Von Martinique nach Washington via Nordafrika: des französischen Freiheitskämpfers Frantz Fanons kurzes, wütendes Leben in einer neuen Biografie
Frantz Fanon. Ein klangvoller Name des Antikolonialismus‘. Doch sein Widerhall ist selbst in Fanons Geburtsland flau. Nicht wenige in Frankreich würden den Theoretiker, Propheten, ja Säulenheiligen der Befreiungskämpfe spontan einen Algerier oder Schwarzafrikaner nennen, der Arabisch sprach und dem muslimischen Glauben anhing. Nichts davon trifft zu. Fanon erblickte 1925 in Fort-de-France auf der Karibikinsel Martinique das Licht der Welt, einer von Frankreichs vieilles colonies. In seiner neuen Biografie streicht Adam Shatz die Bedeutung dieses Geburtsorts und der dort verbrachten Kindheit und Jugend heraus. Ein nach westindischen Maßstäben privilegiertes Heranwachsen, in dem freilich der Stachel des existentiellen Unbehagens saß wie das Sandkorn im Fleisch der Auster: Der leibliche Erzeuger zeigte wenig Interesse an Frantz und seinen Geschwistern, der symbolische Vater – der französische Staat – noch weniger. So jedenfalls stellte es der spätere Revolutionär in seinen Schriften dar.
Der Aufbruch ins schlecht benamte Vaterland im Tross der gaullistisch-kolonialen Befreiungstruppen 1944 endete in völliger Desillusion. In den nordafrikanischen Trainingslagern, wohin Fanon zunächst beordert wurde, herrschte Segregation: Weiße standen in der dortigen Hackordnung über Westindern, diese über Arabern. Den Kolonisierten wurde auf Schritt und Tritt bedeutet, sie seien – ungeachtet ihres patriotischen Elans – mitnichten Gleiche unter Gleichen. Ein Lichtblick nach der Rückkehr in die heimische Karibik war für den Zwanzigjährigen die Begegnung mit den Schriften von Aimé und Suzanne Césaire, von Shatz prägnant „the Sartre and Beauvoir of Négritude“ tituliert. Der Autor rückt, wie oft in seinem ebenso um Schärfe im Detail wie um im Ausgewogenheit im Gesamtbild bemühten Buch, die Perspektiven zurecht: Wiewohl weniger bekannt als ihr Mann, war es Suzanne, die mit „ihrer psychoanalytischen Kritik der kolonialen Mimikry, ihrer Verhöhnung der ‚farbigen Bourgeoisie‘, ihrer apokalyptischen Vision einer durch Gewalt erneuerten und geläuterten Welt“ den jungen Fanon am stärksten beeinflusste.
Die fünf Jahre in Lyon zwischen 1946 und 1951 zementierten vollends das pessimistische Bild, das der Medizinstudent von den Beziehungen zwischen den Gemeinschaften hatte. Ob in seinen Interaktionen mit Polizisten, die ihn oft als vermeintlichen Araber für eine Ausweiskontrolle anhielten, dann aber angesichts seines geschliffenen Französischs unter Entschuldigungen ziehen ließen, mit weißen Kommilitonen, die ihn gerade durch ihre Versicherungen, er denke wie ein „Europäer“, ausgrenzten, oder mit Professoren, die ihn geläufig duzten – überall lastete auf Fanon der weiße „Blick“. „Die gelebte Erfahrung des schwarzen Mannes“ wurde zum zentralen Kapitel seines ersten Buchs, das er 1952 im renommierten Pariser Verlag Le Seuil veröffentlichte. Ursprünglich als Doktorarbeit gedacht – der Text hatte im akademischen Rahmen keine Chance angenommen zu werden –, bildet „Schwarze Haut, weiße Masken“ eine Mischung aus klinischem Jargon und expressionistischen Monologen. Fallstudien aus der Psychiatrie, Fanons Spezialisierung, finden sich darin verwoben mit Passagen von ätzendem Humor und mit deklamatorischen, den Leser apostrophierenden Interludien. Das Werk, das seinerzeit nur ein geringes Echo zeitigte (und dieses vorwiegend negativ), gleicht am ehesten Simone de Beauvoirs „Zweitem Geschlecht“, einer anderen Schrift über die gelebten Erfahrungen einer unterdrückten Gesellschaftsgruppe vom Standpunkt eines Vertreters beziehungsweise einer Vertreterin besagter Gruppe aus.
Nach frustrierenden Erfahrungen als Psychiater in Martinique arbeitete Fanon anderthalb Jahre lang in einer Anstalt in Saint-Alban-sur-Limagnole im südlichen Département Lozère. Unter dem Eindruck eines marxistischen Kollegen, François Tosquelles, verschrieb er sich dem, was er später „soziale Therapie“ nennen würde: offene Türen und Zellen ohne Gitter. Im algerischen Blida und in Tunesiens Hauptstadt, wo er ab 1953 beziehungsweise 1957 eine psychiatrische Klinik respektive Abteilung leitete, ging Fanon noch weiter: Er hieß Krankenschwestern und Volontärärzte über alles debattieren, organisierte Aktivitäten, die einen Bezug hatten zur Kultur und zum Lebensalltag der Patienten, ließ arabische Musiker und Märchenerzähler auftreten und erlaubte Kranken sogar das Anlegen eines Gemüsegartens. Ja, er gründete in Tunis Afrikas erste psychiatrische Tagesklinik, um der innerhalb der Klinikmauern gebildeten „Neogesellschaft“ die Dimensionen der „Amputation“ (vom gesellschaftlichen Gesamtkörper), der Bestrafung und Einkerkerung zu nehmen. Doch verschweigt Shatz nicht, dass der Seelenarzt neben sanften Reformen auch Rosskuren verordnete wie Elektroschocks, Insulin-Schocktherapie und Schlaftherapie durch starke Dosen von Neuroleptika.
