Aus Anlass der Rückkehr von Van Goghs „Sternennacht“ an ihren Entstehungsort: Wie Bice Curiger in zehn Jahren der Fondation Vincent van Gogh Arles ein himmlisches Profil verliehen hat
Ein Ereignis: Vincent van Goghs „Sternennacht“ von 1888 kehrt an ihren Entstehungsort zurück, erstmals überhaupt. Der Fondation Vincent van Gogh Arles ist es gelungen, das Kleinod des Pariser Musée d’Orsay für zwölf Wochen als Leihgabe zu erhalten. Rund um das Gemälde komponiert Jean de Loisy eine beziehungs- und kenntnisreiche Ausstellung. Der Gastkurator greift Hauptkomponenten des Bildes heraus und setzt sie jeweils in Beziehung zu Werken von über siebzig Künstler:innen. Dabei kann es sich um Formal-Ikonografisches handeln (etwa das Genre des Nachtstücks), aber auch und vor allem um den technischen, wissenschaftlichen und geistigen Hintergrund, vor dem das Tableau entstanden ist. Kapitelüberschriften wie „Firmament“, „Das Atelier des Astronomen“, „Die Spiralen des Himmels“ oder „Heilige Observatorien & Wege der Seele“ deuten die Vielfalt der Ansätze an, von Himmelsforschung bis zu mehr oder minder nebulosen Formen kosmischer Spiritualität. Die über 150 Exponate bedienen sich diversester Techniken und wurden zwischen 1861 und 2024 geschaffen.
Die erste Sektion, „Finsternis“, versammelt so Werke, die das nächtliche Urdunkel visualisieren beziehungsweise – wie ein bronzen-kompakter Nachtmahr des Bildhauers Antoine Bourdelle – symbolisieren. Das zweite Kapitel lässt am titelgebenden „Firmament“ die Sonne auf- oder untergehen, wie Van Gogh es selbst in einer späten Zeichnung tut: Das Licht der Welt, hinter Hügeln überdimensioniert aufsteigend, überträgt da seine wellenförmig gestrichelten Vibrationen auf ein wogendes Kornfeld. Der Abschnitt „Kosmos“ vereint um den Clou der Schau, die „Sternennacht“ von 1888, staunenswerte Pastelle von Étienne Léopold Trouvelot (1827-1895), die auf eigenen Beobachtungen des Malers und Himmelsforschers in Personalunion beruhen, sowie Arbeiten, die das quasi musikalische Gleichgewicht der Himmelskörper versinnbildlichen. Etwa ein Mobile der 1979 geborenen Alicja Kwade, bei dem Steine solcherart an Metallstangen hängen, dass alles streng lot- und senkrecht bleibt – ein Balanceakt zwischen Horizontale und Vertikale, den im selben Saal auch Werke von Pauk Klee und Kasimir Malewitsch vollführen.
Nach einem Kabinett, das der Figur des „Apostels der Astronomie“ Camille Flammarion (1842-1925) sowie Geistesverwandten gewidmet ist, beleuchtet die Sektion „Lichter in der Stadt“ eine andere Facette der „Sternennacht“: die essenzielle, aber gern übersehene Rolle, die darin die 1888 frisch installierten Arleser Straßenlaternen spielen. Jean de Loisy versammelt hier Nachtstücke mit künstlicher Beleuchtung, um herauszustreichen, dass Van Gogh in den Fluten der Rhône den Widerschein der Sterne mit jenem der elektrischen Lampen fusionieren lässt. Nach einem Kapitel über „Spiralen“, das auf die wild wirbelnde zweite „Sternennacht“ verweist, die der Kranke 1889 im Hospital von Saint-Rémy malte, lässt der Schlussabschnitt die Seele durch kosmische Landschaften fliegen.
„Van Gogh et les étoiles“ ist eine Ausstellung, die die Epochen und Medien übergreift. Derlei Schauen sind auch in Frankreich seit geraumer Zeit beliebt; allzu häufig zeitigt Assoziationswut darin sterile Beliebigkeit. Zu den Kurator:innen, denen konsistent erhellende wie erhebende „transversale“ Ausstellungen gelingen, zählt – neben Jean de Loisy – Bice Curiger. Die 75-jährige gebürtige Zürcherin, Mitgründerin der legendären Kunstzeitschrift „Parkett“, jahrzehntelange Kuratorin am Kunsthaus Zürich und Direktorin der 54. Biennale von Venedig (2011), leitet seit der Eröffnung im April 2014 die Fondation Vincent van Gogh Arles.
