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Céline, zum Zweiten

Aktualisiert: 23. Mai 2023

Der langjährige Hüter des letztes Jahr wiederaufgetauchten Manuskript-Schatzes lüftet den Schleier über dessen Herkunft. Und übt Kritik an Gallimards Ausgabe der im Mai unter dem Titel "Guerre" veröffentlichten Sequenzen über das Kriegsgeschehen in Flandern 1914.


Neuer Paukenschlag in der Sache der seit 1944 verloren geglaubten, dann letztes Jahr wiederaufgetauchten Céline-Manuskripte. Jean-Pierre Thibaudat, der das Konvolut in seiner Zeit als Theaterkritiker für die Pariser Tageszeitung „Libération“ anvertraut bekommen und zwei Jahrzehnte lang gehütet hatte, ist ausführlich auf die Geschichte um den Sensationsfund zurückgekommen. Zunächst wollte Thibaudat sogar ein Buch zum Thema schreiben. Doch die romancierte Ausschmückung, die sich kontaktierte Verleger wünschten, behagte ihm nicht. So hat er jetzt in seinem Blog bei der Internet-Zeitung „Mediapart“ in neun zwischen dem 6. und 14. August veröffentlichten Beiträgen seine Sicht der Dinge vorgetragen.


Der zwanzigjährige Louis Ferdinand Destouches während seinem Wehrdienst in der Paradeuniform eines Quartiermeisters, Rambouillet 1914 (©Collection François Gibault)

Der Anfang liegt in nebulöser Vorzeit. Irgendwann Ende der 1990er Jahre habe ihn ein Freund kontaktiert: Bekannte hätten eine Kiste Céline-Manuskripte geerbt, ob er sie sich einmal anschauen möge? Beim ersten Besuch gingen Thibaudat die Augen über: Es handelte sich um Abertausende handbeschriebener Seiten zuzüglich Dokumenten verschiedenster Art. Im Lauf der Monate fassten die Erben des Schatzes Zutrauen zum Kritiker und händigten ihm schließlich die Kiste aus, erleichtert, die Verantwortung für deren Aufbewahrung auf andere Schultern abwälzen zu können. Ein laut Thibaudat geschlossener „Vertrauenspakt“ sah vor, das im Sommer 1944 aus Célines Pariser Wohnung verschwundene Konvolut erst nach dem Ableben von dessen Witwe, Lucette Destouches, zu restituieren. Louis-Ferdinand Céline, mit bürgerlichem Namen Louis Ferdinand (ohne Bindestrich) Destouches, war als Autor antisemitischer Pamphlete und notorischer Nazi-Kollaborateur elf Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie mit Frau, Kater und Goldmünzen ins zusammenbrechende Hitlerreich geflohen; bis zu seinem Tod 1961 wetterte er gegen „Säuberer“, die seinerzeit seine Wohnung verwüstet und dort Schriften zuhauf vernichtet hätten. Im gewohnt emphatischen O-Ton klingt das wie folgt: „Schatz ich bekräftige es! Von diesen Romanen, potz Blitz!, dass die französische Literatur für immer verarmt ist! Der Beweis, dass sie fast drei Manuskripte verbrannt haben, die Rächer-Säuberer-Verwüster! Nicht ein Atom Asche übriggelassen!“.


Beim Sichten des Konvoluts stellte Thibaudat fest, dass es neben Familienfotos, geschäftlichen Dokumenten, Briefen auf Französisch und auch auf Deutsch sowie einem „jüdischen Dossier“, das einmal mehr Célines Antisemitismus belegt, auch literarische Werke enthielt. Davon fünf von höchstem Interesse: Eine unvollständige Fassung des 1936 erschienenen Romans „Mort à crédit“ (deutsch „Tod auf Kredit“), zwei „mittelalterliche“ Legenden, ein „Londres“ betiteltes Werk, bislang unbekannte Teile des nach dem Krieg in verstümmelter Form publizierten Romans „Casse-pipe“ („Kanonenfutter“), endlich im Flandern von 1914 angesiedelte Texte, die der Gallimard-Verlag Anfang Mai unter dem Titel „Guerre“ veröffentlicht hat. Céline gilt neben Proust als der bedeutendste französische Romancier des 20. Jahrhunderts; der Fund des verlorengeglaubten Schatzes hat in Frankreichs Literaturgeschichte nicht seinesgleichen. (Die Werke des Marquis de Sade zirkulierten jahrhundertelang bloß unter dem Mantel, waren aber nicht eigentlich verschollen; Irène Némirovsky hat bei allem Reiz nicht Célines Rang).


