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Experimentalfilm im Gewand des Historienschinkens

marczitzmann
Ein filmgeschichtliches Ereignis: Abel Gances „Napoléon“ wurde in der restaurierten „letztgültigen“ Fassung vorgestellt, an zwei Abenden und begleitet durch jeweils 90 Instrumentalist:innen und 65 Chorsänger:innen

 


1949 wurden in Biarritz kurzlebige Filmfestspiele der besonderen Art eröffnet. Das Festival du film maudit ließ Werke hochleben, die unterschätzt, verstümmelt, unvollendet oder gar verboten waren. Als films maudits gelten in Frankreich etwa „Die Spielregel“ von Jean Renoir, „Der Rabe“ und „Die Hölle“ von Henri-Georges Clouzot, vor allem jedoch Abel Gances „Napoléon“. Dieser Stummfilm, vor fast hundert Jahren gedreht, konnte erst heuer in der Fassung vorgestellt werden, die seine Restaurateur:innen als die „letztgültige“ bezeichnen. „Napoléon vu par Abel Gance“, so der Originaltitel des vielstündigen Epos‘, wurde zunächst Mitte Mai an den Filmfestspielen Cannes enthüllt, dann am 4. und 5. Juli vor jeweils 3000 Zuschauer:innen in der Seine musicale bei Paris auf eine Riesenleinwand projiziert, verteilt auf zwei Abende und in Echtzeit begleitet durch 90 Instrumentalist:innen und 65 Chorsänger:innen. Ein filmgeschichtliches Ereignis.


Lichtfigur mit Liszt-Gesicht: Gances Napoleon, verkörpert durch Albert Dieudonné (Bild: Christophe Abramowitz)

Die insgesamt neun Stunden (mit Pausen) vergehen wie im Flug. Gance ist ein ebenso schwung- wie fantasievoller Erzähler, und die frühen Jahre des künftigen Korsenkaisers bieten Stoff für einen Roman in bewegten Bildern. Geschickt verflicht der Regisseur Episoden aus der Kadettenschulzeit – eine Schneeball- und eine Kissenschlacht als erste Übungen in Schneid und Strategie; eine Geographiestunde, die ominös von Korsika nach St. Helena führt – zu einem Prolog aus den Jugendtagen. Dann springt er ein Jahrzehnt weiter ins Paris des Revolutionsjahrs 1792 und folgt seinem Helden bis zum Beginn des Italienfeldzugs 1796. Der Film enthält sein gerüttelt Maß an Hurrapatriotismus, Verherrlichung des Militärs und der dazugehörigen Folklore. Aber selbst diese Aspekte, die uns heute kaltlassen, wo nicht gar abstoßen (und die schon seinerzeit kritisiert wurden), gestaltet Gance nie plump, pompös oder platt pittoresk. Vielmehr schafft er blutvolle Figuren, stilisiert etwa die drei „Götter der Revolution“, Danton, Marat (gespielt durch Antonin Artaud) und Robespierre, sowie den „Halbgott“ Saint-Just zu Löwe, Hyäne, Tiger und Gepard. Und hält die Kamera in steter Bewegung, was dem Film ein furioses, bisweilen schier Seekrankheit erzeugendes Tempo verleiht.


Tiger mit Sonnenbrille: Robespierre, gespielt durch Edmond van Daële (Bild: Cinémathèque française)
Durch Nacht und Wind: Napoleon flieht vor berittenen Verfolgern (Bild: Cinémathèque française)

Bravourstücke sind die erwähnten kindlichen Schlachten, wütende Wirbel in Weiß, bei denen die Operateure sich auf Schlitten gleitend oder die Kamera auf die Brust gegurtet ins Getümmel stürzen, aber auch eine atemraubende nächtliche Verfolgungsjagd zu Pferde sowie die achtzigminütige (!) Befreiung von Toulon, eine Symphonie des Grauens unter in schneidenden Schraffuren niederstürzendem Blutregen. Viele Sequenzen sind gleich dieser koloriert: orangefarben wie das Morgenlicht in der Szene, wo Pariser Revolutionäre erstmals die „Marseillaise“ anstimmen, zartrosa wie das kurzzeitig in Korsika wiedergefundene Familienglück, giftgrün wie Marats Ermordung oder kinky pink wie die Begegnung mit Joséphine de Beauharnais am dekadenten „Bal des victimes“. Am stärksten in der Erinnerung haftet indes das wattige Weiß der Szene, wo Violine (ein sechzehnjähriger Engel mit dem bürgerlichen Namen Suzanne Charpentier) sich mit der abgöttisch verehrten Puppenfigur des künftigen Kaisers vermählt: keusches Kinderspiel, Voodoo-Ritual ohne Opfer und stimmlose Umnachtungsarie in einem.


