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Bretter, die das Universum bedeuten

Eindrücke vom Beginn des 79. Festival d‘Avignon


Ein Schwarzes Loch am Festival d’Avignon: Im sagenumwobenen Ehrenhof des Papstpalasts zeigt Marlene Monteiro Freitas zur Eröffnung „Nôt“. Ein Mann tritt ans Mikrofon an der Rampe und bewegt, wild fuchtelnd und grimassierend, den Mund – aber zu hören ist kein Laut. Eine unfreiwillige Metapher für die kommenden hundert Minuten: Viel Betriebsamkeit um Nichts. Ingredienzien der Performance, die durch „Tausendundeine Nacht“ inspiriert sein soll, sind Wachsmasken, beinlose Menschen und Puppen, vulgäre Ulknummern aus dem Register „Erbrechen & Entleeren“, sinnfreie Brabbelorgien in schmerzhaften Stimmlagen, Primitivinstrumente wie Trommeln und Essbesteck, Tanzeinlagen der repetitiv tumben Art sowie das obligate Theaterblut auf weißen Laken oder Schürzen. Man übergieße das Gemisch mit Mahlers „Achter“ und Strawinskys „Noces“, schüttle lang und kräftig unter Lautsprecher-Gedröhn und Scheinwerfer-Geflacker – fertig ist die szenische Zumutung.


Da gähnen selbst die alten Gemäuer: „Nôt“ von Marlene Monteiro Freitas in der Cour d’honneur du Palais des papes (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
Da gähnen selbst die alten Gemäuer: „Nôt“ von Marlene Monteiro Freitas in der Cour d’honneur du Palais des papes (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Eine Sternennacht bei Avignon: In der legendären Carrière de Boulbon zeigen Anne Teresa de Keersmaeker und Solal Mariotte „Brel“. Die Flämin tritt ans Mikrofon an der Rampe – und sagt nichts. Stattdessen ertönt eine quasiklerikale Männerstimme aus dem Off: „Eines Tages kam der Teufel auf die Erde…“ – und auf der schwindelerregenden Steinbruchwand, die als Kulisse dient, leuchten in fetten Lettern die Worte „ça va“ auf, der Refrain von Jacques Brels Chanson „Le Diable (ça va)“. Die zwei Dutzend Nummern der musikalischen Blütenlese mögen fast alle zum Kulturschatz der Frankophonen zählen, in der Konzentration (und Wiedergabequalität!), mit der sie an diesem Abend erklingen, bestätigen sie schock- und schmerzhaft, wie diabolisch gut der Brüsseler Liedermacher war – und wie sehr er fehlt. Die poetische Prägnanz der Sprache, die Schärfe der Beobachtung, die dramatische Verdichtung und soziale Sprengkraft der Texte, dazu die oft unregelmäßige Periodik der Vertonungen und ihre (namentlich François Rauber zu verdankenden) süffig-symphonischen und zugleich fantastisch-fremden Arrangements rauben bis heute den Atem.


Der Teufel ist zufrieden mit dem (üblen) Lauf der Welt: Projektion auf der Felswand der Carrière de Boulbon. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
Der Teufel ist zufrieden mit dem (üblen) Lauf der Welt: Projektion auf der Felswand der Carrière de Boulbon. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Und Keersmaeker lässt für einmal los, lockert das Korsett ihrer bisweilen zur Formel verfestigten Tanzsprache: Sie lacht, feixt, schneidet ein Kugelfischgesicht, reckt kämpferisch die Faust und entspannt sogleich mit einem Augenzwinkern die Finger; sie wiegt sich so steif wie „Les Flamandes“, wälzt sich am Boden wie der Säufer „Jef“ und lässt sich zu „Ne me quitte pas“ Brels Konterfei auf den nackten Leib projizieren. Ihr vier Jahrzehnte jüngerer Mitschöpfer und Duopartner setzt mit Welpen-Energie und Breakdancer-Akrobatik einen erfrischend stilfremden Kontrapunkt.