Hervorgegangen ist diese aus einem Verein, den Yolande Clergue, die Gattin des Fotografen und Mitgründers der Rencontres de la photographie d’Arles Lucien Clergue, 1983 ins Leben gerufen hatte. 2010 erhielt der Verein dank des (nicht zuletzt finanziellen) Einsatzes von Luc Hoffmann das Statut einer gemeinnützigen Stiftung – und bald darauf als Unterkunft ein mit allen modernen musealen Annehmlichkeiten versehenes ehemaliges Hôtel particulier. Nach dem Tod des Wahlarleser Vogelkundlers, Umweltschützers und Roche-Erben traten drei seiner Kinder in seine Fußstapfen als Hauptfinanzierer:innen der Stiftung; Maja Hoffmann amtiert seit 2014 zudem als Präsidentin des Verwaltungsrats. Da sich keine der knapp 200 Malereien und über 100 Zeichnungen, die der seinerzeit ungeliebte Holländer während seines 15-monatigen Aufenthalts in Arles 1888/89 schuf, noch vor Ort befindet, macht die Stiftung aus der Not eine Tugend: Sie lässt in zwei bis vier jährlichen Wechselausstellungen Leihgaben (bis zu 31 Gemälde oder gar 50 Zeichnungen) in Resonanz treten mit Arbeiten von anderen, oft zeitgenössischen Künstler:innen. Dass die beiden weltweit bedeutendsten Van-Gogh-Museen in Amsterdam (Van Gogh Museum) und Otterlo (Kröller-Müller Museum) sowie Kunsttempel in Basel, Chicago, Jerusalem, Los Angeles usw. innert zehn Jahren rund 140 Van Goghs nach Arles ausgeliehen haben, ist Vertrauensbeweis für die Stiftung. Und Leistungsausweis für ihre Leiterin: Wem die Londoner Tate, die Beyeler-Stiftung, das Musée d’Orsay wie auch wählerische Privatsammler:innen derartige Schätze anvertrauen, muss schon außergewöhnliche Ausstellungskonzepte vorweisen.
Vier repräsentative Beispiele. 2016 widmete die Curiger dem 1966 geborenen Briten Glenn Brown eine Retrospektive in rund dreißig Werken. Sieben davon wiesen einen Bezug zum Namengeber der Fondation auf, vom direkten Zitat eines in Öl gemalten Venus-Torsos über eine aus ihrem Tableau gelöste, umgefärbte und auf den Kopf gestellte Mademoiselle Gachet bis zur Applizierung der Farben des berühmtesten der drei Porträts von Armand Roulin auf eine Metallbüste: Schmutziggelb, Türkisgrau, Haselnussbraun und Ochsenblutrot. 2018 vereinte die Kuratorin unter dem Titel „Heiße Sonne, späte Sonne“ Werke von zehn „ungezähmten Modernen“ (so der Untertitel): eine gewagte, glühende Mischung, von Van Goghs farbgesättigtem Vorbild Adolphe Monticelli über den hochenergetischen letzten Picasso bis zu Sun Ra, dem Jazzer im Sonnenpriestergewand.
2020 richtete Curiger – nach Roni Horn, David Hockney, dem erwähnten Glenn Brown, Urs Fischer, Alice Neel, Paul Nash, dem Vogelfotografen Jean-Luc Mylaine sowie Niko Pirosmani – dem kaum bekannten Tessiner Fotografen Roberto Donetta (1865-1932) eine Werkschau aus. Wie Van Gogh in seiner Spätzeit warf auch Donetta einen ganz eigenen Blick auf eine durch den Wandel der Moderne in Bewegung gebrachte ländliche Welt – weswegen Curiger beider Schöpfungen mit Kreationen aus Erde und Blumen, mit Baggerschaufeln und botanischen Experimentalfilmen kontrapunktierte. Magisch endlich die Schau von 2021, für welche Laura Owens sieben späte Gemälde des Holländers auf Wandkompositionen bettete, für die der Begriff „Tapete“ beleidigend wäre: Meterhohe Feenzauber, vier große Säle mit ihren Arabesken auskleidend, deren Farben und Formen aus den Tableaus hervorgingen, durch diese aber zugleich verdichtet wurden. Als wären „Feld mit Pflüger und Mühle“ und „Bäume im Garten des Hospitals Saint-Paul“ Knotenpunkte im Gewebe eines die Welt – oder zumindest die Provence – umspannenden Wundergewirks!
Diese Art von Verrückung und Verzückung des Betrachterblicks gelingt in Frankreich nur wenigen Institutionen. Umso mehr steht zu bedauern, dass Curiger die künstlerische Leitung der Stiftung wohl Ende 2025 abgeben wird, wie sie im Gespräch verrät.
Bis dahin wird sie im Oktober noch eine Ausstellung mit dem Titel „Der hohe gelbe Ton“ präsentieren – ein Zitat aus einem Arleser Brief Van Goghs, der bekanntlich dieser Farbe Wirkungen abgewann wie kaum ein Zweiter. Im Sommer 2025 möchte die Kuratorin dann eine Sigmar-Polke-Schau, die sie diesen Herbst für den Berliner Schinkel Pavillon entwirft, für die Fondation adaptieren. Und womöglich wird ihr zum Abschied ja noch ein Traum erfüllt: Den sonnenblumenfarbenen „Indoor Van Gogh Altar“, den Thomas Hirschhorn für die Eröffnungsausstellung geschaffen hatte, dauerhaft in Arles installiert zu sehen.
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