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Voguing auf der Seine

marczitzmann
Zur Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 2024

 


„Im Allgemeinen langweile ich mich nach anderthalb Minuten“, sagt Thomas Jolly gern und oft. Ein Ausspruch, nach dessen Elle man versucht ist, die Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 2024 zu messen, die der 42-jährige französische Theater- und Opernregisseur gestaltet hat. Um den Eindruck in einem Satz zusammenzufassen: Zu lang (wie alle Olympiafeiern) und nicht selten wenig kurzweilig; manchmal zauberhaft, öfter jedoch prosaisch; durchweg bunt, bewegt und eindimensional – kurz: ebenso unausgeglichen und unausgegoren wie Jollys Inszenierungen von Shakespeare und Gounod, Seneca und Marivaux. Die Zeremonie wird, wie auch immer man sie beurteilen mag, in die Geschichte eingehen: Sie ist die erste, die nicht in einem Stadion, sondern auf (und an) einem Fluss ausgerichtet wurde, der Seine. 6 800 Athleten wogten gestern Abend als Vertreter von 206 Landesdelegationen auf 85 Booten und Schiffen vom Pont d’Austerlitz zum Pont d’Iéna; den 6 Kilometer langen Parcours säumten Darbietungen von 3 000 Künstlerinnen und Künstlern.


Die französische Delegation (Bild: Screenshot France 2)

Über 300 000 zahlende Gäste vor Ort hatten zwischen 90 und 2 700 Euro hingelegt, um im Regen schlechtbeleuchtete Wasserfahrzeuge vorbeiziehen zu sehen. Wohl über 1 Milliarde Fernsehzuschauer bekamen dagegen eine ganz andere Schau geboten: eine Mischung aus Liveaufnahmen und eingeblendeten Filmszenen, in zwölf Kapitel unterteilt mit Titeln wie „Synchronizität“, „Solidarität“ oder „Solennität“. Der gefilmte Prolog zeigte den Populärschauspieler Jamel Debbouze verloren im Stade de France: Der Schussel hatte sich mit der olympischen Flamme in der Hand in die große Pariser Sportarena begeben, fand diese aber völlig menschenleer vor. Keine Sorge: „Zizou Christ“ alias Zinedine Zidane übernahm die Fackel, sauste durch ein Hollywoodsches Paris in die Metro hinab, gab dort die Flamme weiter an drei Bengel, die via Katakomben und Canal Saint-Martin zum Pont d’Austerlitz gelangten.


Aya Nakamura auf dem Pont des Arts (Bild: Screenshot France 2)

Zurück in die reale Welt: Eine trikolore Rauchwolke über besagter Brücke versinnbildlichte den Vorhang, der sich für die Delegation Griechenlands hob, traditionell als Geburtsland der olympischen Idee mit der Eröffnung der Feier betraut. Zur berauschenden Beschleunigung von Edith Piafs Walzer „La Foule“, gespielt durch den auf der Brüstung sitzenden Akkordeonisten Félicien Brut, folgten die Athleten mit Flüchtlingsstatus, dann jene Afghanistans, Südafrikas, Albaniens… Eine Faustregel wollte, dass die Kostüme je bunter waren, desto exotischer das Land – was alsbald Aruba exemplifizierte, später gefolgt durch Bermuda (mit pinkfarbenen Bermudas!), Kirgisistan und Samoa. Ebenso originell wie ästhetisch: die durch Michel & Amazonka entworfenen Gewänder der Mongolen mit ihrer Mischung aus traditionellen Stickereien und modernen Schnitten. Einfallslos hingegen die Kostüme nicht nur der meisten streng muslimischen Staaten (allen voran Iran), sondern auch der Modenationen USA (mit properen Preppy-Outfits von Ralph Lauren) und Frankreich (mit marineblauen Smokings von Berluti, deren Revers blau-weiß-rot opalisierte wie der Hals eines Paradiesvogels).


Die mongolische Delegation (Bild: Screenshot France 2)

