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Vom verfemten Stadtkind zum Touristenmagneten

Eine große Ausstellung und mehr – auf den Spuren von Paul Cézanne in Aix-en-Provence


Fun Fact: Paul Cézanne (1839 bis 1906) zeichnete stets „Cezanne“, weshalb man den Namen eigentlich „Sösann“ statt „Sesann“ aussprechen müsste. Wir halten uns hier trotzdem an die Schreibweise (fast) aller Museen und Bücher der Welt. Zweiter, weniger vergnüglicher Fun Fact: Cézanne war in seiner Geburtsstadt zeitlebens unverstanden, weshalb sein Sohn nach dem Tod des Malgenies mit Sack und gemaltem Pack wegzog. Erst 1984 erhielt der verfemte Künstler dank staatlicher Leihgaben Einzug in das städtische Kunstmuseum (das seitdem Cézanne-Schau an Cézanne-Schau reiht). Letzter Fun Fact: Eine große Ausstellung im Musée Granet bildet jetzt die Pièce de Résistance des kunsttouristischen Programms „Cezanne 2025“ (ohne Akzent), das diesen Sommer und darüber hinaus die Einschreibung des Malers in das Aixer Territorium feiert – und das ohne jedes Jubiläum!


„Cezanne au Jas de Bouffan“ (sic) befasst sich spezifisch mit dem Sitz der Familie zwischen 1859 und 1899. Ein Herrenhaus (bastide) mitsamt Bauernhof und 15 Hektar Ackerland westlich des damaligen Aix (heute sind zwei Drittel der ehemaligen Anbaufläche verstädtert und sogar durch einen Autobahnzubringer entstellt). In der Literatur wird das Anwesen oft als das beschrieben, was Götz Adriani in seiner Lebens- und Werkchronik ein „Prestigeobjekt“ nennt. Tatsächlich waren die provenzalischen bastides von den Landvillen der italienischen Renaissance inspiriert. Im vorliegenden Fall hat man es freilich mit einem eher rustikalen dreistöckigen Bau zu tun, in den Cézannes vom Hutmacher zum Bankier aufgestiegener Vater primär nicht aus Renommier-, sondern aus Renditegründen investierte – das Anwesen wurde seinerzeit durch Pächter bewirtschaftet.


Die Hauptfassade der Bastide du Jas de Bouffan (Bild: Michel Fraisset)
Die Hauptfassade der Bastide du Jas de Bouffan (Bild: Michel Fraisset)

Alles, was heute irgendwie (neu)reich aussieht, ist der Familie Granel-Corsy zu verdanken, die den Jas de Bouffan 1899 übernahm und in ein gehobenes Weingut verwandelte: Die stattliche Umfassungsmauer mit Metallportal vor der Platanenallee am Nordeingang, der zentrale Balkon und die vier Fratzenköpfe der Hauptfassade, die Orangerie mit gusseisernen Medici-Vasen und die im Park verteilten Skulpturen aus rotem Ton… Wohingegen zu Cézannes Zeiten das Herrenhaus Spuren seiner vier Jahrzehnte währenden Unbewohntheit Anfang des 19. Jahrhunderts trug. Und der Geiz des Patriarchen auch nach der partiellen Instandsetzung eine Stimmung von „Austerität“ verbreitete (so Émile Zola), wo nicht gar von „schwarzer Knauserigkeit“ (so Auguste Renoir).


Die gartenseitige Fassade des Herrenhauses, vom Wasserbecken aus gesehen (Bild: Michel Fraisset)
Die gartenseitige Fassade des Herrenhauses, vom Wasserbecken aus gesehen (Bild: Michel Fraisset)

