Gegenwartskunst vor den Fenstern des Louvre
- marczitzmann
- vor 6 Tagen
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Ein neuer Klunker in Frankreichs Kulturkrone: Jean Nouvels Fondation Cartier im Herzen von Paris
Frankreichs Finanzen laufen aus dem Ruder, das Regierungsgeschäft ist eine tragische Posse, im Land herrscht eine Mischung aus Endzeitstimmung und vorrevolutionärem Fieber, bald könnten die Rechtsextremen an die Macht kommen. Aber Paris bleibt ein Fest fürs Leben. Die Lichterstadt scheint desto heller zu strahlen, je dichter der braune Pesthauch aufzieht. Bevor die Finsternis womöglich hereinbricht, fügt die Kapitale heute ihrer Kulturkrone einen weiteren funkelnden Klunker hinzu. Die Eröffnung von Jean Nouvels neuer Fondation Cartier bereichert die hauptstädtische Szene für Gegenwartskunst gewaltig.


Der Bau liegt in zentralster Lage, Louvre und Palais-Royal sind direkte Nachbarn. Der fünfstöckige, 153 Meter lange und bis zu 58 Meter breite Ozeanriese aus hellem Kalkstein wurde 1854/55 m Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Weltausstellung aus dem Boden gestampft. Das Hôtel du Louvre bildete mit 1200 Zimmern eine Miniaturstadt und bot seiner kosmopolitischen Klientel neben Wasserklosetts und elektrischen Klingeln auch Dutzende von Luxusboutiquen unter den ringsumlaufenden Arkaden. Eine davon wuchs sich peu à peu zum – laut Werbung – „größten Warenhaus der Welt“ aus und vertrieb 1887 gar das Hotel aus den Mauern. Die Grands Magasins du Louvre waren derart immens, dass zur Beförderung von Kunden und Mitarbeitern zwei Brückenkräne und sogar zwei Eisenbahnen zum Einsatz kamen!

Nouvel knüpft an dieses Maschinen-Erbe à la Jules Verne an. Der Starchitekt hat das in den späten Siebzigerjahren verbaute Gebäudeinnere entkernt und namentlich ein 85 Meter langes „Langhaus“ unter dreien der vier Innenhöfe freigelegt. Dort finden sich jetzt fünf 200 bis 363 Quadratmeter große Plattformen, die sich mittels einer Art zweckentfremdeter Theatertechnik mit Kabeln, Ketten und Seilscheiben über eine Höhe von 11 Metern hinweg in jeweils 11 Positionen anheben oder absenken lassen – und das unabhängig voneinander. So sind genügend Konfigurationen möglich, damit in den nächsten 58 Jahrtausenden keine Szenografie der anderen gleicht: nämlich – laut architektonischer Begleitpublikation – deren 117 854! Typisch Nouvel sind auch die vielen Durchblicke: Zwischen Unter-, Erd- und Obergeschoss (die fünf darüberliegenden Stockwerke beherbergen die Büroräume der Stiftung sowie vieler weiterer Mieter), zwischen Innen und Außen (via 7 Meter hohe Rundbogenfenster aus einem Stück) und zwischen Himmel und Erde (mittels Glasdächern über den Innenhöfen, über welchen Bäume wachsen und deren Lichtdurchlässigkeit motorgesteuerte Blenden regulieren).




