Wie französische Spielfilme die Pariser Terroranschläge vom 13. November 2015 auf die Leinwand bringen
Vor ein paar Wochen haben alle Bewohner der 10. und 11. Arrondissements im Pariser Osten ein offizielles Schreiben erhalten, das über kommende Gedenkveranstaltungen für den 13-Novembre informiert, über die geplante Eröffnung eines „Gartens der Erinnerung“ 2025 sowie eines Musée-mémorial du terrorisme um 2027. Mit 132 Todesopfern war die Anschlagserie vom 13. November 2015 das größte Massaker in Frankreichs Kapitale seit 1945 (neben dem Totschlag von mindestens 120 algerischen Demonstranten durch hauptstädtische Polizisten im Oktober 1961). Der Mammutprozess gegen das einzige überlebende Mitglied des Terroristenkommandos und gegen neunzehn Helfershelfer ist Ende Juni zu Ende gegangen, die 148 Audienztage wurden von einer breiten Öffentlichkeit verfolgt. Die Attacken sind also noch sehr präsent im Bewusstsein der Franzosen – und sie sind es diesen Herbst auch in den Kinosälen.
Dort laufen zurzeit gleich zwei Filme zum Thema. „Novembre“ von Cédric Jimenez ist ein Actionfilm ohne Pathos noch Helden. Die Anschlagsserie wird darin als bloßer Prolog aus der Sicht der am betreffenden Abend diensthabenden Beamten der Sous-direction anti-terroriste abgefertigt. Thema des Films ist die knapp fünftägige Jagd dieser Abteilung der Kriminalpolizei auf die beiden im Pariser Großraum verbliebenen Terroristen. Die Hauptrolle spielt so ein Apparat mit vielen Köpfen, von denen manche mehr Profil besitzen als andere, aber keiner ein eigentliches Leben. Im Fokus stehen nicht Personen, sondern Prozeduren: das Visionieren von Kamerabildern, das Identifizieren von Autonummern, Abhör- und Beschattungsmanöver… Stimmengewirr, atemlose Beats, hektische Schnitte und nervöse Kamerabewegungen beschwören den Zeit- und Leistungsdruck dieser rund 110 Stunden zwischen dem Beginn der Attacken und dem Tod der erwähnten Terroristen herauf.
Um der abstrakten Materie Konturen zu verleihen, setzt Jimenez auf bewährte Kunstgriffe: Vereinfachung (die Ermittlung konzentriert sich ganz auf die beiden Flüchtigen), Emotionalisierung (zwei Polizisten halten dem Druck nicht stand und verletzen Regeln), Spektakularisierung (eine Verfolgungsjagd und ein Sturmangriff rahmen das Geschehen ein). „Novembre“ lieferte indes bloß virtuose Variationen auf ein bekanntes Thema, wäre da nicht die durch Lyna Khoudri verkörperte Vorstadtbewohnerin, die die zunächst skeptischen Fahnder zu den Terroristen führt. Ihr Dilemma – zur schweigenden Komplizin der Verbrecher werden oder buchstäblich ihr Leben aufs Spiel setzen, um diese zu denunzieren – verleiht dem Film die Vielschichtigkeit ohne welche er eine platte Stilübung bliebe.
In „Revoir Paris“ von Alice Winocour geht es um eine Suche ganz anderer Art. Mia (Virginie Efira) ist zur falschen Zeit am falschen Ort gelandet: Die Feststimmung der Brasserie, in die sie sich vor einem Wolkenbruch geflüchtet hat, wird jäh durch Sturmgewehrsalven zerfetzt. Wir liegen mit Mia am Boden, rundherum Scherben und leblose Körper, wir sehen lediglich die Füße eines Todesschützen und erahnen an der Resonanz jedes wohlgezielt abgefeuerten Schusses, welch vernichtende Durchschlagkraft den Kugeln eignen muss. Totstellen oder fortkriechen? Wir wissen nicht, was Mia wählt: Sie überlebt verletzt, aber fast ohne Erinnerung an den Anschlag. Ihre Bemühungen, dessen Hergang zu rekonstruieren und namentlich jenen Unbekannten zu finden, der mit ihr in einer Vorratskammer versteckt war, führen sie auf Dornenpfade, wie sie leider viele Überlebende von Terrorattacken begehen müssen: Energie, die im Treibsand versackt; Flashbacks und Albtraumvisionen; eine zunehmende Distanz zum Vorleben im Allgemeinen und zum Lebenspartner im Besonderen. „Revoir Paris“ ist ein sensibler Film, der nur daran krankt, dass jedes darin auftretende Opfer – ein Bankier, ein senegalesischer Sans-Papiers, eine Jugendliche, die beide Eltern verloren hat… – eine Spur zu offenkundig eine dramaturgische Funktion erfüllt.
