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Maria, Maria

marczitzmann

Aktualisiert: 15. Dez. 2024

Drei Schläge mit dem blauleuchtenden Bischofsstab: zur Wiedereröffnung von Notre-Dame de Paris

 


Um 19 Uhr 09 begannen Marcel, Marie, Maurice und ihre sieben Kollegen zu läuten. Die Glocken von Notre-Dame de Paris tragen seit dem 13. Jahrhundert je einen Vornamen; am Samstagabend riefen ihre Bronzestimmen zur feierlichen Wiedereröffnung der Kathedrale nach dem Großbrand, der den Bau am 15. April 2019 schier zum Einsturz gebracht hätte. Wegen Wind und Regen hatte sich um die abgeriegelte Île de la Cité nur ein Zehntel der erwarteten 40 000 Schaulustigen eingefunden, um der Ankunft der Gäste aus aller Welt beizuwohnen. Für Donald Trump gab es unlustige Buhrufe, für Wolodymyr Selenskyj enthusiastischeren Applaus. Neben den Präsidenten großer Länder wie Sergio Mattarella für Italien, Andrzej Duda für Polen und Frank-Walter Steinmeier für Deutschland hatten sich auch afrikanische Autokraten eingefunden sowie Vertreter von Kleinstaaten wie Antigua und Barbuda, São Tomé und Príncipe oder San Marino.


Doch erregte deren Präsenz weniger Aufmerksamkeit als die des derzeit (laut „Forbes“) reichsten sowie fünftreichsten Mannes der Welt, Elon Musk und Bernard Arnault. Der Franzose und sein Luxusgüterkonzern LVMH hatten je 100 Millionen Euro für die Restauration von Notre-Dame gespendet; die Familie Bettencourt und ihr Kosmetikkonzern L’Oréal jeweils dieselbe Summe, wie auch die Familie Pinault (Kering) und das französische Mineralölunternehmen TotalEnergies. Gemeinsam mit anderen Großgebern steuerten einheimische Superreiche und Konzerne so 700 Millionen der 846 Millionen Euro Spenden aus aller Welt bei. Milliardäre und Multinationalen haben in Gallien schlechte Presse, mitunter nicht unverdient – im vorliegenden Fall gilt es ihnen von Herzen zu danken.


Nach dem Glockengeläut eröffnete der Erzbischof von Paris, Laurent Ulrich, die Zeremonie mit einer windgebeutelten Prozession zum Hauptportal. Im Beisein des französischen Präsidentenpaars und der Bürgermeisterin von Paris schlug er mit seinem blauleuchtenden Bischofsstab dreimal gegen die Tür, deren metallene Flügel sich schließlich öffneten, dem Kamerateam von France 2 einen spektakulären Schwenk über das Kirchenschiff hinweg ermöglichend. „Maria, Maria“, sang da der Domchor der seit 1638 der Muttergottes geweihten Kathedrale; „Merci“ dankte eine Leuchtschrift auf der Fassade 160 Feuerwehrleuten und Mitgliedern der Handwerkerinnung Les Compagnons du devoir, die an der Rettung beziehungsweise Restaurierung beteiligt waren.


Drei Schläge: Laurent Ulrich, der Erzbischof von Paris, vor dem Hauptportal von Notre-Dame (Bild: flickr)

In einer Ansprache drückte Präsident Emmanuel Macron ihnen allen seinen Dank aus und erinnerte schaudernd die dramatischen Stunden, als ihm und dem ganzen Land dämmerte, „dass Notre-Dame verschwinden könnte und dass Kathedralen auch sterblich sind“. Hätte ihm doch nur jemand 2016 einen sogleich nach der Veröffentlichung schubladisierten Rapport auf den Schreibtisch gelegt, der laut seinem Autor, dem Versailler Professor für Maschinenbau Paolo Vannucci, eine reale Brandgefahr sowie das Fehlen jeglicher Vorkehrung zur Bekämpfung allfälliger Flammen konstatierte – mit ausdrücklichem Verweis auf das Dachgebälk, wo das Feuer sich drei Jahre später vom Vierungsturm aus dann tatsächlich verbreiten würde! Es sei mit Nachdruck festgehalten: Macron und seine bis zum Brand amtierenden Kulturminister(innen) feierten am Samstagabend die Freigiebigkeit der Spender und das Fachkönnen der Restauratoren – aber die direkte Verantwortung des Staats als Besitzer der Kathedrale kehrten sie geflissentlich unter den Teppich.