Kindsbraut: Violine, der Annabella (Suzanne Charpentier) ihre jungfräuliche Anmut leiht (Bild: Cinémathèque française)

Stimmlos, aber nicht stumm: Denn das Orchestre national de France begleitet die Szene mit der Streichorchesterversion von Puccinis bittersüßen „Crisantemi“ – einer von 104 Kompositionen des 18., 20. und vor allem 19. Jahrhunderts, aus denen Simon Cloquet-Lafollye den wohl längsten Soundtrack der Kinogeschichte zusammengestellt hat (die für künftige Projektionen in 25 Tagessitzungen aufgenommene Partitur umfasst mehr als 1500 Seiten!). Schon für die erste öffentliche Präsentation einer der frühesten Fassungen von „Napoléon“ im prestigeträchtigen Pariser Palais Garnier am 7. April 1927 hatte Arthur Honegger eine ähnliche Blütenlese vorgenommen, angereichert mit einer halben Stunde eigener Filmmusik. In diesem Geist hat Cloquet-Lafollye aus Exzerpten, ganzen Sätzen und sogar vollständigen Werken von Haydn bis Penderecki ein passgenaues Patchwork geschneidert, das nicht illustriert, sondern die Stimmung und Dynamik der jeweiligen Sequenz in Töne fasst.


Viele Szenen sind literarischen Texten, Skulpturen oder Gemälden nachempfunden – hier dem berühmten Tableau von Jacques-Louis David „Der Tod des Marat“. (Bild: Cinémathèque française)

Bis auf das Ende des „Films im Film“ über die Befreiung von Toulon, wo die Durchführung der „Symphonie Pathétique“, Trauermärsche von Beethoven und Wagner sowie die Coda der „Egmont-Ouvertüre“ aneinandergereiht einen Overkill an Pathos erzeugen, funktioniert das hervorragend. Zumal der Kompilator/Collagekünstler Randständiges zuhauf aus dem Ärmel zaubert, darunter Hörenswertes von William Alwyn, Boris Asafiew, Gabriel Dupont, Hans Rott und Xaver Scharwenka. Leider jedoch kamen die Qualitäten von Frankreichs beiden Rundfunkorchestern (am ersten Abend spielte das Orchestre philharmonique de Radio France) in der Seine musicale nicht recht zur Geltung: Frank Strobel dirigierte bloß kapellmeisterlich probat und die elektronische Verstärkung in dem nicht für klassische Musik geschaffenen Riesensaal erzeugte einen komprimierten, synthetischen Klang.


Weißer Wirbel mit Doppelbelichtung: Gleich einem Adler befehligt der kindliche Napoleon (Wladimir Rudenko) die Schneeballschlacht des Prologs. (Bild: Cinémathèque française)

Die Entstehungs-, Verstümmelungs- und Restaurierungsgeschichte von „Napoléon vu par Abel Gance“ ist so komplex, dass sie hier bloß ansatzweise skizziert werden kann. Wer mehr wissen möchte, greife auf einen im Mai erschienenen Sammelband des Verlags La Table Ronde zurück: Die über 300 Seiten, bebildert mit fast ebenso vielen Photogrammen, die den Plot des restaurierten Films rekapitulieren, lesen sich wie eine Detektivgeschichte. Ursprünglich wollte Gance, ein Victor Hugo der Filmkunst, nicht weniger als sechs, ja acht abendfüllende Streifen über Napoleons Leben drehen, gleichsam von der Wiege bis zum Grabe. Die erste und einzige realisierte Lieferung des gigantomanischen Unternehmens wurde für fast jeden Saal, in dem eine oder mehrere Projektionen stattfanden, in einer eigenen Fassung gezeigt. Verantwortlich für mitunter verbrecherische Schnitte und Umstellungen waren sowohl Gance selbst als auch seine in- und ausländischen Verleiher, und das über Jahrzehnte hinweg. So zählte man am Ende, Restaurierungsversuche durch namentlich Henri Langlois, Kevin Brownlow und Bambi Ballard mitgerechnet, gut zwanzig (!) Versionen zwischen eineinhalb und neuneinhalb Stunden.


Familienidylle in Korsika: Napoleon im Kreis seiner Lieben (Bild: Cinémathèque française)

Der durch die Cinémathèque française verpflichtete Chefrestaurator Georges Mourier hat im Lauf seiner fünfzehnjährigen Spurensuche die Liste (mitsamt Meterzahlen) aller Sequenzen von Gances idealer siebenstündiger Fassung gefunden (er nennt das Dokument seinen „Rosetta-Stein“), rund tausend Filmdosen in aller Welt identifiziert und digitalisiert, daraus in 5-K-Auflösung die jetzt enthüllte „letztgültige“ Version geschnitten, endlich die Angleichung des disparaten Materials sowie die musikalische Unterlegung des Ganzen überwacht. Herausgekommen ist ein Werk wie aus einem Guss: ein Experimentalfilm im Gewand des Historienschinkens, sanguinisch, strotzend vor Saft und Kraft – und aktuell bis hin zu den Problemfragen, die er aufwirft: Jene nach „von der Vorhersehung gesandten“ Volksführern etwa, nach „guten“ und „schlechten“ Revolutionen, oder nach der (An-)Verwandlung von Geschichte durch Kunst.


Den Beginn des Italienfeldzugs am apotheotischen Ende des Films inszeniert Gance im seinerzeit revolutionären und auch heute noch eindrucksvollen Triptychon-Format. (Bild: Cinémathèque française)

 


„Napoléon vu par Abel Gance“ ist bis zum 21. Juli in der Cinémathèque française zu sehen, vom 10. Juli an in ausgewählten Sälen und am 18. und 19. Juli am Nouveau Festival Radio France Occitanie Montpellier.

Wärmstens zu empfehlen ist die Lektüre des Sammelbands „Napoléon vu par Abel Gance“ (Éditions de La Table Ronde, Paris 2024. 312 S., Euro 29.-.).

 

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