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Vom Veteranentreffen zur Superproduktion

Aktualisiert: 6. Juni

Gedenken an den D-Day – was die Zeremonien zur alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 über ihre jeweilige Zeit sagen


1943 wechselte die Angst in Europa die Seite. Hitlers Truppen, die seit 1939 von Sieg zu Sieg geflogen waren, erlitten bei Stalingrad (Februar), in Tunesien (Mai) und bei Kursk (August) verlustreiche Niederlagen. Im November versprachen Churchill und Roosevelt Stalin eine Landung in Nordwesteuropa, um die russische Front zu entlasten. Bis Mai 1944 wurden knapp 1,7 Millionen Soldaten und über 13 Millionen Tonnen Kriegsmaterial aus den USA nach Großbritannien geschifft. Eine 156 000 Mann starke Vorhut, durch 5000 Bomber unterstützt, landete am 6. Juni in der Normandie. Die Deutschen, durch gezielte Desinformation getäuscht, erwarteten eher eine Invasion im Pas-de-Calais, zur belgischen Grenze hin. Trotz schlechtem Wetter und hohem Wellengang konnten Amerikaner, Briten und Kanadier an fünf Stränden entlang einem 80 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Caen und Cherbourg Fuß fassen. Die Verluste am Ende des ersten Tags beliefen sich auf 10 000 statt der erwarteten 25 000 Mann. Nur an dem „Omaha“ getauften Strand bei Saint-Laurent-sur-Mer kam es zu einem Blutbad.


(Bild: flickr)

Der folgende Kampf im Landesinneren verlief hingegen nicht nach Plan. Die Deutschen, zahlenmäßig und materiell unterlegen, stellten ihre verfügbaren Kräfte rasch auf und nutzten die Topografie geschickt. Die normannische Hügel- und Heckenlandschaft erwies sich als wenig praktikabel für Panzerfahrzeuge. Infanteristen konnte hinter jedem Busch ein Maschinengewehr erwarten. Dauerregen tat ein Übriges, um den Vormarsch zu erschweren. So fiel Cherbourg erst Ende Juni, Caen, in Schutt und Asche gelegt, am 20. Juli. Erst danach gelang der Durchbruch. Indes scheiterten zwei Versuche, die Nazitruppen zu umzingeln. Zwar wurde bis Mitte September in raschem Vormarsch fast das gesamte französische Territorium zurückerobert. Doch rund 200 000 deutschen Soldaten gelang der Rückzug auf heimischen Boden. Dort erwarteten sie die Angloamerikaner festen Fußes. Die alliierten Befehlshaber, die am Herbstanfang den unmittelbaren Zusammenbruch des Reichs prophezeiten, würden sich eines Besseren belehrt sehen.


(Bild: flickr)

Als Deutschland dann endlich besiegt war, fand schon die erste Gedenkzeremonie an den D-Day statt. Britische Soldaten hielten sie 1945 bei Arromanches ab, im Beisein des Boschafters ihres Landes. Vier Jahrzehnte lang würden Veteranen und Anwohner am 6. Juni jeweils an „ihren“ Strand pilgern: Die Amerikaner nach „Omaha“ und „Utah“, die Briten nach „Gold“ und „Sword“, die Kanadier nach „Juno“. Ein Präfekt, bisweilen ein Minister würde sich zu ihnen gesellen – nie jedoch ein Staats- oder Regierungschef. Vor allem nicht de Gaulle, der erst kurz vor dem D-Day über die Landung informiert worden war und später als Präsident die Gedenkzeremonien als „eine angelsächsische Angelegenheit, von der die Franzosen ausgeschlossen worden waren“, boykottierte. Für ihn zählte einzig die Landung eines zu zwei Dritteln aus Landsleuten zusammengesetzten Expeditionskorps‘ in der Provence ab dem 15. August 1944.


(Bild: flickr)

Es war der Sozialist Mitterrand, der 1984 den Zeremonien das internationale Format gab, das ihnen bis heute eignet. Ehemalige Kriegsparteien wurden eingeladen (die Deutschen brauchten zwanzig Jahre, um sich zu einer Zusage durchzuringen, und schickten erst 2004 einen Kanzler: Gerhard Schröder). Mitterrands Ehrengäste, unter ihnen Elizabeth II. und Ronald Reagan, erwartete vor einer auf „Utah Beach“ errichteten Riesentribüne ein grandioses Militärdefilee mitsamt Präsidentenansprache. Die nachfolgenden runden Gedenktage akzentuierten den Hang zum Spektakulären und Telegenen. 1994 landeten Militärverbände an „Utah Beach“ in Kähnen, die an jene von 1944 erinnerten. 2004 mimten Tänzer Kampfszenen vor auf Riesenbildschirme projizierten Archivbildern. 2014 evozierte ein um Didaktik bemühtes Multimediaspektakel Krieg, Besetzung, Résistance, alliierte Landung und den endlich wiedergefundenen Frieden.