Dabei hatte am Abend der Brands nur ein Feuerwächter Dienst statt der erforderlichen zwei. Zudem war der arme Mann durch Überstunden ermattet und erst seit drei Tagen vor Ort im Einsatz – er hatte noch nie eine komplette Runde durch den Riesenbau gedreht. Als um 18 Uhr 18 ein Warnsignal auf seiner Schalttafel aufleuchtete, inspizierte er, durch die verwirrende Beschriftung „Gebälk/Schiff/Sakristei“ in die Irre geführt, den falschen Ort. Später schrillte ein Alarm, aber es brauchte volle 33 Minuten, bis der Brand gefunden und die (im Übrigen unzureichend ausgerüstete) Feuerwehr benachrichtigt war.


„Le Monde“ hat mittels einer 3-D-Modellisierung belegt, dass Notre-Dame nur um ein Haar der Vernichtung entgangen ist. Kurz vor 20 Uhr stürzte der Vierungsturm zusammen, riss drei Löcher ins Deckengewölbe und destabilisierte so den ganzen Bau. Gut eine Stunde später erreichte das Feuer den Nordturm. In den beiden Belfrieden befinden sich die tonnenschweren Glocken: Wären diese herabgestürzt, hätten sie die Türme zum Einfall gebracht, diese ihrerseits die Hauptfassade mitgerissen – die ganze bereits geschwächte Struktur wäre wie ein Kartengebäude zusammengeklappt. In der Not opferten die Feuerwehrleute das ohnehin schon weitgehend abgebrannte Dachgebälk, um die beiden Türme zu retten. Todesmutig stiegen etliche von ihnen die rauchverhangenen Wendeltreppen hinauf und schafften es, die Flammen zurückzudrängen. Gegen 22 Uhr 45 waren die Belfriede außer Gefahr. Ihr Einsturz hätte Dutzende von Opfern gefordert.


Dass in einem Baudenkmal früher oder später einmal ein Feuer ausbricht, ist kaum zu verhindern. Sträflicher Leichtsinn hingegen, auf die minimalen Mittel zur raschen und effizienten Brandbekämpfung zu verzichten: Mit dem Bau vertraute Wächter in genügender Zahl, Sprinkleranlagen im Gebälk, für den Fall eines größeren Brands ausreichende Löschwasserversorgung sowie eine adäquate Ausrüstung der Feuerwehrleute (hier konkret Teleskopmasten, die wenigstens so hoch reichen wie die Hauptfassaden). Alle vier Elemente fehlten im Fall von Notre-Dame – die Staatskasse sei nun einmal leer, heißt es dazu mitunter mit einem nonchalanten Achselzucken. Dabei sind Pisten für einen besseren Unterhalt von Frankreichs darbenden Baudenkmälern bekannt: eine unmerkliche Anzapfung der Gewinnausschüttung der teilstaatlichen Lotteriegesellschaft etwa oder eine kaum spürbare Anhebung der Kurtaxe – 50 zusätzliche Cent pro Tag tun keinem Touristen weh, weniger jedenfalls als eine von der Ex-Kulturministerin Rachida Dati unbedacht in den Raum geworfene Eintrittsgebühr von 5 Euro für jeden der erwarteten 15 Millionen jährlichen Besucher von Notre-Dame (die der Klerus kategorisch ablehnt).


Am Ende der Zeremonie bat Erzbischof Ulrich um den Segen des Christengotts für die nach Demontage zwecks Teilrestauration und Totalreinigung wieder installierte Hauptorgel. Die vier Titulare zauberten je eine Improvisation aus den Hand- und Fußgelenken, vom Star Olivier Latry bis zum Unbekannten Thibault Fajoles – die Ernennung des 22-jährigen Orgelstudenten hatte im April eine kleine Polemik gezeitigt. Gern hätten wir an dieser Stelle vertieft über die Instandsetzung der beschädigten Teile des Gebäudes berichtet und über den Wiederaufbau der zerstörten. Doch wochenlang antwortete das zuständige Etablissement Rebâtir Notre-Dame auf Besuchsanfragen überhaupt nicht; und bei einer am Mittwoch kurzfristigst für dreißig Journalisten anberaumten Visite, zu der auch der Verfasser dieser Zeilen eingeladen war, wurde das Trüppchen im Eilmarsch durch den Bau gejagt, unter Androhung der sofortigen Verweisung für jeden, der es wagen würde, trotz strengsten Verbots ein Bild zu knipsen.


