Die Urteile im Prozess zur Enthauptung des französischen Schullehrers Samuel Paty werfen Fragen auf
Der Pariser Prozess gegen acht Angeklagte mit – zum Teil sehr loser – Verbindung zum Mörder des am 16. Oktober 2020 enthaupteten französischen Schullehrers Samuel Paty ist am Freitagabend unter Hochspannung zu Ende gegangen. Spannung herrschte bezüglich der Urteile: Die Sachlage war klar, doch die Interpretation der im Lauf des Verfahrens etablierten Fakten ließ die Entscheide der fünf Richter des Pariser Sonderschwurgerichts ungewohnt offen erscheinen. Spannung entlud sich bei der Urteilsverkündung auch im Saal, wo Applaus und Protestgeschrei niedergehalten werden mussten.
Drei Kategorien von Angeklagten saßen auf der Bank. Mit abnehmender Schwere: die „Logistiker“, zwei Freunde des kurz nach begangener Tat erschossenen Mörders, die diesem bei der Waffensuche geholfen und/oder ihn zum Tatort gefahren hatten. Die „Denunzianten“, der Vater einer Schülerin Patys sowie ein islamistischer Agitator, die den Lehrer in den asozialen Medien als „Gotteslästerer“ angeprangert hatten. Endlich die „Couchkrieger“, vier Exponenten der „Dschihadosphäre“, die den künftigen Henker online in seiner radikalen Einstellung bestärkt hatten.
In jeder dieser drei Kategorien werfen die Urteile Fragen auf. Die vier „Couchkrieger“ kannten den künftigen Mörder nicht persönlich und wussten nichts von seinem blutigen Vorhaben, sie hatten lediglich – wenn man so sagen kann – in einer Snapchat-Gruppe mit ihm Worte der Verblendung und des Fanatismus ausgetauscht. Die Urteile gegen sie folgten weitgehend den Anträgen der Staatsanwaltschaft, doch ist unklar, warum die längste Gefängnisstrafe – 5 Jahre, davon 30 Monate auf Bewährung – ausgerechnet über jenen Angeklagten verhängt wurde, der als einziger glaubhaft Scham und Reue für seine seit 2020 aufgegebene dschihadistische Gesinnung bezeigt hatte.
Die beiden „Logitisker“, zum Tatzeitpunkt kaum volljährig, erschienen ihrerseits als allzu hilfsbereite Freunde, die zum falschen Zeitpunkt dem falschen Individuum die falsche Art von Unterstützung hatten zukommen lassen. Beide waren am Islam, erst recht am Islamismus nicht interessiert; dass sie von dem blutigen Vorhaben des künftigen Mörders gewusst hätten, konnte nicht nachgewiesen werden. Die vorgebrachten Gründe, warum sie diesen beim Waffenkauf begleitet hatten, tönten nicht unplausibel. Und warum sie wissentlich bei den Vorbereitungen zu einem Attentat geholfen haben sollten, an dessen Ausführung sie nicht teilnahmen und dessen Beweggründe sie ablehnten, ist schwer nachvollziehbar.
Doch das Gericht befand, die beiden hätten um die Gefährlichkeit ihres radikalisierten Freunds gewusst und die Möglichkeit eines Gewaltakts zumindest in Betracht ziehen müssen. Dass die Sachlage sich in diese oder jene Richtung interpretieren lässt, zeigt dabei der Umstand, dass die ursprüngliche Anklage von „Beihilfe zum terroristischen Mord“ im Plädoyer der Staatsanwaltschaft auf „association de malfaiteurs terroriste“ („kriminelle Vereinigung mit terroristischem Ziel“, kurz: AMT) abgemildert worden war, worauf maximal 30 Jahre Gefängnis stehen. Bevor die Richter in ihrem Urteil dann zur ursprünglichen Qualifizierung zurückkehrten – aber statt lebenslänglich eine Haftstrafe von jeweils „bloß“ 16 Jahren verhängten.
Eine neue Jurisprudenz haben die Richter endlich im Fall der beiden „Denunzianten“ geschaffen. Obgleich weder der eine noch der andere den Tod von Paty gewünscht habe, hätten sie zusammen eine „AMT“ gebildet, so das Urteil. Der Vater einer Schülerin von Paty, den diese glauben gemacht hatte, sie sei der Schule verwiesen worden, weil sie dem Lehrer Paroli geboten habe, als dieser seine muslimischen Schüler aus dem Klassenzimmer schicken wollte, um den restlichen Eleven Mohammed-Karikaturen zu zeigen, wie auch ein islamistischer Agitator, für den der (erfundene) Vorfall ein gefundenes Fressen bildete im Rahmen seines Jahrzehntealten Kampfes gegen „staatliche Islamophobie“, hatten im Netz gegen Paty gehetzt.
Sie forderten freilich seine Entlassung, nicht seine Enthauptung. Und zumindest der Vater war kein Islamist, sondern ein konservativer Muslim mit sozialer Ader und einem Hang zum Überbehüten seiner Kinder. Zudem kannte keiner der beiden den künftigen Mörder und hegte weder der eine noch der andere dschihadistische Ambitionen. Doch angesichts des Kontexts hätten beide gewusst, dass ihre Hetze im Netz – gleich einer im Lauf des Prozesses mehrfach beschworenen „digitalen Fatwa“ – einem Gewaltakt den Weg bereiten werde, geißelte das Gericht. Und verurteilte den Vater zu 15 Jahren Gefängnis, den Agitator zu deren 16.
Viele begrüßten, dass die Strafen der vier Hauptangeklagten das geforderte Maß erreichen oder, bei dreien von ihnen, sogar um zwei bis drei Jahre übersteigen. Der Staat habe ein Exempel statuiert, lautete der Grundtenor der positiven Reaktionen. Gegen den Dschihadismus gilt es gewiss hart durchzugreifen – doch um den Preis handfester Beweise sowie verhältnismäßiger Strafen?, fragten andere. Die Urteile basierten fast ganz auf unterstellten Intentionen, auf einem Kontinuum zwischen Worten und Taten, bei dem der Punkt, an dem Denkfreiheit in Beihilfe zum Mord umkippt, schwer bestimmbar sei. Und sie weiteten das Feld der „AMT“ in einem Maß aus, dass dieser seit seiner Schaffung 1996 als schwammig verschriene Strafbestand auf praktisch jeden Aktivisten angewandt werden könne.
Einer der Verurteilten hat bereits Berufung eingelegt – man darf gespannt sein auf den zweiten Prozess.
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