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Imperialismus, Strafexpedition, Geopolitik: alles nur Vernebelung?

Warum greift Putin die Ukraine an? Eine alternative These aus Frankreich


Die Gründe für Wladimir Putins kriegerischen Überfall auf die Ukraine sind bekannt. Ziel ist, erstens die Einheit der „russischen Welt“ wiederherzustellen, zweitens die ukrainischen „Kleinrussen“ für ihre Wahl zu bestrafen, in einem unabhängigen, demokratischen Staat mit langfristiger Aspiration auf EU- und NATO-Mitgliedschaft zu leben. Ein neoimperialistisches Unterfangen mit Anleihen bei der Sowjetunion, bei Stalin, beim Großen Vaterländischen Krieg, bei Zarenreich und Panslawismus, das durch den Bruch mit dem Westen auch auf die Etablierung einer neuer Weltordnung abzielt.



So die landauf, landab geteilte Sichtweise. Was jedoch, wenn all dies nur vorgeschobene Gründe wären, um das wahre Motiv für den Überfall zu verbergen? In der jüngsten Ausgabe der „Revue du Crieur“, dem Printmagazin der französischen Internetzeitung „Mediapart“, plädiert François Bonnet, Mitgründer und langjähriger Chefredakteur des ebenso erfolgreichen wie qualitativ hochwertigen Investigationsblattes, für eine Blickkorrektur. Drei Argumente sprächen gegen die angeführte Sichtweise.


Erstens begann der Krieg gegen die Ukraine bereits 2014 mit der Annexion der Krim und der Ausweitung des Konflikts auf die „separatistischen“ Gebiete im Osten der Ukraine – damals jedoch sprach noch niemand von Neoimperialismus oder gar vom Versuch einer grundlegenden geopolitischen Neuordnung; vielmehr ging es um einen alten Lokalkonflikt im Donbass, um die Sicherung von Sewastopol als Heimathafen der russischen Schwarzseeflotte und um die Bestrafung der „abtrünnigen“ Ukraine. Zweitens war die Lancierung des „totalen“ Krieges am 24. Februar dieses Jahres eine Entscheidung Putins und einer Handvoll Vertrauter. Ob die politische und gesellschaftliche Elite des Landes geschlossen dahintersteht, ist zweifelhaft: Vereinzelte Proteste sind an die Öffentlichkeit gedrungen und dürften bloß die Spitze des Eisbergs darstellen. Drittens sind Putins Argumente für die „Eliminierung des Nazi-Drecks in Kiew“, wie er sie etwa in einer Ansprache vom 24. Februar – und zuvor bereits in einem „historischen Essai“ vom Juli 2021 – formuliert hat, derart inkonsistent, ja inkohärent, dass manche seine geistige Gesundheit anzweifelten. Was jedoch, fragt Bonnet, wenn der russische Präsident, ebenso luzide wie zynisch, Gründe für die „Spezialoperation“ vortrüge, an die er selbst nicht glaubte – um das wahre Motiv zu verbergen?


Dieses Motiv benennt der Autor in einem Satz: Putin ist der Chef einer kriminellen „Familie“, für die Krieg ein Mittel bildet, das eigene Dasein und den Fortbestand des durch sie geschaffenen und gelenkten Systems zu sichern. Seit einem Vierteljahrhundert weigerten sich westliche Verantwortliche anzuerkennen, dass Putin ein Krimineller im Politiker-Kostüm sei, nicht ein Präsident mit Verbindungen zur Welt des Verbrechens. „Korruption, Morde, Einkerkerungen, phänomenale Bereicherungen, die ökonomische Ausbeutung des Landes“, so Bonnet, „werden seit je als Kollateralschäden, als bloße Nebenwirkungen angesehen, die ein von der Rohstoff-Rente lebendes autoritäres Regime hervorbringt.“ Dabei haben unzählige Bücher, Beiträge von Investigationsjournalisten, Berichte ausländischer Nachrichtendienste inkriminierende Details zuhauf über Putin und seine „Familie“ zutage gefördert. So ist das System von Bestechungen, Schutzgelderpressungen und betrügerischen Verkäufen von Exportlizenzen, das Putin in den 1990er Jahren als Leiter des Komitees für Außenbeziehungen von Sankt Petersburg eingerichtet hatte, bestens dokumentiert.


Aufgrund seiner Effizienz wurde der zeitweilige Vizebürgermeister des Venedigs des Nordens bald nach Moskau berufen, um den sogenannten „Mabetex-Skandal“ zu ersticken, mutmaßliche Veruntreuungen zugunsten des damaligen Präsidenten Boris Jelzin und seiner Töchter. 1998 zum Leiter des KGB-Nachfolgedienstes FSB ernannt, stellte Putin – so die Vermutung – den allzu hartnäckigen Generalstaatsanwalt Juri Skuratow durch ein „Kompromat“ kalt, ein (gefälschtes) Sexvideo. Damit empfahl er sich Jelzin als Nachfolger. Im März 2000 als neuer Präsident vereidigt, garantierte er seinem Vorgänger als erste Amtshandlung umfassende Immunität.



