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Am Scheideweg

Das Comic-Festival von Angoulême in der Krise


Bis heute Morgen war das größte frankophone Comicfestival (das zugleich auch das bedeutendste in Europa ist) akut bedroht. Ob die für den kommenden Januar angesetzte 53. Ausgabe des Festival international de la bande dessinée (FIBD) in Angoulême stattfinden könnte, schien ungewiss. Zwischen den Organisatoren und einem zunehmend großen Teil des Berufsstands der Comicautoren und -verleger schwelt seit geraumer Zeit ein Konflikt.


Im ver­gangenen Januar, kurz vor der Eröffnung der jüngsten Ausgabe des Festivals, hatte die Zeitschrift „L’Humanité Maga­zine“ das Ergebnis monatelanger Recherchen veröffentlicht, die einem verbreiteten Unbehagen in der Comicszene nachgingen. Von ­toxischer Personalführung war da die Rede, von undurchsichtiger Buch­haltung, merkantilen Entgleisungen und dem Verdacht der Vetternwirtschaft.


Bereits in den Vorjahren waren Missstände dieser Art kritisiert worden, durch Presseartikel, einen Bericht des regionalen Rechnungshofs sowie eine in Buchform veröffentlichte „Gegen-Geschichte“, die Nicolas Finet mitverfasst hat, ein ehemaliger Programmverantwortlicher und Ausstellungskurator des FIBD. Doch „L’Humanité Magazine“ geißelte darüber hinaus die saftige Preiserhöhung des für alle vier Tage gültigen Festivalpasses von 35 auf 60 Euro, die ebenso wenig glamouröse wie gesunde Wahl der Schnellrestaurantkette Quick zum Hauptsponsor sowie vor allem die Entlassung einer Mitarbeiterin, die Anzeige erstattet hatte wegen einer Vergewaltigung, die sie während der Ausgabe von 2024 erlitten habe. Unterstützung von den Verantwortlichen des Festivals scheint die junge Frau nicht erhalten zu haben; Polizeiermittlungen und ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht wegen ungerechtfertigter Kündigung sind im Gang.


Das Festival international de la bande dessinée hat eine doppelte Struktur. Der historische Trägerverein FIBD besitzt den Markennamen der 1974 erstmals ausgerichteten Veranstaltung, seine Präsidentin ist Delphine Groux. Seit 2007 delegiert das FIBD die Organisation der Veranstaltung an das Privatunternehmen 9e Art+, sein Leiter ist Franck Bondoux. Von diesem sagen viele, er sei ein schlechter Kommunikator, setzte mehr auf Vermassung als auf die Förderung von Comic-Kunst und entbehre einer strategischen Vision, wie der häufige Wechsel der künstlerischen Leitung bezeuge. Bondoux verweist dagegen auf das innert zwei Jahrzehnten auf 6,2 Millionen Euro verdreifachte Budget (das sich heute zu 44 Prozent aus Subventionen speist) und auf den Umstand, dass ein Festival, das 200 000 Besucher anzieht, schwerlich erfolglos genannt werden könne.


Delphine Groux und Franck Bondoux 2025 am FIDB (Bild: flickr)
Delphine Groux und Franck Bondoux 2025 am FIDB (Bild: flickr)

Groux und Bondoux verstehen sich ausgezeichnet. So ausgezeichnet, dass Erstere am Samstag den Vertrag von Letzterem ein weiteres Mal verlängert hat, gleich um neun Jahre – und das ungeachtet der Drohung von rund vierhundert Autorinnen und Autoren im Frühjahr, sie würden im Fall einer Vertragsverlängerung von Bondoux der 53. Ausgabe fernbleiben.


Groux’ Entscheidung hatte denn auch prompt das Fass zum Überlaufen gebracht. Einundzwanzig Träger des „Grand Prix“ (unter ihnen internationale Berühmtheiten wie Blutch, Florence Cestac, Julie Doucet, Riad Sattouf, Posy Simmonds, Art Spiegelman, Jacques Tardi, Lewis Trondheim und Chris Ware) kündigten ihren Boykott der nächsten Ausgabe an. Dasselbe ­taten prominente Träger anderer Preise des FIDB wie Daniel Clowes, Luz, Catherine Meurisse, Pascal Rabaté oder Joe Sacco, große französische und belgische Comicverlage wie Casterman, Dargaud, Delcourt, Denoël, Dupuis, Glénat oder Le Lombard und auch die im Syndicat des éditeurs alternatifs vereinten „kleinen“ Häuser. Am Ende stellte sich auch Xavier Bonnefont, der Bürgermeister von Angoulême, der zunächst die Entscheidung des FIDB begrüßt hatte, gegen den Trägerverein. Es gehe nicht an, erklärte Bonnefont am Mittwoch, dass die für seine Stadt so wichtige Ver­anstaltung an die Wand gefahren werde.


Heute Morgen nun hat das FIDB sein vielen undurchsichtig scheinendes ursprüngliches Auswahlverfahren annulliert. Ein Komitee aus Vertretern des Trägervereins, des ­Berufsstands der Comicautoren und -verleger sowie der öffentlichen Finanzierer soll bis zum 18. Dezember ge­bildet werden, um „die strategischen Orientierungen und Prioritäten“ einer neuen öffent­lichen Ausschreibung zu definieren. Das Kapitel Franck Bondoux scheint damit abgeschlossen, und auch Delphine Groux’ Sessel gleicht wohl zunehmend einem Schleudersitz.


Doch über diese Personalien hinaus stellt sich die Frage nach einer Neuaufstellung der Trägerstrukturen. Eine solche ist auch bei anderen französischen Festivals erfolgt, die wie jenes von Angoulême einst durch Enthusiasten gegründet worden waren, lange Zeit die Form von Privatvereinen besaßen, aufgrund ihres enormen Wachstums und der Involvierung der öffentlichen Hand (via Vergabe substanzieller Subventionen) aber nach schwerer Krise auf solidere Fundamente hatten gestellt werden müssen – zuvörderst jene von Avignon und von Aix-en-Provence.


Das FIDB steht am Scheideweg. Es könnte eine „Comic Con“ werden, jener Typ von kommerzieller Kirmes mit Cosplay, Pokémon, Videospielen und Fernsehserien, wie ihn das italienische Lucca Comics & Games verkörpert, dessen französischer Nach­ahmer das Festival von Angoulême anfangs war. Oder aber eine ambitionierte Messe, die – auch dank der endlich fester geknüpften Bande zur 2009 in Angou­lême eröffneten Cité internationale de la bande dessinée et de l’image – Repräsentativität, Attraktivität und Qualität miteinander verbindet. Letzteres würde es dem Festival ermöglichen, zum Geist seiner Anfänge zurückzufinden.


Die Cité internationale de la bande dessinée et de l'image hinter einer Statue von Corto Maltese (Bild: flickr)
Die Cité internationale de la bande dessinée et de l'image hinter einer Statue von Corto Maltese (Bild: flickr)

 

 

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