Nach dem Tod von Lucette Destouches Ende 2019 im hohen Alter von hundertsieben Jahren trat Thibaudat via seinen Anwalt mit deren Erben in Kontakt: Lucettes ehemaliger Tanzschülerin Véronique Chovin und Célines ehemaligem Testamentsvollstrecker und erstem Biografen François Gibault. Bei ihrem einzigen Treffen im Juni 2020 habe er bei Gibault verzückte Entgeisterung gespürt, bei Chovin Zorn und Hass („‚Libération‘ war bestimmt nicht ihre Lieblingszeitung“). Im März 2021 wurde der Journalist dann aufs Zentralamt für die Bekämpfung des illegalen Handels mit Kulturgütern bestellt: Die beiden Erben hatten Anzeige gegen ihn und seinen Anwalt erstattet wegen Hehlerei. Bereits vier Monate später wurde das Verfahren eingestellt und die Schatzkiste, die Thibaudat den Polizisten ausgehändigt hatte, den Erben übergeben. Zehn Tage später machte „Le Monde“ den Sensationsfund publik.


Ein Blatt des Manuskripts von „La Volonté du Roi Krogold“, der zweiten „mittelalterlichen“ Legende (© Collection succession Lucette Destouches)

Die wichtigste Frage, die sich damals nicht nur die Polizisten stellten, blieb bis jüngst unbeantwortet: Wo kam die Kiste her? Thibaudat hüllte sich mit Berufung auf den journalistischen Quellenschutz in Schweigen, was juristisch anfechtbar sein mag: Die Manuskripte bildeten ja keine Quelle im Sinne des Presserechts und der Journalist hatte die Geschichte auch nicht publik gemacht, sondern ganz im Gegenteil über zwei Jahrzehnte hinweg geheim gehalten. Doch nun hat er die Identität des ursprünglichen, sagen wir: Hüters des Manuskriptschatzes verraten, im Einverständnis mit dessen Erben. Hauptverdächtiger war bislang Oscar Rosembly gewesen, eine zwielichtige Figur aus Célines Umfeld in Montmartre – kurz nach der Befreiung von Paris war Rosembly eingekerkert worden, weil er die Wohnungen von Kollaborateuren „gefilzt“ hatte. Gibault wie auch der Herausgeber der „Pléiade“-Edition, Henri Godard, waren sich sicher, dass Rosembly der Manuskriptedieb war. Doch Thibaudat nennt jetzt einen anderen Namen, jenen von Yvon Morandat.


Dieser stellt eine ungleich respektablere Figur dar: Résistant der ersten Stunde, Gaullist mit sozialer Ader, Staatssekretär in der letzten Regierung Pompidou. Ein Platz in Paris ist nach ihm benannt. Laut Thibaudat hatte der Widerständler Morandat die Kiste in Célines requirierter Wohnung gefunden, als diese ihm zugeteilt wurde. Nach der Rückkehr des Schriftstellers aus dem dänischen Exil 1951 (sein rechtsextremer Anwalt hatte unter dubiosen Umständen eine Amnestie erwirkt, zuvor war Céline in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden), soll ihm Morandat brieflich die Rückgabe der eingelagerten Möbel angeboten haben – und auch jene der Manuskripte. Hier nun nimmt die Geschichte eine wirre Wendung: Céline habe rundheraus abgelehnt, die Zahlung der Lagerkosten verweigert und Morandat einen „dreckigen aufgeblähten gaullistischen Furz“ („un sale prout prout gazeux gaulliste“) geschimpft. Das (sehr authentisch tönende) Zitat soll einem Brief entstammen, den Thibaudats Freund beim Durchforsten der Kiste gelesen haben will – doch sei dieser nunmehr unauffindbar. Einen zweiten Brief, der Célines Weigerung bestätigt, habe ein Forscher angeblich bei einer Versteigerung des Auktionshauses Artcurial gesehen – doch auch der sei nicht greifbar. Der Punkt ist entscheidend, weil die Bestätigung von Célines Abfuhr dem von ihm wiederholt vorgetragenen Vorwurf der „Plünderung“ den Boden entziehen würde.

1946 zogen die Morandats um, die Kiste kam in einen Keller. Dort wurde sie zehn Jahre nach dem Tod des Vaters 1982 durch Caroline Lanciano-Morandat wiederentdeckt. Aus Angst, der Leumund des Widerständlers möge beschmutzt werden, aber auch aus der begründeten Furcht, Célines Witwe könnte antisemitische Dokumente verschwinden lassen, beschloss Morandats Tochter, ihren Fund bis zum Tod der alten Dame geheim zu halten. Über den erwähnten gemeinsamen Freund stellte sie den Kontakt zu Thibaudat her.


Ein Blatt des Manuskripts von „Londres“ (© Collection succession Lucette Destouches)

Abschließend lässt sich festhalten, dass sowohl die Tochter als auch der Journalist aus hehren, uneigennützigen Motiven gehandelt und namentlich nie nach finanziellem Profit getrachtet haben. Dennoch hätten sie die Manuskripte zwingend Lucette Destouches aushändigen müssen, so Célines Verweigerung einer Rückgabe nicht schwarz auf weiß belegt ist. Dass die Polizisten den Tatbestand der Hehlerei vom Tisch gewischt haben, gründet womöglich weniger im Strafrecht als im Bestreben, andere Hüter geraubter oder verloren gegangener Kunstschätze nicht von deren Rückgabe abzuschrecken. Überdies stellt sich die Frage nach der Konservation der Manuskripte. Mit Schaudern liest man, dass Thibaudat die Abertausende von Blättern Sommer für Sommer in einem ehemaligen Stallgebäude auf dem Lande entziffert hat. Ein Blitzschlag, ein Wasserschaden und der Schatz wäre unwiederbringlich verloren gewesen.