(Bild: flickr)

Diese „Superproduktionen“ trugen dem Umstand Rechnung, dass der D-Day – dank oder wegen Spielfilmen wie „Der Längste Tag“ und „Der Soldat James Ryan“ sowie Videospielen wie „Call of Duty“ – da schon längst als Vorlage für Fiktionen fungierte. Denn er bietet, wie der auf den Zweiten Weltkrieg spezialisierte Historiker Olivier Wieviorka gern betont, einen Plot wie für einen Roman, überlebensgroße Figuren wie Eisenhower, Montgomery und Rommel sowie Spannungsmomente zuhauf. Wenig Wunder, beutet man in der seit je geschäftstüchtigen Normandie die entsprechende Goldader aus. Der Regionalverlag Orep kündigt heuer so nicht weniger als fünfzig Neuheiten zum achtzigsten Jahrestag des D-Day an. Darunter ein 119 Euro teurer, vier Kilogramm schwerer Wälzer, der auf knapp 1200 Seiten die Militäroperationen zwischen dem 6. Juni und dem 25. August 1944 bis ins kleinste Detail rekapituliert – will man das derart genau wissen? Aber auch Comics, Kuriosa und ein „D-Day-Trivial Pursuit“ zum Zeitvertreib auf Reisen. Noch profaner das vom Präsidenten des Regionalrats mitgetragene Megaprojekt eines ursprünglich selbstsprechend „D-Day-Land“ benannten privaten Themenparks unweit von „Sword Beach“. Tausend Zuschauer sollen da jeweils eine Dreiviertelstunde lang auf einer mobilen Tribüne an Kulissen vorbeigleiten, vor denen Figuranten fünfundzwanzig „historische“ Szenen nachstellen. Veteranen und ihre Nachfahren geißeln das Vorhaben als zynische Geldmacherei.


(Bild: flickr)

Doch auch ohne kommerzielle Hintergedanken lässt sich die alliierte Landung gut „verkaufen“. Sie löste schon seinerzeit als Signal der Befreiung Europas in allen besetzten Territorien zwischen Biarritz, Hammerfest und Rhodos Freudentaumel aus. Und ist bis heute positiv konnotiert als Emblem des erfolgreichen Kampfes gegen eine moralisch verkommene Diktatur mit Hegemonialanspruch. Dies vor allem in den USA – in Kanada ist der D-Day nicht Gegenstand einer „nationalen Erzählung“, in Großbritannien spielt der Blitz einer prominentere Rolle, in Australien der Pazifikkrieg. Neben der Feier der freiheitlichen Werte dienen die runden internationalen Zeremonien auch der Bekräftigung der transatlantischen Bande – trotz Verstimmungen, wie sie Frankreichs Ablehnung des Irakkriegs 2003 oder Trumps Breitseiten gegen die NATO seit 2016 auslösten.


(Bild: flickr)

Nach Russlands Annexion der Krim im März 2014 weckten dann die am folgenden 6. Juni inaugurierten Vierergespräche im „Normandie-Format“ zwischen Russland, der Ukraine, Deutschland und Frankreich Hoffnungen. Diese erwiesen sich indes als trügerisch – Kreml-Kenner hatten es vorausgesagt. Unter den rund zwanzig Staats- und Regierungschefs, die heute Nachmittag gemeinsam mit Emmanuel Macron an „Omaha Beach“ des D-Day gedenken werden, findet man so Joe Biden, Olaf Scholz, Rishi Sunak, Justin Trudeau und Wolodymyr Selenskyj – nicht jedoch Wladimir Putin. Der durch den Internationalen Strafgerichtshof gesuchte mutmaßliche Kriegsverbrecher wurde, wie auch jeder andere Vertreter der Russischen Föderation, zur Persona non grata erklärt. Die entscheidende Rolle der Roten Armee im Kampf gegen das Hitlerregime werde man aber weiterhin würdigen, erklärte das Élysée. Und fügte als Seitenhieb gegen Moskau hinzu: „Wir haben die Geschichte nie vertuscht oder verfälscht“.


(Bild: flickr)

Neue historische Erkenntnisse zum D-Day legen Frankreichs Verlage unseres Wissens heuer nicht vor. Die monumentale „Nouvelle histoire du Débarquement“ von Peter Caddick-Adams bildet die Übersetzung einer bereits 2019 auf Englisch erschienenen Studie. Olivier Wieviorkas „Geschichte durch Infografik“ der alliierten Landung basiert auf einer Publikation von 2007 und enthält irritierende Diskrepanzen zwischen Text- und Bildseiten. Interessant ist dagegen die laufende Erforschung eines ehemaligen Steinbruchs bei Caen durch Wissenschaftler des Institut national de recherches archéologiques préventives. Hunderte von Stadtbewohnern hatten sich vom 6. Juni 1944 an in dem zwei Hektar großen Kalksteinlabyrinth in Sicherheit gebracht vor den Kämpfen und alliierten Bombardierungen, die bis Ende August mindestens 19 000 Zivilistenleben forderten. Bei ihrer überstürzten Evakuierung Ende Juli ließen die unfreiwilligen Höhlenbewohner über 7700 Gegenstände zurück. Die Art und Weise, wie diese unangetastet im Lauf der Jahrzehnte verschimmeln, verrosten oder im Boden versinken lässt erhellende Rückschlüsse zu auf Refugien der Bronze- und Eisenzeit. Und sogar auf die Gegenwart – genau dieselben Bilder, so ein Archäologe, sehe man heute in unterirdischen Parkhäusern, in die sich Ukrainer flüchten…



Verwendete Literatur:

Olivier Wieviorka, Cyriac Allard: Le Débarquement. Son histoire par l'infographie. Éditions du Seuil, Paris 2024. 224 S. Euro 31.-.

Le Monde: 1944. Des débarquements à la libération de la France. Société éditrice du Monde, Paris 2024. 98 S., Euro 11,50.

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