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„Mein Bruder wurde geopfert“

Aktualisiert: 29. Sept. 2022

Chronik eines angekündigten Mordes: Die Angehörigen des Lehrers Samuel Paty, der 2020 enthauptet worden war, nachdem er Schülern Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte, erheben Anklage gegen den Staat wegen „Nichtverhinderung eines Verbrechens“

Am 16. Oktober wurde 2020 Samuel Paty, siebenundvierzig Jahre, Lehrer für Geschichte und Erdkunde an einer Sekundarschule im nordwestlichen Pariser Großraum, unweit seiner Lehranstalt durch einen achtzehnjährigen Flüchtlingssohn tschetschenischer Herkunft enthauptet. Die Tat fand kurz vor siebzehn Uhr statt, bald verbreiteten Medien landauf, landab den Namen des Opfers. Doch Patys Angehörige erhielten – trotz mehrerer Anrufe bei der örtlichen Polizeistation – erst weit nach Mitternacht eine offizielle Bestätigung. Im Licht neuer Informationen, die die Tageszeitung „Libération“ unlängst vorgestellt hat, ist das Versäumnis lediglich eines unter vielen, die sich die öffentliche Hand in dieser Angelegenheit geleistet hat. Und gewiss nicht das schwerste.


Nach Samuel Patys Ermordung häuften sich landesweit die Würdigungen – hier am 21. Oktober 2020 in Paris (Bild: flickr)

Patys Eltern und seine zwei Schwestern, die seit der Tat erstmals gemeinsam vor die Öffentlichkeit treten, beklagen gegenüber „Libération“, dass der Staat seine Schutzpflicht verletzt habe. Reihe man die einzelnen Verlautbarungen der Minister und zuständigen Dienststellen aneinander, entstehe der Eindruck, der Staat habe „nie und nimmer“ gefehlt, so Patys jüngere Schwester Mickaëlle. „Wenn Samuel ums Leben gekommen ist, dann fast wie durch einen Schicksalsschlag, den nichts hat verhindern können. Doch wir denken, dass er besser geschützt hätte werden sollen und dass unverzeihliche Fehler begangen worden sind.“ Nachdem ihre schriftlichen Fragen an den Innen- und an den Erziehungsminister unbeantwortet geblieben sind, haben die Patys jetzt Anzeige gegen den Staat erhoben wegen unterlassener Hilfeleistung und Nichtverhinderung eines Verbrechens. Ihre Anwältin fordert zudem eine parlamentarische Untersuchung.


„Warum haben die Nachrichtendienste nicht die Möglichkeit eines Anschlags in Betrachtung gezogen?“, lautet die erste Frage der Angehörigen. Paty hatte zehn Tage vor seiner Ermordung im Rahmen eines Gemeinschaftskundekurses zum Thema „Ausdrucksfreiheit“ einer Klasse von (im Durchschnitt) Dreizehnjährigen zwei der berühmt-berüchtigten Mohammed-Karikaturen gezeigt. Wie in den Vorjahren, wo die Initiative reibungslos verlaufen war, hatte er seinen Schülerinnen und Schülern zuvor angeboten, den Blick abzuwenden oder kurz unter Aufsicht den Saal zu verlassen. Doch eine muslimische Elevin, die am betreffenden Tag gar nicht anwesend war, hatte ihrem Vater einen erdichteten Hergang der Ereignisse zugetragen. Der Lehrer habe die muslimischen Schüler aus dem Klassenzimmer gewiesen, dann den übrigen die Foto eines nackten Mannes gezeigt mit der Erklärung: „Das ist der Prophet“. Daraufhin begann der Vater, gegen Paty zu agitieren, namentlich mit einem anklägerischen Internetvideo. So wurde wohl auch der mehr als achtzig Kilometer weiter westlich domizilierte künftige Mörder auf den Lehrer aufmerksam. Vor seiner Tat kommunizierte der selbsternannte Gotteskrieger via soziale Netzwerke mit der Schülerin, ihrem Vater und einem der Schüler, die ihm am 16. Oktober 2020 dann gegen ein paar Hundert Euro Paty auflauern halfen.