In seinen Blog-Beiträgen lüftet Thibaudat auch ein wenig den Schleier über den noch unveröffentlichten Manuskripten, die Gallimard im Lauf der nächsten Jahre publizieren will. Der „Londres“-Text, der bereits Mitte Oktober erscheinen soll, basiert auf den elf Monaten, die Céline vom Mai 1915 an in der englischen Kapitale verbrachte. Er romanciert Begebenheiten, die der Autor später in „Guignol’s Band“ wieder aufgriff; der erste der drei Teile wurde überarbeitet, bei den anderen handelt es sich um einen ersten Wurf. Die mittelalterliche Thematik der beiden Legenden dagegen bildet in Célines stark autobiografisch grundiertem Werk eine Kuriosität – wie auch sein Versuch, ein „modernes“ altfranzösisches Idiom zu erfinden. Sie sind beide unvollständig, erzählen aber die gleiche Geschichte und ergänzen einander zum Teil. „Casse-pipe“ wiederum ist von besonderem Interesse, vervollständigen die rund dreißig Kapitel doch das heute bekannte Fragment, das der Autor seinerzeit als bloße „Präambel“ abgetan hatte. Das Werk, das auf Célines Wehrdienst als Kürassier zwischen 1912 und 1914 basiert, ist wegen des Soldaten- und Reiter-Jargons keine leichte Lektüre, dafür aber voller Schmiss und schwarzem Humor. Mehrere Kapitel des wiederaufgetauchten Manuskripts sind überladen mit Pentimenti, was ihre Entzifferung erschwert.


Ein Blatt des Manuskripts von „Casse-pipe“ (© Collection succession Lucette Destouches)

An Gallimards jüngster Publikation von „Guerre“ endlich moniert Thibaudat die kommerzielle Ausrichtung. Eine Zusammenstellung von sechs Sequenzen werde als ein einheitlicher Text verkauft, das Manuskript in verstümmelter Form wiedergegeben, um seinen fragmentarischen Charakter zu verbergen. In einem lesenswerten Beitrag, den das Pariser Institut des textes et manuscrits modernes Ende Juli ins Netz gestellt hat, üben die italienischen Literaturwissenschaftler Giulia Mela und Pierluigi Pellini noch harschere Kritik an besagter Ausgabe. Nicht nur bemängeln sie das Fehlen eines kritischen Apparats und die „stellenweise diskutable“ Transkription der Handschriften. Sie geißeln auch die Datierung der Blätter auf die Zeit nach der Publikation des Romans „Voyage au bout de la nuit“ („Reise ans Ende der Nacht“) 1932, wo es sich ihrer – gutbegründeten – Meinung nach um Sequenzen aus einem überbordenden „Ur-‚Voyage‘“ aus den Jahren 1930/31 handelt, die der Autor – wie auch die drei Teile von „Londres“ – lang vor der Drucklegung verworfen hatte.


Der Beginn des Manuskripts der unter dem Titel „Guerre“ veröffentlichten Sequenzen zum Kriegsgeschehen in Flandern 1914. Der erste Satz, „Pas tout à fait“ („Nicht ganz“), wird in der Gallimard-Ausgabe weggelassen, um dem Text ein geschlosseneres Äußeres zu verleihen. Die Zahl „10“ ganz oben lässt vermuten, dass neun Sequenzen vorausgegangen sind. Existieren diese noch? Befanden sie sich womöglich im Besitz Oscar Rosemblys, dessen 2020 verstorbene Tochter dem Céline-Forscher Emile Brami erzählt hatte, ihr Vater habe in einer Hütte in der korsischen Macchia Manuskripte des Schriftstellers versteckt? (© Collection succession Lucette Destouches)

Nach literaturwissenschaftlichen Kriterien gehörten diese Skizzen, die Céline nie und nimmer einem Verleger vorgelegt hätte, in den Anhang einer Neuausgabe des „Voyage“. Was natürlich ungleich weniger verkaufsträchtig ist als die Vermarktung eines „unveröffentlichten Romans“ unter dem von Céline nur in zwei Briefen verwendeten Arbeitstitel „Guerre“, von dem Gallimard seit Mai knapp 190 000 Exemplare abgesetzt hat. Bis auf „Le Monde“, das „Guerre“ zum Meisterwerk hypte, zeigte sich Frankreichs Presse freilich eher skeptisch gegenüber dem „Bestseller mit dubiosem Status“ (Mela und Pellini). Der „unerfüllten Skizze“ fehle der „finale Feder-Zauber“, befand „Mediapart“. Bestimmte Sätze bildeten bloß Embryonen von Situationen, bedauerte „Le Figaro“. Kurz: „Guerre“ sei, wie „Libération“ zusammenfasste, als Dokument gewichtig, „aber als unsterbliches Meisterwerk zu leicht“.



Eine für die „WOZ“ verfasste Besprechung von „Guerre“ hatte ich im Juni in diesem Blog übernommen.
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