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Flüsterer und Verzauberer

Wenn Steine zu einem feinhörigen Poeten sprechen – die mineralischen Miniaturwelten des Roger Caillois in einer Ausstellung und zwei hochkarätigen Neupublikationen


Wer in eine der fünf Akademien des Institut de France gewählt wird, gibt ein kunstvolles Akademikerschwert in Auftrag. Die Tradition will, dass dieses die Interessen des Trägers widerspiegelt. Anlässlich seiner Aufnahme in die Académie française 1971 bestellte Roger Caillois (1913 bis 1978) so bei dem Juwelier Jean Vendome eine épée d’académicien mit einem blauen Turmalin am Heft, einem Moldaviten und fünf kleinen Diamanten am Knauf, einem Kraken aus 176 Böhmischen Granaten an der Parierstange und weiteren Schmucksteinen in der ausgehöhlten Klinge.


Roger Callois‘ Akademikerschwert (Bild: Lyon, Musée des Confluences – Benjamin Chelly)
Roger Callois‘ Akademikerschwert (Bild: Lyon, Musée des Confluences – Benjamin Chelly)

Die Liebe zu Mineralien, die Caillois besingen würde wie kein anderer nach ihm und keine zweite vor ihm, nicht einmal Pablo Neruda, J. M. G. Le Clézio oder George Sand, war dem während des Zweiten Weltkriegs in der Pampa, sprich: in Argentinien gestrandeten Mitgründer des Pariser Collège de sociologie durch einen bei einem Abstecher nach Brasilien erworbenen Quarz gekommen. Diesen hatten ihm Zöllner bei der Rückreise nach Buenos Aires beschlagnahmt – zurück blieben ein Phantomschmerz und der erste Beiname für einen Stein: „Le Fantôme“. Die eigentliche Sammlertätigkeit begann zehn Jahre später; bis zu seinem frühen Tod infolge ungehemmter Begeisterung für Galliens Gaumenfreuden würde Caillois, den Reisen als hoher UNESCO-Beamter namentlich nach Nord- und Südamerika sowie nach Ostasien führten, annährend tausenddreihundert Steine zusammentragen.

Eine bezaubernde Schau im Hôtel de Mercy-Argenteau am Pariser Boulevard Montmartre, in welches die durch das Haus Van Cleef & Arpels mitgetragene École des arts joailliers (Schule der Juwelierkunst) letztes Jahr eingezogen ist, stellt rund zweihundert dieser Sammlungsstücke in einer ebenso ästhetischen wie erhellenden Präsentation entsprechenden Texten des Dichters gegenüber.


Ansicht der Ausstellung „Rêveries de pierres: Poésie et minéraux de Roger Caillois“ (Bild: L'École des arts joailliers)
Ansicht der Ausstellung „Rêveries de pierres: Poésie et minéraux de Roger Caillois“ (Bild: L'École des arts joailliers)

Nach einer gerafften biografischen Einleitung beleuchtet der zweite Saal so Caillois‘ Begeisterung für die erwähnten Weltgegenden. In den beiden Amerikas faszinierten ihn die Einöden Patagoniens, Oklahomas und Nevadas – wobei ausgerechnet das ewigblühende Emblem der Wüste, die saharische Sandrose, ihm als gutbürgerliches Must-have der Kolonialzeit verhasst blieb. Japan beschenkte ihn mit einem in Amethyst skulptierten Netsuke-Zierknopf in Form eines Kopffüßers, dem er einen ganzen Essai widmete („Der Krake. Versuch über die Logik des Imaginativen“), und mit einem „Der Offiziant“ titulierten Kalkspat, der wie ein Shinto-Priester im weißgestärkten Gewand mit angewinkelten Ellenbogen die Hände in die Ärmel steckt. China war noch freigebiger, mit einer hochgezüchteten Kultur der Mineralophilie und mit Identifikationsfiguren wie Mi Fu, dem malenden Stein-Narren aus der Zeit der Nördlichen Song. Doch auch in der Alten Welt fanden sich Inspiratoren für Caillois‘ luzide Wortträumereien über Steine – namentlich Leonardo, der in den Flecken und Rissen von Mauern Berge, Flüsse und Täler sah, oder Athanasius Kircher, der in toskanischen pietre paesine („Ruinenmarmoren“) Landschaften, turmbewehrte Städte oder gar das brennende Troja entdeckte.