Die meisten der rund dreißig Mitglieder von Putins „Familie“ sind Kollegen aus den Petersburger Tagen; manche sogar Genossen aus der Zeit als KGB-Agent in Dresden oder Kindheitsfreunde. Sie bekleiden heute höchste Posten in Politik (wie Nikolai Patruschew und Dmitri Medwedew, Leiter und Stellvertretender Leiter des Sicherheitsrats) oder Wirtschaft (wie Alexei Miller und Igor Setschin, Leiter der Gas- und/oder Ölkonzerne Gazprom und Rosneft). Der Liste der wichtigsten Mitglieder von Putins „Familie“ stellt Bonnet jene einer Auswahl von Opfern politisch motivierter Mordanschläge gegenüber. Jeder kennt die Namen von Anna Politkowskaja und Boris Nemtsow, aber wem sagen jene von Natalia Estemirowa, Timur Kuaschew oder Stanislaw Markelow noch etwas? Gleich ihnen wurden in Russland seit dem Jahr 2000 Dutzende von Journalisten, Menschenrechtlern, Rechtsanwälten und Oppositionspolitikern erschossen oder vergiftet, so sie nicht unter dubiosen Umständen „Selbstmord begingen“ oder „bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen“. Die entsprechenden Ermittlungen, wo überhaupt eingeleitet, verliefen stets im Sand.


Womöglich noch gravierender: Krieg war für Putin und „Familie“ von vornherein ein Mittel, ihre Macht abzustützen. Im Sommer 1999 wurde der unbekannte Apparatschik zum Premierminister ernannt; im Vorfeld der auf März 2000 angesetzten Präsidentschaftswahl galt es, den blassen Redner als starken Führer aufzubauen. Ein zweiter Tschetschenienkrieg wäre diesem Zweck gewiss dienlich gewesen, doch zeigten die Russen, durch den ersten noch traumatisiert, damals wenig Kampflust. Das änderte sich schlagartig, als überall Bomben zu explodieren begannen: Am 31. August in Moskau, am 4. September in Dagestan, am 8. und 13. erneut in der Hauptstadt, am 16. in der Don-Region… Weit über dreihundert Todesopfer ließen die öffentliche Meinung jäh umschlagen: Der Zweite Tschetschenienkrieg fand statt, mit den bekannten Folgen. Bonnet verweist hier auf einen Vorfall in Rjasan südöstlich der Hauptstadt, wo am 22. September 1999 Bomben im Keller eines dreizehnstöckigen Wohnhauses gefunden wurden. Rasch konnten zwei FSB-Beamte verhaftet werden, die die Sprengstoffsäcke herbeigeschafft hatten; der damalige Chef des Dienstes, der oben erwähnte Nikolai Patruschew aus Putins „Familie“, schob als Erklärung eine „Attentats-Übung“ vor, deren Widersprüche die örtlichen Behörden ein Leichtes zu entlarven hatten.


Am Ende seines zweiten Vierjahresmandats begann dem Präsidenten trotz allem die Basis wegzubrechen. Die politischen Morde, die fehlende Rechtsstaatlichkeit, die alles durchdringende Korruption, vor allem die scham- und maßlose Bereicherung der Herrschenden ließen sich nicht länger mehr kaschieren. Prompt machte Putin mobil mit einem Gesellschaftsprojekt, das ein starkes, moralisches, altruistisches „Wir“ gegen ein verweichlichtes, verderbtes, selbstverliebtes „Sie“ ausspielt: den Westen. Und führte einen Blitzkrieg in Georgien. Das ließ die Umfragewerte zeitweilig steigen. Doch 2011 kam es nach manipulierten Parlamentswahlen zu massiven Protesten, 2012 siegte Putin in der ersten Runde der Präsidentschaftskür nur dank Wahlfälschung. Zwei Jahre später annektierten kleine grüne Männchen die Krim. Abermals schnellten die Beliebtheitswerte hoch.



Der „totale“ Ukraine-Krieg reiht sich laut Bonnet ein in diese Reihe von Militäraktionen, die primär aus innenpolitischen Gründen geführt wurden. Putin ist siebzig, es gibt Spekulationen über seine Gesundheit. Die Mitglieder der „Familie“ sind zwischen zweiundsechzig und fünfundsiebzig Jahre alt – es sei an der Zeit, die Geschäftsübernahme durch die „Generation 2“ in die Wege zu leiten, die jener der Väter Straffreiheit garantieren soll. Ein Krieg und die damit einhergehende Schaffung einer Diktatur in Russland verhindere jede öffentliche Diskussion über diesen lautlosen, bereits im Gang befindlichen Stabwechsel, meint Bonnet. Und zitiert den langjährigen Leiter des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada, Lew Gudkow: „Was zählt, ist die totale Zensur, die seit Februar-März herrscht. Die Bevölkerung ist einer aggressiven, unaufhörlichen Propaganda ausgesetzt, die auf allen Kanälen wütet, selbst den religiösen. Wie jede Propaganda taucht auch diese ihre Empfänger in einen Zustand von Furcht und Verlorenheit, der Aufnahmefähigkeit und kritisches Urteilsvermögen zunichte macht. So erzeugt man bei ihnen eine Verfasstheit von Unsicherheit, Zynismus und Apathie, die sie zu Anhängern der Gewalt werden lässt.“




François Bonnets Artikel "Poutine, la guerre et le crime" kann hier gekauft werden.
Alle Bilder: flickr
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