Eine palladianische Villa war (und ist) die Bastide du Jas de Bouffan jedenfalls nicht. Den großen Salon zierte einst das ungleich bescheidenere provenzalische Pendant venezianischer Fresken: Ein aus neun großen Paneelen bestehendes Wanddekor, das der junge Cézanne zwischen 1860 und 1870 schuf. Im 20. Jahrhundert trugen mehr am Geld als an der Kunst interessierte Besitzer diese Malereien ab- und auf Leinwände über, die sie an Museen und Sammler auf drei Kontinenten verkauften. Beim Besuch des im Rahmen von „Cezanne 2025“ für das Publikum eröffneten Herrenhauses spuken über die leeren Wände des Salons Lichtprojektionen, die die einstigen Paneele evozieren. Ansonsten gibt es in dem sommerflimmernd geisterhaften Bau nur noch ein Zimmer mit Stuckaturen zu besichtigen, die Cézanne inspirierten, und das kleine Dachatelier mit großem Fenster in Nordlage, dessen Einrichtung Louis-Auguste dem Sohn 1882 gestattete. Von weither sollte man um des Jas de Bouffan willen nicht anreisen, es sei denn, man zählt zu jenen Zeitgenossen, die Gänsehautmomente erleben, wenn sie auf denselben Koordinaten stehen wie einst große Figuren der Geschichte.


Der Grand Salon in seinem heutigen Zustand – die weiß ausgesparten Flächen zierten einst Wanddekors von Cézanne. (Bild: Ville d’Aix-en-Provence)
Der Grand Salon in seinem heutigen Zustand – die weiß ausgesparten Flächen zierten einst Wanddekors von Cézanne. (Bild: Ville d’Aix-en-Provence)

Dasselbe gilt für das neu restaurierte Atelier des Lauves, die letzte von Cézannes rund dreißig Arbeitsstätten zwischen Provence und Île-de-France. Es enthält ebenfalls keine Originalwerke und – bis auf die „letzte Palette“ sowie ein paar von Stillleben her bekannte Objekte – bloß zweitrangige Memorabilia. „Libération“ hat in einem kritischen Bericht aus dem bescheidenen Inhalt der beiden Erinnerungsorte, aus der provenzalisch chaotischen Führung der betreffenden Renovationen und aus der geplanten Errichtung eines neuen Wohn- und Büroviertels am Fuß der Montagne Saint-Victoire, dem heiligen Berg der Cézanniens, ein „Fiasko“ abzuleiten versucht.


Blick ins Atelier des Lauves vor seiner jüngsten Restaurierung (Bild: Sophie Spiteri)
Blick ins Atelier des Lauves vor seiner jüngsten Restaurierung (Bild: Sophie Spiteri)

So weit wollen wir nicht gehen. „Cezanne 2025“ hat gewiss primär den Zweck, Touristen anzuziehen. Aber es ist dennoch erfreulich, dass mit dem Jas de Bouffan, dem Atelier des Lauves und den Bibémus-Steinbrüchen jetzt die drei „kanonischen“ Aixer Erinnerungsorte zugänglich sind. Dass Ausstellungen im Musée du Pavillon Vendôme und im Musée du Vieil Aix die im Lauf der Zeiten stark wechselnde Rezeption des Malers in seiner Geburtsstadt beleuchten. Und dass vor allem das Musée Granet mit der oben erwähnten Schau eine Veranstaltung von internationaler Güte ausrichtet.


„Cezanne au Jas de Bouffan“ punktet mit hochkarätigen Leihgaben der großen Sammlungen in Chicago, Paris, New York, Philadelphia und Washington sowie vier japanischer Museen (aber leider weder der Eremitage noch des Puschkin-Museums). Die Schau vereint gut 130 Werke, die fast alle entweder Teilansichten des Jas de Bouffan zeigen oder aber dort entstanden sind – und oftmals beides. Geschlossenheit war angesichts der abgedeckten Zeitspanne von gut viereinhalb Jahrzehnten sowie der völligen Offenheit, was Thematiken und Techniken angeht, nicht zu erzielen. Dafür fesselt der Chefkurator Denis Coutagne, Präsident der Société Paul Cezanne (ohne Akzent) und Leiter des namentlich mit der Verwaltung des Catalogue raisonné betrauten Forschungs- und Dokumentationszentrums, das in den ehemaligen Bauernhof neben der Bastide du Jas de Bouffan einziehen wird, mit einem Kaleidoskop an Ansätzen.