Ein „Ruinenmarmor“ aus dem Arnotal (Bild: Paris, Muséum national d'histoire naturelle, collection de minéraux et gemmes – François Farges)
Ein „Ruinenmarmor“ aus dem Arnotal (Bild: Paris, Muséum national d'histoire naturelle, collection de minéraux et gemmes – François Farges)

In auch auf Deutsch übersetzten Werken wie „Steine“, „Die Schrift der Steine“ und der im Dämmerlicht des Lebensabends fantasierten Autobiografie „Der Fluss Alpheus“ versenkte sich Caillois in die Mineralien seiner Sammlung. Er besang in Prosagedichten von seltener Suggestionskraft ihre teils abstrakten, teils figurativen Welten sowie allfälligen Bewohner. Heraufbeschworen werden so Monstren und Masken, Wiedergänger und Schreckgespenster, Amöben, Ektoplasmen und „anamorphe Pseudo-Gesichter“. Wie bei lebenden Organismen diagnostiziert der Poet auch bei scheinbar toten Steinen Verletzungen, bestaunt blutendes Fleisch und regeneriertes Gewebe. Fasziniert durch Algebra und Ordnung, rätselt Caillois über vieleckige Achate, die er „paradoxal“ nennt, weil sie die Gesetze der Symmetrie brechen. Ist die Natur nicht selbst eine Künstlerin? Sie zeichnet obskure Kalligrafien, sinnfreie Ideogramme und „Vorahnungen chinesischer Schriftzeichen“ auf die Oberfläche von Mineralien und skulptiert aus demselben Material „Pseudo-Torsos“, „Venusse in Kieselsteinen“ oder „Mutterschaften des Magdalénien“. Manche ihrer mittels Dendriten, mittels Kristallstrukturen auf Kalktafeln realisierten „Porträts“ lassen sich gar goldgerahmt an die Wand hängen.


Kurz vor seinem Tod Ende 1978 ließ sich Caillois vor einem Teil seiner Mineraliensammlung ablichten (Bild: Sophie Bassouls)
Kurz vor seinem Tod Ende 1978 ließ sich Caillois vor einem Teil seiner Mineraliensammlung ablichten (Bild: Sophie Bassouls)

Letztlich betrachtet der Dichter, einen Gedanken ihm geistesverwandter Universalgelehrter der Renaissance fortspinnend, Steine als Miniaturwelten – als Kondensate des Universums, anorganische Gegenstücke japanischer Gärten, in welchen sparsam gesetzte Objekt-Zeichen das große Ganze symbolisieren. Eine Geode, ein mit Kristallen tapezierter rundlicher Hohlraum, wird ihm so zur umgekehrten Sonne, die ihre gläsern züngelnden Strahlen nach innen richtet. Das Kosmische und das Mikroskopische fallen in diesen mineralischen Paradiesgärten, über denen nach dem Sündenfall bleiche, erloschene Gestirne schweben, in eins. Dabei hütet sich Caillois vor dem „Dämon der Analogie“ (Mallarmé), der dazu verführt, alles mit allem in Beziehung zu setzen. So achtet der Visionär auf die Genauigkeit der Beobachtung und auf die Präzision der Übertragung von Sinnes- und Gefühlseindrücken in Worte, Sätze, Abschnitte, ganze Texte. Das Sinnieren übers Sehen wird so auch zur Reflexion übers Schreiben.


Genauigkeit des Blicks: Caillois im Jahr 1966 mit seinem „Auge und Zwicker“ getauften Achat in Quarz aus Uruguay (Bild: Ethel – Gamma Rapho)
Genauigkeit des Blicks: Caillois im Jahr 1966 mit seinem „Auge und Zwicker“ getauften Achat in Quarz aus Uruguay (Bild: Ethel – Gamma Rapho)

Triftigkeit und Akkuratheit von Caillois‘ Dicht- und Deutungskunst lassen sich aufzeigen durch die Gegenüberstellung von Textpassagen mit den Mineralien, die diese direkt inspiriert haben. Schon zu Lebzeiten hatte die Erstausgabe von „Die Schrift der Steine“ (1970) Fotografien der darin besungenen Sammlungsstücke aufgenommen. 2014 legte François Farges dann in dem superben Sammelband „L’Écriture des pierres“ wesentlich vollständiger bebilderte Ausgaben von „Steine“, „Die Schrift der Steine“ und „Agathes paradoxales“ (nicht auf Deutsch übersetzt) nach.


