Fremdenhass unter den Tisch kehren, um allein auf das Problem des Antisemitismus zu fokussieren. Zweitens diesen der Linken zuschreiben und ihn dem Antirassismus dieses Lagers sowie den rassisierten Personen ankreiden. Drittens jede Kritik an Israel, an seiner kolonialen und militärischen Politik unter die Vokabel ‚Antizionismus‘ subsumieren. Viertens diesen Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzen, auf die Gefahr hin, die Juden mit Israel zu verwechseln, gemäß der antisemitischen Logik der Zuschreibung alles Jüdischen an Israel. Fünftens den Antisemitismus seinerseits mit Antizionismus identifizieren, solcherart die Rechtsextremen von jedem Judenhass freisprechend, sofern sie nur den Zionismus bejahen.“
Trägt das Offenlegen dieser politischen Strategie indes nicht dazu bei, den – wie eingangs festgehalten: realen und durch nichts zu entschuldigenden – Antisemitismus von Vertretern des linken Lagers zu verhehlen? Fassin stellt am Ende seiner Streitschrift selbst die Frage. Und antwortet darauf mit einem Zitat aus einem offenen Brief, den der Anwalt und Vizepräsident von Frankreichs Menschenrechtsliga Arié Alimi und der auf den Israel-Palästinakonflikt spezialisierte Historiker Vincent Lemire unlängst in „Le Monde“ veröffentlicht haben: „Der linke Antisemitismus lebt unbestreitbar wieder auf und er wird instrumentalisiert, um das linke Parteienbündnis Nouveau Front populaire zu diskreditieren“. Beide Phänomene gilt es zu bekämpfen.
Comments