Das ist bei „Amanda“ nicht der Fall. Mikhaël Hers gesteht den Protagonisten seines Films von 2018 ein Eigenleben zu. David (Vincent Lacoste) ist vierundzwanzig, arbeitet zugleich als Baumpfleger und als Rezeptionist/Putzmann für einen Kurzzeitvermieter. Mit Lena, einer gleichaltrigen Mieterin aus der Provinz, beginnt er eine erfrischend unverkrampfte Romanze; mit seiner älteren Schwester Sandrine verbindet ihn liebevolle Komplizenschaft. Eines Tages wollen die drei im Parc de Vincennes picknicken. Als David wie oft verspätet ankommt, hat er ebenso große Mühe wie die Zuschauer, das Bild zu fassen, das sich da bietet: Dutzende von Parkbesuchern auf dem Rasen dahingemäht, manche vor Schmerzen gekrümmt, andere reglos ausgestreckt. Sandrine ist im Kugelhagel der Terroristen ums Leben gekommen, Lena verletzt worden. Jäh sieht sich David mit der Aufsicht seiner Nichte Amanda (Isaure Multrier) betraut.
Mit entwaffnender Ehrlichkeit zeigt der Film, wie der Jüngling und das Kind weiter- und miteinander leben lernen. Hers drückt sich nicht mit smarten Ellipsen um Schlüsselszenen, frontal zeigt er Davids Pein, als dieser der Kleinen mitteilen muss, dass die Mutter tot ist, später seine herzzerreißenden Schluchzer, als er unter der Last der Verantwortung wie der Zukunftsangst zusammenbricht. Doch hat der selbst noch kindliche Erwachsene das dreifache Glück, dass die frühreife Siebenjährige ebenso pflegeleicht ist wie er selbst, dass eine herzensgute Tante sowie taktvolle Freunde ihnen unter die Arme greifen und dass sein eigener Optimismus stets die Oberhand gewinnt. So gelingt es David am Ende gar, die durch das Attentat aus der Bahn geworfene Lena zurückzugewinnen.
Es ist spannend zu sehen, wie die drei Filme, von unterschiedlichen Prämissen ausgehend, den Stoff jeweils behandeln. „Novembre“ schildert mit „fiktionalisierten“ Figuren eine wahre Geschichte. Für Jimenez war es ausgeschlossen, eine wie auch immer geartete Nachstellung der Attentate auf die Leinwand zu bringen. Selbst die Terroristen und ihre Opfer klammert er weitgehend aus. „Revoir Paris“ und „Amanda“ sind dagegen Fiktionen, wiewohl mit klarem Verweis auf den 13-Novembre. Als solche können sie es wagen, ein jeweils erfundenes Massaker in Bilder zu fassen – die Terrorattacke nicht zu zeigen, wäre laut Hers sogar „falsche Scheu“ gewesen. Der Film von Winocour gleicht einer Ermittlungsreise ins Land Amnesie, dessen Hauptstadt „Trauma“ heißt; jener von Hers einem Märchen, das präzise im heutigen Pariser Osten angesiedelt ist.
„Novembre“ und „Revoir Paris“ haben Qualitäten, aber auch Schwächen; „Amanda“ ist ein kleines Juwel. Aber der eigentliche Wurf zu der langen Reihe von Attentaten, die Frankreich in den letzten zehn Jahren heimgesucht haben, wurde bereits 2010 konzipiert und im Sommer vor dem 13-Novembre gedreht. Bertrand Bonellos „Nocturama“ handelt nicht von Dschihadisten, sondern von Nihilisten (die klar dem linken Extrem zuneigen). Aber der seherische Film nimmt Szenen vorweg, die man im November 2015 exakt so erlebt hat: ein nächtliches Paris, durch dessen menschenleere Straßen Sirenen gellen; auf den Bildschirmen Liveaufnahmen des Gebäudes, in dem sich Terroristen verschanzt haben (in der Fiktion ein Luxuswarenhaus, in der Realität der Konzertsaal Bataclan); heranrückende Kolonnen schwarzuniformierter Eingreiftruppen; am Ende Flammenexplosionen. Das größte Verdienst von „Nocturama“ ist es indes, eine zu Deutungen, ja zu hitzigen Diskussionen anregende politische Rätselbotschaft in morbid schöne Bilder von toxischer Sinnlichkeit zu zwingen, die ein ebenso schlichter wie mächtig strukturierter Erzählbogen zusammenhält.
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