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Todays‘ Tudors

Musikalische Entdeckung: Alain Altinoglu dirigiert die Kräfte der Brüsseler Monnaie-Oper in einer szenisch missglückten Neuproduktion von Saint-Saëns’ vergessenem Vierakter „Henry VIII“


Anlässlich des hundertsten Todesjahrs von Camille Saint-Saëns (1835 bis 1921) auf den Spielplan der Saison 2020/2021 gesetzt, konnte die Produktion von „Henry VIII“ durch das Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie pandemiebedingt erst jetzt präsentiert werden. Zwei Jahre Verzug sind verschmerzbar für ein Werk, das, 1883 an der Pariser Oper uraufgeführt, schon zu Lebzeiten des Komponisten von den Spielplänen verschwunden war.


Dramatisches Schisma: Heinrich VIII. (Lionel Lhote) erhebt sich zum Oberhaupt der Kirche von England, der Legat des Papstes (Vincent Le Texier) exkommuniziert ihn. (Bild: Matthias Baus)

Ein Kurzresümee des Inhalts mag angebracht sein. England, zur Tudor-Zeit. Zwei Männer lieben dieselbe Frau: König Heinrich VIII., bereits mit Katharina von Aragon verheiratet, und der neue spanische Botschafter, Don Gomez. Letzterer hat von Anne Boleyn in Paris, wo beide zuvor weilten, Liebespfande empfangen – doch ersterer vermag mehr zu bieten. Die Rolle einer Mätresse verschmäht die Hofdame der Königin, aber als Heinrich ihr die Hochzeit verspricht, gibt sie nach. Während eines (Schau-)Prozesses gegen Katharina verweigert der Legat des Papstes die Annullierung der Ehe, woraufhin Heinrich sich von Rom lossagt – und sogleich exkommuniziert wird. Im Schlussakt sucht Anne von der verstoßenen, sterbenskranken Ex-Königin die Herausgabe eines Liebesbriefs zu erwirken, den sie einst an Gomez geschickt hatte. Erst empört über die Dreistigkeit ihrer siegreichen Rivalin, rettet Katharina diese schließlich, indem sie das kompromittierende Schriftstück verbrennt – und segnet mit diesem Akt der christlichen Vergebung das Zeitliche. Der König knurrt, „mit einem schrecklichen Blick zu Anne, die vor Furcht vergeht“, dass wer ihn verhöhnt habe, das Beil fürchten müsse. Vorhang.


Fühlst Du schon das Beil? Anne Boleyn (Nora Gubisch) hat eine böse Vorahnung. (Bild: Matthias Baus)

Was hat „Henry VIII“ zu bieten? Vom Text her nicht viel: Das Libretto mengt amouröse Intrigen, religiöse Konflikte und politische Kämpfe, weiß aber nicht recht, was und wohin es will. Unerträglich wirkt für ein an Fernsehserien geschultes Publikum, dass immer wieder Fährten gelegt, aber nicht verfolgt werden: Das Thema des „englischen Neros“ (Philipp Melanchthon) etwa, gegen den Volk und Adel murren, aber (noch) nicht aufbegehren; der Konflikt zwischen König und Papst, der sich im dritten Akt zuspitzt, im vierten dann aber völlig unter den Tisch fällt; ganz zu schweigen vom unheilvollen Beil-Motiv, dessentwegen das Werk mit einem frustrierenden Cliffhanger endet – das über dreieinhalb Stunden hinweg hochgekitzelte Verlangen nach einem Blaubart der Populärkultur befriedigt „Henry VIII“ nicht.


Le Rouge et le Noir: Während der Synode im dritten Akt schwingt sich Gomez (Ed Lyon) zu Katharinas (Marie-Adeline Henry) Beschützer auf (Bild: Matthias Baus)

Leider macht Olivier Pys Regie die Sache nicht besser. Der neue Leiter des Pariser Châtelet-Theaters traut weder dem Werk, noch dem Publikum, noch seinem eigenen Talent – Letzteres zu Recht. So muss er, erstens, permanent explizieren: Fällt das Wort „Papst“, schreitet sogleich ein Pontifex maximus über die Bühne; ist vom „Buch, das uns vom Himmel kommt“ die Rede, fliegt eine Bibel aus der Höhe; vom ominösen Liebesbrief ganz zu schweigen, der hier ständig irgendwo herumflattert. Zweitens leidet Py an Horror Vacui, wo seine Inszenierungen im Kern doch gerade eines sind: leer. Es gibt kein Vor- oder Zwischenspiel, kein Sologesang oder Ensemblestück, das nicht durch Nebenaktionen möbliert würde. Da wirbeln Tänzer mit Leitern herum, werfen sich Statisten in Pose für Tableaux vivants, fuchteln Protagonisten, die in der betreffenden Szene nichts zu suchen haben, mit dem Revolver herum. Dazu Versatzstücke, die man in fast jeder Py-Inszenierung findet: Schwere Drehbauten, die im Hintergrund kreisen, wohlgebaute junge Leute, halb oder ganz nackt, und das obligate Pferd, als Statue wie auch lebend (kräftiger Applaus).