Solal Mariotte (links) und Anne Teresa de Keersmaeker unter dem Konterfei von Jacques Brel (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
Solal Mariotte (links) und Anne Teresa de Keersmaeker unter dem Konterfei von Jacques Brel (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Nach dem Englischen und dem Spanischen ist heuer das Arabische „Gastsprache“ der größten Theaterfestspiele der Welt. Ein gutes Viertel der insgesamt 42 Produktionen, die bis zum 26. Juli zu sehen sind, stammt von Schöpfern aus Ägypten, dem Irak, Libanon, Marokko, Palästina, Syrien und Tunesien. In unserer Stichprobe von acht Produktionen am Festivalbeginn fungieren auch drei Mitbringsel arabischer Gäste: Mischformen zwischen Tanz und Theater mit dokumentarischem Einschlag.


Die Geschwister Selma und Sofiane Ouissi evozieren in „Laaroussa Quartet“ Töpferinnen der nordtunesischen Stadt Sejnane. Auf einer Filmleinwand am Bühnenhintergrund flimmern diese immer wieder auf, emsig wie schildkrötengesichtige Erdweibchen in bunten Trachten. Sie klopfen Tonerde fein, rühren die Körnchen zu Lehm an, formen daraus Figuren, mit energischen Armgesten und behänden Daumen, die auch für gegenseitige Gesichtsmassagen taugen. Vier Tänzerinnen transponieren diese Bewegungen ins eigene Idiom, begleitet durch den zittrigen Gesang einer verschleierten Muhme und die spröde Stimme einer auf Quinten fixierten Geige.


In „Laaroussa Quartet“ übertragen Selma und Sofiane Ouissi die Gesten von Kunsthandwerkerinnen in die Sprache des Tanzes. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
In „Laaroussa Quartet“ übertragen Selma und Sofiane Ouissi die Gesten von Kunsthandwerkerinnen in die Sprache des Tanzes. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Ali Chahrour beleuchtet seinerseits in „When I Saw the Sea“ das traurige und oftmals tragische Los der Wanderarbeiterinnen in seinem Heimatland Libanon. Entrechtet und geknechtet, sind sie der Willkür ihrer Arbeitgeber(innen) ausgeliefert. Schickt Israel wieder einmal Bomber, flüchten die Gutsituierten an den Golf und lassen die Quasisklavinnen wie ausgesetzte Haustiere zurück. Drei von ihnen klagen auf der Bühne ihr Leid, in Monologen, Liedern und Tänzen, die eine Sängerin und ein E-Oud-Spieler mit zeitgenössischen, kontemplativen Klängen grundieren.


„When I Saw the Sea“ setzt auf Minimalismus: eine leere Bühne, zwei Musiker auf einer Tribüne im Hintergrund, drei „Zeuginnen“, die sprechen, singen und tanzen. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
„When I Saw the Sea“ setzt auf Minimalismus: eine leere Bühne, zwei Musiker auf einer Tribüne im Hintergrund, drei „Zeuginnen“, die sprechen, singen und tanzen. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Radouan Mriziga endlich hat nach einem Aufenthalt in der Wüste mit sechs Tänzern das Stück „Magec / the Desert“ erarbeitet. In der Stille unter einem riesigen Vollmond steigt Weihrauchduft auf. Rätselgestalten schreiten über die dunkle Bühne – sind es Tiere, Menschen oder Dschinns? Im bleichen Himmelsgestirn quillt ein Atompilz auf, Erinnerung an französische Tests in der Sahara, dann verjagen Traumgesichte die apokalyptische Vision. Ein Hornvieh stampft auf den Boden, wälzt sich, muht; eine zweite Figur trägt eine Stammesmaske vor dem Gesicht her und wiegt sich in den Hüften. Peu à peu kommt zu Electrobeats Schwung auf, ein gewollt unregelmäßiger Synchrontanz zu dritt, dann zu sechst, stark rhythmisiert und energetisch, aber stets biegsam und lässig. Man spürt den Einfluss von Keersmaeker, deren Tanzschule der in Marrakesch geborene Wahlbrüsseler Mriziga besucht hat, aber auch die Prägung durch Breakdance, Tierfilme und traditionelle Bräuche wie Bogenschießen. Am Schluss stellt sich ein gehörnter Vierbeiner auf die Hinterbeine, ächzt, bricht zusammen und schleudert einen Schrei hin zum kupferroten Mond.