Teilansicht des rekonstituierten Grand Salon mit den „Vier Jahreszeiten“ um das zentrale Porträt des Vaters herum (Bild: Ville d'Aix-en-Provence, L. Perrey)
Teilansicht des rekonstituierten Grand Salon mit den „Vier Jahreszeiten“ um das zentrale Porträt des Vaters herum (Bild: Ville d'Aix-en-Provence, L. Perrey)

Da ist zunächst eine Rekonstitution des erwähnten Grand Salon in Originaldimensionen mit der Mehrheit der heute lokalisierbaren Paneel(fragment)e – ein heterogenes Nebeneinander aus Allegorien der vier Jahreszeiten, Landschaften im Stil alter Meister, Kopien galanter oder religiöser Szenen sowie „avancierterer“ Übermalungen in der Art Courbets oder im eigenen „style couillard“ um ein zentrales Porträt des Vaters herum. Es folgen Zeichnungen und Gemälde der Freunde und Familienmitglieder, darunter das berühmte Porträt des die Zeitung „L’Événement“ lesenden Patriarchen mitsamt dem Original des im Hintergrund abgebildeten Stilllebens, das kurz davor entstanden war. Sodann Studien der kahlen oder blätterbehangenen Bäume, der Wiesen und Schilfrohre, des Wasserbeckens samt Delphin und Löwen des Jas du Bouffan. Im Dachatelier entstandene Stillleben, die zu Cézannes bedeutendsten zählen, darunter jenes mit Kirschen und Pfirsichen aus Los Angeles, der Ingwertopf mit Granatapfel und Birnen der Phillips Collection, vor allem aber der durch ungewöhnliche räumliche Tiefe frappierende „Küchentisch“ des Musée d’Orsay, auf dem ein Eck eines ebenfalls in der Schau gezeigten Wandschirms zu sehen ist. Männliche und vor allem weibliche Badende – die „Grandes Baigneuses“ wurden laut einem Augenzeugen, Joachim Gasquet, Verfasser des ersten Buchs über Cézanne, im Jas de Bouffan begonnen. Bekannte aus Aix: Gasquet und sein Vater, aber auch Bauern und Mägde, die (gesichert oder mutmaßlich) Modell saßen für Ikonen wie „Mann mit Pfeife“, „Die Kartenspieler“ oder „Frau mit Kaffeekanne“.


Stillleben mit Kirschen und Pfirsichen, 1885-1887 (Bild: 2024 Museum Associates / LACMA. Licenciée par Dist. GrandPalaisRmn / image LACMA)
Stillleben mit Kirschen und Pfirsichen, 1885-1887 (Bild: 2024 Museum Associates / LACMA. Licenciée par Dist. GrandPalaisRmn / image LACMA)
Die Kartenspieler, 1893-1896 (Bild: GrandPalaisRmn (musée d'Orsay) / Hervé Lewandowski)
Die Kartenspieler, 1893-1896 (Bild: GrandPalaisRmn (musée d'Orsay) / Hervé Lewandowski)

Endlich Bilder „jenseits des Jas de Bouffan“ wie die späten Memento mori mit Totenschädeln oder Veduten der zeitweiligen Wohnorte Bellevue und L’Estaque. Und natürlich die erstmals in den späten 1860er Jahren vom Familiensitz aus auf Papier gebettete und im Lauf der kommenden vier Jahrzehnte fast hundertmal von den verschiedensten Blickpunkten aus verewigte Montagne Sainte-Victoire – hier in einer besonders machtvollen, strukturierten Version, die jener der Eremitage nahekommt und, 2014 in der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt entdeckt, heute auf Wunsch der Nachkommen Cézannes wechselweise in Bern und in Aix zu sehen ist.


Die Montagne Sainte-Victoire, 1897 (Bild: Kunstmuseum Bern, Nachlass Cornelius Gurlitt, 2014)
Die Montagne Sainte-Victoire, 1897 (Bild: Kunstmuseum Bern, Nachlass Cornelius Gurlitt, 2014)

 



Die Ausstellung „Cezanne au Jas de Bouffan“ läuft bis zum 12. Oktober im Musée Granet von Aix-en-Provence.

Katalog: Cezanne au Jas de Bouffan (Hrg.: Denis Coutagne). GrandPalaisRmnÉditions, Paris 2025. 298 S, Euro 39.-.


Weitere verwendete Literatur:

Götz Adriani: Paul Cézanne. Verlag C. H. Beck, München 2006. 128 S., Euro 8,95.
 

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