Offizielles Portrait mit obligatem Pferd und künftiger Ex-Frau: Heinrich VIII. (Lionel Lhote) und Anne Boleyn (Nora Gubisch) (Bild: Matthias Baus)

Drittens und endlich muss der Regisseur partout aktualisieren. So erklärte er vorab, Spiel- und Entstehungszeit von „Henry VIII“ mischen zu wollen. Das könnte erhellend sein, führt der Musikhistoriker Thierry Santurenne im Programmheft doch aus, Saint-Saëns und seine Librettisten hätten in ihrem Renaissance-Stück brandaktuelle Fragen der jungen Dritten Republik aufgeworfen – jene nach der Ehescheidung, jene nach der Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht. Aber hier bleibt es beim bloßen Mengen von Kostümen beider Epochen und beim ungereimten Auftauchen einer Dampflok. Explizieren, Möblieren und Aktualisieren zeitigen unter dem Strich hauptsächlich Dauerbetriebsamkeit – deren quietschende und knallende Begleiterscheinungen die Musik empfindlich stören.


Lautes Bühnenbild: Tische, Stühle, Leitern und Statuen werden herein- und herausgetragen; Turmbauten im Hintergrund rücken vor und zurück oder kreisen um sich selbst; die Schuhe der zehn omnipräsenten Tänzerinnen und Tänzer knirschen greulich auf dem harten Boden. Das alles stört Saint-Saëns‘ Partitur durch permanente Musique-concrète-Einlagen. (Bild: Matthias Baus)

Das ist schade, denn hier vermag „Henry VIII“ zu punkten. Saint-Saëns‘ grand opéra – 1883 war das Genre bereits veraltet – ist durchaus modern: durchkomponiert (das heißt ohne Unterteilung in Nummern, die in sich abgeschlossen sind), mit figurengebundenen Themen versehen (um nicht den mit Wagner assoziierten Begriff „Leitmotiv“ zu gebrauchen) und mit einem Orchesterpart ausgestattet, der oft seine Begleitfunktion durchbricht, um zu sinfonischer Eigenständigkeit zu finden. Saint-Saëns ist mehr Zeichner als Maler, mehr Ingres denn Delacroix: Eines gewissen Maßes im Harmonischen wie in der Periodik begibt er sich nie; melodische Lineatur, Transparenz des Satzes und Raffinement der Instrumentierung stellt er über alles. Aber das schließt Überraschungen nicht aus, etwa Katharinas Klage „Je ne te reverrai jamais“, der fünfundzwanzig (!) Wechsel zwischen nicht weniger als fünf Taktarten etwas faszinierend Freies und Fließendes verleihen.


Katharinas Klage „Je ne te reverrai jamais“ aus dem Album „Les Héroïnes romantiques – Tragédiennes“, das Véronique Gens 2011 mit Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset aufgenommen hat. Gens sollte 2021 in der pandemiebedingt verschobenen Produktion der Monnaie-Oper den Part der Katharina von Aragon singen. Was sie hier an edler Trauer und anrührender Fragilität zu hören gibt, macht bedauern, dass sie heuer nicht in Brüssel auf der Bühne stand. Nach einer Einleitung beginnt bei 1‘36 die eigentliche Klage, die ständig zwischen Drei-, Vier-, Fünf- und Sechs-Viertel- sowie Drei-Halbe-Takt hin und her springt!

Besonderheiten wie die Begleitung von Katharinas „Car je ne suis qu’une étrangère“ durch Arpeggien der Harfe, gebrochene Dreiklänge der Solobratsche und eine Kantilene des Solocellos oder die bedrohlich tiefen, perfide leisen Bassakkorde zu Heinrichs Ansinnen, das Herz seiner ersten Gattin zu martern, erweckt Alain Altinoglu mit bezwingender Wirkung zum Leben. Den Hauskräften der Monnaie, dem musikalischen Leiter, dem Orchester und dem Chor, gebührt ohnehin der Löwenanteil des Lobs für diese Wiederentdeckung und -erweckung. Altinoglus Dirigat besticht so durch Glut und Schneid ebenso sehr wie durch Klangsinn und Flexibilität. Doch auch die soliden Solisten, ohne Ausrutscher nach unten wie Ausreißer nach oben, stellen jene der drei greifbaren CD-Aufnahmen (darunter zwei mit desaströser Aussprache) völlig in den Schatten. Es steht zu hoffen, dass diese Produktion verewigt wird – nicht auf Bild-, wohl aber auf Tonträger!

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