Jetzt ist dem Professor am hauptstädtischen Muséum national d’histoire naturelle, wo er namentlich die in zwei Schüben 1984 und 2017 fast vollständig vereinte Sammlung von Caillois‘ Steinen betreut, eine Sensation gelungen: die Herausgabe des verloren geglaubten Schwanengesangs „Pierres anagogiques“. Dessen zweiundzwanzig Kapitel konnte Farges 2023 in der Mediathek von Vichy exhumieren, verstreut zwischen tausenden von Manuskripten und Typografien. Einzelne Passagen des hochpoetischen Essais waren schon seit 1974 publiziert worden, zum Teil postum. Aber die meisten sind unveröffentlicht und konnten dank einem mutmaßlichen Inhaltverzeichnis zu einem „hypothetischen potenziellen Buch“ (Farges) zusammengesetzt werden, illustriert mit Fotos der ebenfalls in akribischer Kleinarbeit identifizierten mineralischen Inspirationsquellen.


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Die fast dreihundert Text- und Bildseiten sind von stupender Schönheit. „Pierres anagogiques“ liest sich wie reinster, feinster Caillois. Von Unvollendetheit kann keine Rede sein, so erlaucht ist hier jede einzelne Formulierung ziseliert. Ein Beispiel für viele, der folgende Ausschnitt aus dem Text – einem viertausend Wörter langen einzigen Satz – über einen berühmten Achat, der nach der weißen Erscheinung, die er zu zeigen scheint, lange Zeit „Le Fantôme“ geheißen wurde, von Caillois aber, wie jüngst durch Farges herausgefunden, „Le Paillasse“ („Der Bajazzo“) getauft worden war: „eine vollständige Larve mit einem geschminkten, ausdrucksstarken Gesicht in leuchtenden Farben, das sich in einem wurmförmigen Körper fortsetzt, welchen das Licht durchflutet; es spielt darin, kehrt sich um, wirft sich von einer Kurve in die nächste dieses Glas-Aals, der aus transparenten, miteinander verschweißten Schrägen besteht, bedeckt mit glänzender Seide in geraden, makellosen Faltenwürfen, befestigt und gespannt auf ein starres und zugleich unsichtbares Drahtgestell – ein Phantom –, das sich bisweilen wölbt: ein länglicher, leerer, glitzernder Sack, dessen Glanz ständig schwankt…“ (meine Übersetzung).


Vieleckiger Achat aus Brasilien, getauft „Die Vulva“ (Bild: Paris, Muséum national d'histoire naturelle, collection de minéraux et gemmes – François Farges)
Vieleckiger Achat aus Brasilien, getauft „Die Vulva“ (Bild: Paris, Muséum national d'histoire naturelle, collection de minéraux et gemmes – François Farges)

Wer mit alldem noch nicht genug hat – Caillois macht süchtig –, dem seien die 1080 reich bebilderten Seiten von „Chuchotements & Enchantements“ anempfohlen. François Farges‘ zweisprachige Studie ist allein in digitaler Form (kostenlos) greifbar und wurde im Selbstverlag herausgegeben. Das Fehlen eines versierten Lektors schlägt schmerzlich zu Buche, aber formale Makel werden mehr als aufgewogen durch das profunde Wissen des Autors, der fünfzehn Jahre lang vertieft zum Thema „Caillois und die Welt der Minerale“ geforscht hat. So erfährt man hier alles und noch mehr über das Sammlerprofil des Dichters, seine Inspirationsquellen, seine Rezeption durch professionelle Mineralogen – und kommt obendrein in den Genuss der Lektüre sieben unveröffentlichter Textchen!





Die Ausstellung „Rêveries de pierres: Poésie et minéraux de Roger Caillois“ läuft bis zum 29. März 2026 in der Pariser École des arts joailliers.


Verwendete Literatur:


Rêveries de pierres: Poésie et minéraux de Roger Caillois. Beaux-Arts & Cie, Paris 2025. 50 S., Euro 11.-.

François Farges (Hrg.): Roger Caillois: La Lecture des pierres. Atelier EXB, Paris 2023. 434 S. Euro 59.-.

Roger Caillois: Pierres anagogiques. Gallimard, Paris 2025. 322 S., Euro 49.-.

François Farges: Chuchotements & Enchantements: les pierres inscrites de Roger Caillois. Selbstverlag 2025, hier kostenlos zu lesen.


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