Zweite Musikeinlage: Lady Gagas Darbietung von Zizi Jeanmaires Chanson „Mon Truc en plume“. Unidiomatisch auf Französisch singend und in einem unvorteilhaft kurzen und engen Büstenkleid vor rosafarbenen Federfächern tanzend, traf der Superstar weder das schelmische Mienenspiel noch die charmant-schlüpfrigen Intonationen des Originals. Eine weitere Poplegende coverte da ungleich schlichter und schlagender: Zum Abschluss der Zeremonie sang Céline Dion in ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit 2020 vom Eiffelturm herab Édith Piafs „Hymne à l’amour“ – und verschmolz dabei Piafs bohrenden Sprachduktus mit ihrem eigenen hehren Pathos. Bis auf John Lennons Song „Imagine“, der mittlerweile zu olympischen Eröffnungsfeiern gehört wie der „Donauwalzer“ zum Wiener Neujahrskonzert, entstammten alle Musikeinlagen dem französischen Repertoire. Wobei manche Arrangements (im Übrigen: sehr gekonnt) Unvereinbares zu vermählen suchten, etwa die französisch-malische R&B-Sängerin Aya Nakamura mit dem Chor und Blasorchester der Republikanischen Garde oder die klassische Mezzosopranistin Marina Viotti mit der Metalband Gojira. Der Abend atmete, nicht unbedingt im Guten, einen Touch Eurovision; immerhin kamen dank Jakub Józef Orliński und Alexandre Kantorow auch Rameau und Ravel zu Gehör.


Lady Gaga in Dior (Bild: Screenshot France 2)

Diverse Stationen entlang der Seine nutzte Thomas Jolly, der zu diesem Zweck namentlich mit dem Historiker Patrick Boucheron zusammengearbeitet hatte, um historische Tableaus zu präsentieren. Ein mysteriöser maskierter Fackelträger schwang sich in gefilmten Einlagen wie das Phantom der Oper, der Meisterdieb Arsène Lupin oder Ezio aus dem Videospiel „Assassin’s Creed Unity“ über die Dächer von Paris und lenkte dabei den Blick auf geschichtsträchtige Gebäude. Wichtige Etappen waren Notre-Dame (mit einem Gerüsttanz zu Renovierungsrhythmen), die Pariser Münze (wo die Medaillen geprägt werden), das Théâtre du Châtelet (wo „Les Misérables“ geprobt wurde), die Conciergerie (wo Marie-Antoinette mit dem Kopf unter dem Arm grüßte) und die Salle Labrouste der alten Nationalbibliothek (wo sich eine stumme Idylle zwischen zwei Lesern entspann, genährt durch die Titel der Werke, die sie lasen, von Verlaines „Romanzen ohne Worte“ bis zu Raymond Radiguets „Teufel im Leib“). Im Louvre wurde der Maskierte Zeuge des Raubs der „Mona Lisa“, im Musée d’Orsay sprang er auf den Spuren der Kinopioniere Lumière und Méliès durch das berühmte Uhrenfenster ins Weltall hinaus. Diese Filmeinlagen verorteten das Gastgeberland als Kulturnation und zeugten selbst mit Witz und Poesie von Erfindungsreichtum.


Marie-Antoinette verliert den Kopf. (Bild: Screenshot France 2)

Leider zerfaserten die abschließenden Kapitel dann in quälender Langatmigkeit. Zehn güldene „große“ Frauenfiguren, von der mittelalterlichen Dichterin und Denkerin Christine de Pizan bis zur neuzeitlichen Menschenrechtlerin Gisèle Halimi, eine queere She-DJ, ein stummer tanzender Gebärdenpoet, bis zur Karikatur schrille Jungdesigner, Dragqueens wie Piche, die bärtige „Königin von Zigeunerland“, Electro-, Krump-, Voguing- und Waacking-Tänzer sowie der singende Sonderling Philippe Katerine, quasi nackt und schlumpfblau gefärbt unter einer Käseglocke, hakten alle rechten, pardon: linken Kästchen ab. Aber der kesse Camp-Ungeist verschwamm im Dauerregen, Rhythmus und Struktur des Spektakels wurden so flau wie im Abenddunst die tropfenverhangenen Linsen der Kameras. Nachdem eine metallisch-mechanische Reiterin mit der olympischen Fahne die Seine hinaufgaloppiert war, fuhr Rafael Nadal im Boot dieselbe Strecke noch einmal ab, reichte die Flamme an nicht weniger als zehn Hände weiter – vor lauter Hinauszögern des Höhepunkts wirkte das Entzünden des olympischen Kessels durch Marie-José Pérec und Teddy Riner am Schluss schier antiklimaktisch. Unvergesslich indes der finale Aufstieg einer goldleuchtenden Montgolfiere mit dem Kessel in den Pariser Nachthimmel.


(Bild: Screenshot France 2)

Unter dem Strich: eine Schau, die mehr auf Breite denn auf Tiefe und Dichte setzte, um einer zehnstelligen Zuschauerzahl zu gefallen. Der kleinste gemeinsame Nenner steht wohl im Lastenheft solcher Veranstaltungen. Zugutezuhalten ist Jolly, dass er mit Frankreichklischees spielerisch umging und dezidiert auf Diversität und Durchmischung setzte. Angesichts der Aktualität eine klare politische Stellungnahme.

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