So muss man sich einstweilen mit Fotografien aus der Fachpresse und aus „Rebâtir Notre-Dame“ begnügen, dem – allzu – „offiziellen Buch zur Restauration“ (so der Untertitel). Was sogleich ins Auge sticht, ist die Helligkeit der Steinmauern. Diese wurden aufwendig instandgesetzt: mit Staubsaugern, mit aufgesprühtem und nach Verfestigung wieder abgezogenem Latex, mit punktuellem Lasereinsatz, Kompressen zum Entsalzen, Injektionen ins Mauerwerk und der Ersetzung allzu stark lädierter Teile. Den Wiederaufbau des Dachgebälks erleichterte seinerseits eine 2014 durchgeführte komplette Erhebung; 1200 sehr lange und sehr feine Eichen aus dem ganzen Land wurden dafür manuell zugeschnitten. Für die Dachbedeckung fiel die Wahl wieder auf Blei: Das Element ist schwer, was die Struktur stabilisiert, zudem formbar, beständig und ästhetisch. Der Wiederaufbau des 96 Meter hohen Vierungsturms erheischte ein Baugerüst mit 48 Ebenen; abgerundet wurde die Restauration im Außenbereich durch die Instandsetzung oder gar Neuschaffung zahlreicher Skulpturen – darunter einige ikonische Wasserspeier sowie ein goldener Wetterhahn.


Im Innern sticht die Reinigung der Wanddekors von 9 der 24 Kapellen ins Auge. Für diese hatte Eugène Viollet-le-Duc, der große Restaurator der Kathedrale zwischen 1844 und 1868, Heilige und Engel in zweidimensionale Schreine aus Friesen, Naturmotiven und Monogrammen gefasst, deren Farben zwischen Dotterblumengelb, Irischgrün, Ockerrot, Pastellblau und Zartrosa changieren. Die Kapellen sind nunmehr zugänglich und entfalten eine Strahlkraft sondergleichen – ihr bloßer Anblick sollte die Unsinnigkeit des Vorstoßes von Macron und Ulrich vor Augen führen, Kirchenfenster von Viollet-le-Duc durch zeitgenössische Kreationen ersetzen zu lassen. Die für diesen Irrsinn erforderlichen 3 oder 4 Millionen Euro wären gewinnbringender in die Restitution der geometrisch-vegetabilischen, den Jugendstil vorwegnehmenden Wanddekors von Viollet-le-Duc investiert, welche Vandalen im Klerikergewand nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört hatten.


Denn Frankreichs katholischer Kirche mangelt es entschieden an (gutem) Geschmack. Das neue Mobiliar, das die Pariser Diözese für Notre-Dame bestellt hat, reicht von banal (Bestuhlung) über behäbig (Altar und Taufbecken) bis zu bestürzend (das Reliquiar der Dornenkrone, das ein Glücksrad für Neureichen-Sekte evoziert). Doch wirken diese Makel angesichts der Hauptsache zweitrangig: In der aufgehellten, gut beleuchteten Kathedrale wird man ab Montag restaurierte Gemälde und Skulpturen von Meistern wie Baugin und Jouvenet, Coysevox und Pigalle, den Brüdern Le Nain und Coustou bewundern können – und dabei womöglich innerlich den Domchor „Maria, Maria“ singen hören.




Verwendete Lektüre:

Didier Rykner: Notre-Dame. Une affaire d’État. Les Belles Lettres, Paris 2023. 270 S., Euro 17,50.

Notre-Dame de Paris. Les secrets d’une résurrection. Sonderausgabe des Magazins „Beaux-Arts“. Beaux-Arts & Cie, Paris 2024. 130 S., Euro 11,90.

Rebâtir Notre-Dame de Paris. Le livre officiel de la restauration (Sammelband). Tallandier, Paris 2024. 304 S., Euro 49,90.
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