Am 1. November 1954 begann Algeriens Befreiungskrieg. Fanons Verbindung zur Algerischen Befreiungsfront (Front de libération nationale: FLN) wurde durch linkskatholische Sympathisanten des Unabhängigkeitskampfes hergestellt, zu denen auch Francis Jeanson gehörte, der Verleger von „Schwarze Haut, weiße Masken“. Die Klinik in Blida bildete bald einen Unterschlupf für FLN-Kämpfer, die dort körperliche und seelische Verarztung fanden. Doch behandelte der Leiter der Institution, und dies ist seinem Berufsethos anzurechnen, sowohl „Algerier“ als auch „Europäer“. In beiden Lagern fanden sich Folterer und Mörder – Fanon wurde zum direkten Zeugen, dass (und wie) der Krieg, „die blutige, unbarmherzige Atmosphäre, die Verbreitung unmenschlicher Praktiken“ Psychosen hervorrufen.
Als dem Spital Ende 1956 eine Razzia bevorstand, floh der Psychiater, wie etliche Kollegen gewarnt, über Paris nach Tunis. In Tunesien und Marokko, seit kurzem unabhängig, entstanden Stützpunkte des „äußeren Widerstands“ des FLN. Deren Bedeutung stieg in dem Masse, wie der „innere Widerstand“ militärisch zermalmt wurde. In Tunis verfasste Fanon als Mitglied des Redaktionskomitees der französischsprachigen Rebellenzeitung „El Moudjahid“ Artikel, deren Rhetorik mitunter selbst Führern der Befreiungsarmee zu radikal anmutete. So etwa die apodiktische Verurteilung sämtlicher Siedler, von denen keiner unschuldig sei: „Jeder Franzose in Algerien unterdrückt, verachtet, dominiert“. Fanons Verständnis der kolonialen Oppression gründete in seiner ärztlichen Tätigkeit, nahm aber je länger, desto mehr einen utopischen, ja messianischen Tonfall an. Gleich einem Konvertiten gab sich der Atheist aus Martinique „algerischer als die Algerier“ – zeitlebens spornte ihn der unerfüllte Trieb an, einer idealisierten Gruppe anzugehören.
So übersah der zum Sprachrohr des FLN Beförderte die zusehends populistisch-identitäre, auf die Restaurierung patriarchalisch-muslimischer Traditionen abzielende Stoßrichtung des Befreiungskampfes. Stattdessen träumte Fanon in seinen Büchern „Aspekte der algerischen Revolution“ (1959) und „Die Verdammten dieser Erde“ (1961) von einer algerischen Willensnation, die, multikonfessionell und multiethnisch, all ihre gleichsam neugeborenen Bürger egalitär behandeln würde – Berber, Juden, Schwarze und sogar christliche „Europäer“ inbegriffen. Die Oden an – gegen verderbte städtische Intellektuelle ausgespielte – „unbefleckte“ Bauern wie an Gewalt und Töten als einem „Tagewerk“ lesen sich vor dem Hintergrund der späteren Völkermorde in Kambodscha und Ruanda nicht ohne Schaudern.
Was Fanon rettet und noch immer lesenswert macht, ist nicht der rotglühende, in eine zugleich literarische und sehr mündliche, ja mundgerecht „deklamierbare“ Sprache gegossene Aufruf zum Kampf gegen die aus Sklaverei und Kolonialismus geborenen Ungleichheiten. Sondern vielmehr seine schier prophetische Skepsis bezüglich der Zeit nach Erlangung der Unabhängigkeit. Fanon malt da die Konfiszierung der Revolution durch eine „nationale Bourgeoisie“ aus, die Entstehung „tribaler Diktaturen“, gestützt auf Polizei und Armee und beraten durch ausländische „Experten“ – er antizipiert die Ära der Tyrannen, Oligarchen und Kleptokraten, die in weiten Teilen Afrikas bis heute andauert.
Am 6. Dezember 1961, vier Monate vor Algeriens Unabhängigkeit, endete Frantz Fanons kurzes, wütendes Leben. Und zwar nicht in Afrika, nicht in Frankreich und auch nicht in Moskau, wo er Anfang des Jahres ärztliche Hilfe gesucht hatte. Sondern im „Land der Lyncher“, den USA, von deren fortgeschrittener Medizin er sich einen Aufschub gegen die maligne Erkrankung erhofft hatte, die sein Blutsystem zerfraß. Adam Shatz, selbst in Massachusetts aufgewachsen und heute in New York für die „London Review of Books“ tätig, verortet einen Teil von Fanons überragendem Nachruhm im Land der Black Panther (die „Die Verdammten dieser Erde“ zu ihrer Bibel erklärten) und des palästinensisch-amerikanischen Literaturkritikers Edward Said (der durch Fanons Beschwörung postkolonialer Gesellschaften ohne jeden ethnischen noch identitären „Blick“ zu seiner – heute mehr denn je – utopischen Vision eines binationalen arabisch-jüdischen Staates angeregt wurde). Doch verfolgt der Autor Fanons Nachwirken weiter über die Dichter der die gegenseitige Befruchtung der Kulturen zelebrierenden „Créolité“ Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau, über Cineasten wie Gillo Pontecorvo („Schlacht um Algier“) und Claire Denis bis hin zum Gegenwartsromancier Kamel Daoud und zum Turiner Centro Frantz Fanon, das hauptsächlich Migranten und Flüchtlinge betreut. Der Geist der Utopie lebt fort!
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