Wüstenmagie unter einem changierenden Vollmond: „Magec / The Desert“ von Radouan Mriziga (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
Wüstenmagie unter einem changierenden Vollmond: „Magec / The Desert“ von Radouan Mriziga (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Demgegenüber fällt unsere Texttheaterauswahl ab. Thomas Ostermeier versetzt mit Mitgliedern der Schaubühne Berlin Ibsens „Wildente“ in unsere Zeit. Die Darsteller sagen „ey“, „hä?“ und natürlich „Scheiße“, aber die Handlungsmotive von Figuren wie Gregers, Hjalmar und Hedvig werden dadurch nicht klarer. Unter dem Strich ein etwas steifes, verquältes und aufgrund des – in der Schreibe der Umschreibung formuliert – „Dauergenöles“ etlicher Schauspieler sehr deutsches Unternehmen.


Deutsches Dauergenöle: Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens „Wildente“ (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
Deutsches Dauergenöle: Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens „Wildente“ (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

Tiago Rodrigues, der Intendant der Festspiele, inszeniert seinerseits in seinem Zweipersonenstück „La Distance“ einen Dialog über die Millionen von Kilometern hinweg, die Mars und Erde trennen. Nach einer viel zu langen Exposition mit spannungslosen Spannungen zwischen einem gluckenhaften Vater und einer nach Unabhängigkeit strebenden Tochter weckt endlich eine dramatische Triebfeder das Interesse: Die Ausgewanderte verrät, dass sie auf Wunsch des faschistoiden Konzerns, in dessen Dienst sie an der Kolonisierung des Roten Planeten mitwirkt, ein Programm zur allmählichen Auslöschung des Gedächtnisses begonnen hat. Noch ist es Zeit, das Unternehmen abzubrechen, doch der Countdown läuft, wovon die immer rascher rotierende Drehbühne zeugt. Wird es dem Vater gelingen, die selbst zunehmend Verunsicherte umzustimmen?


Vater-Tochter-Drama in einer abgekapselten Welt: „La Distance“ von Tiago Rodrigues (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon) 
Vater-Tochter-Drama in einer abgekapselten Welt: „La Distance“ von Tiago Rodrigues (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon) 

Einen weniger papierenen Text sowie unkonventionellere darstellerische Leistungen bietet endlich „Fusées“ von Jeanne Candel. Auch da eine Weltraum-Dystopie, die von zwei im All gestrandeten Kosmonauten handelt. Boris ist faul und verdrießlich, Kyrill hyperenergetisch und ein bisschen bossy. Ihre unfreiwillige Kohabitation entbehrt nicht der Komik, doch noch mehr erheitern pantomimisch-lautmalerische Szenen wie Fortbewegungen im schwerelosen Raum, durch Übertragungsprobleme geplagte Dialoge zwischen Basis und Raumstation oder eine verbotene Spritztour im Lichtgeschwindigkeits-Rover. Letzterer strandet auf dem Zwergplaneten Eris, der erst 2005 entdeckt und noch nie von einer Raumsonde untersucht wurde. So führte unsere Entdeckungsreise durch die Galaxie der Tanz- und Theaterkunst per aspera ad astra: Vorbei an Schwarzen Löchern, singenden Sternen und roten Planeten hinein in Winkel des Sonnensystems, die noch fast unerforscht sind.


Da flattern die Lefzen: Boris und Kyrill auf Spritztour im Lichtgeschwindigkeits-Rover. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)
Da flattern die Lefzen: Boris und Kyrill auf Spritztour im Lichtgeschwindigkeits-Rover. (Bild: Christophe Raynaud de Lage / Festival d’Avignon)

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