Hände weg von meinem Lehrer – auch Schüler gingen auf die Straße (Bild: flickr)

Die Mohammed-Karikaturen waren bekanntlich der Auslöser der Anschlagserie gewesen, die im Januar 2015 im Redaktionssitz des Satireblatts „Charlie Hebdo“ und an weiteren Orten in und um Paris siebzehn Todesopfer gefordert hatte. Zum Zeitpunkt der von Morddrohungen begleiteten Polemik über Patys Zurschaustellung dieser Zeichnungen lief gerade der Prozess zu besagten Attentaten; „Charlie Hebdo“ hatte aus diesem Anlass die Karikaturen wiederveröffentlicht. Schon allein aus diesem Grund wäre höchste Wachsamkeit geboten gewesen. Doch wie neu bekannt gewordene Mailwechsel und Transkripte von Telefongesprächen zeigen, zogen die Nachrichtendienste allenfalls Protestaktionen von Schülereltern in Betracht. Formulierungen wie „nicht besonders besorgniserregend“, „eher beruhigend“ oder „Spannungen gelöst“ zeugen von befremdender Arglosigkeit. Kein einziger Wachmann wurde abgestellt, um die Schule im Allgemeinen und Paty im Besonderen zu schützen.


Der Prophet ist am Ende: „Ich kann nicht mehr mit diesen Knallköpfen!“ – das Titelbild von „Charlie Hebdo“ nach Patys Ermordung (Bild: flickr)

Zweite Hauptfrage ist, warum das Twitter-Konto des Attentäters bis zum Schluss unter dem Radar geblieben ist. Wegen seines Extremismus war es seit Juli 2020 dreimal durch Nutzer des Mikrobloggingdiensts an Frankreichs Plattform für Internetkriminalität gemeldet worden. Diese leitete die Anzeige zwar an den zuständigen Antiterrorismusdienst weiter, doch dort landete die Signalisierung zwischen täglich vielen Hunderten ähnlicher Natur in einer Schublade.


Endlich will Patys Familie wissen, warum die wiederholten Warnrufe der Leiterin seiner Schule ungehört verhallten. Besagte Rektorin hatte ihre Hierarchie eindringlich auf die Brisanz der Drohungen wegen „Blasphemie“ aufmerksam zu machen versucht und gegen deren Autoren auch Anzeige erstattet. Doch ihre Bemühungen versandeten in einer Mischung aus administrativer Trägheit und weltfremder Beschwichtigungspolitik.


Gérald Darmanin, zum Zeitpunkt der Tat Innenminister, zeigte Verständnis für das Vorgehen der Familie. Es sei normal, die Wahrheit wissen zu wollen. Doch gebe es keinen Grund, über das zu erröten, was der Staat geleistet habe. Der Attentäter „war keinem Nachrichtendienst bekannt“, so Darmanin, und habe sich „innerhalb weniger Tage selbstradikalisiert“. Eine Sichtweise, die vor Gericht schwer zu erhärten sein dürfte. Wie oben berichtet, war der künftige Mörder schon Monate vor seiner Tat mehrfach signalisiert worden – justament wegen seiner Radikalität. Und auf die Kernfrage, warum Paty kein Schutz gewährt wurde, wo zahlreiche Warnsignale aufleuchteten, geht der Minister gar nicht erst ein.


Bitter schließt Mickaëlle Paty gegenüber „Libération“: „Im Bestreben, die Gesellschaftsordnung an der Basis unbedingt durch eine Politik der <Nur keine Wellen> zu regeln, durch <vernünftige> Arrangements und einen fehlgeleiteten Antirassismus, gibt der Staat am Ende die öffentliche Ordnung preis… Mein Bruder hat sich nicht aufgeopfert, er wurde geopfert durch all jene, die ihn schützen konnten und hätten schützen sollen.“

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