Der Titel der Eröffnungsausstellung verweist auf entsprechende kommerzielle Veranstaltungen der 1974 geschlossenen Grands Magasins du Louvre: „Exposition générale“. Offiziell wird die Schau durch vier Themen strukturiert. Doch ist kaum je klar, in welcher Sektion man sich gerade befindet. Die Themenbereiche sind jeweils in zwei bis vier Kapitel unterteilt und diese über zwei oder drei Stockwerke hinweg verstreut, gemischt unter zwei Dutzend monografische Streiflichter. Sechshundert Stück Tapas, Mezze und Sakuski, auf großen Platten und kleinen Tellern angerichtet (und diese ihrerseits auf drei Tafeln dekorativ arrangiert), bilden kein durchkomponiertes Menü. Da hätte man dem Ganzen lieber einen Titel gegeben, der wie „Vegetarische Schlachtplatte für verfressene Suppenkaspare“ jeden Geschmack irgendwie bedient – und die Besucher einfach frei durch den Bau flanieren lassen. Denn der Erkundungsgang macht Spaß: Es geht nach unten und nach oben, von Lynch nach Merz, der Parcours führt über Endlosgänge in Sackgässchen, vom Licht ins Dunkel und vom Lauten ins Leise. Das sehr spezielle Profil der Sammlung tritt auch ohne forcierte Verklammerung klar zutage.



Die Kollektion zählt heute 4500 Stücke, die großmehrheitlich anlässlich von Ausstellungen der Fondation Cartier erworben wurden – bei vielen handelt es sich sogar um Auftragswerke. Die Sammlung widerspiegelt so getreu das Programm: „Exposition générale“ bildet einen von vielen möglichen Rundgängen durch die vier Jahrzehnte seit der Gründung der Stiftung. 1984 durch Alain Dominique Perrin ins Leben gerufen, der ihr bis heute präsidiert, ließ sich diese zunächst in einem 18 Hektar großen Anwesen bei Versailles nieder. Dort bespielte sie – recht barock – ein Directoire-Schloss, ein pseudonormannisches Dörfchen und ein ehemaliges Blockhaus der Luftwaffe, den prächtigen Park nicht zu vergessen.

Die Presse war anfangs nicht zart mit dem Pflänzchen. An einer Schau über die Sechzigerjahre bemängelte sie 1986 das Fehlen von Werken von Raymond Hains, Yves Klein, Martial Raysse, Jean Tinguely. Eine zweite mit unter dem genialen Titel „Vraiment faux“ vereinten Fälschungen fand sie weder originell noch berührend. An einer dritten störte sie das „Bling-Bling“ der Szenografie von Andrée Putman, die im Park ein Dutzend Heißluftballons über ebenso viele Ferraris gehängt hatte.


Gegenwartskunst war seinerzeit – nicht nur in Frankreich – eine Sache für Spezialisten, Zeloten dieses oder jenes Dogmas – und für den Staat. Die Fondation Cartier als Privatinstitution mit einem eklektischen Programm ohne Scheuklappen noch Berührungsängste (ver)störte da. Doch gerade ihre vermeintlichen Schwächen wurden peu à peu zu Stärken. Als die Stiftung 1994 aus der Peripherie nach Paris zog und aus einem zusammengestupften Landgut in einen maßgeschneiderten Neubau von Jean Nouvel am Boulevard Raspail, verkörperte sie für viele bereits Trendigkeit ohne Attitüden und Avantgardismus ohne Kopflastigkeit. Für Cartier, wenig zuvor noch ein etwas angestaubter Juwelier, das ideale Aushängeschild.



Zwischen ihren Glaswänden – Mauern gab es nicht – bestaunte man Fotos von Kreationen nigerianischer Haarstylisten, im Raum auf und ab hüpfende Miyake-Plisseekleider, explodierende Ausstellungskataloge, Zeichnungen von Yanomami-Indianern, Glasperlen-Himmelbetten und einen bunten T-Rex aus Tokyo, wohnte dem Livegespräch zwischen dem Comic-Künstler Mœbius und einem Astronauten in der Raumstation Mir bei oder einem Duoauftritt von Patti Smith und John Cale. Die fünf Ausstellungen des Jahres 2004 vermitteln einen guten Eindruck von der Freiheit und Verrücktheit des Programms, das sukzessive Marie-Claude Beaud und Hervé Chandès verantworteten, bevor Chris Dercon 2023 den Staffelstab übernahm. Erst entwarf der Designer Marc Newson da unter anderem ein Düsenflugzeug für die Stiftung, dann zeigte der Maler Chéri Samba – heute ein Star – fünfunddreißig farbenfroh-figurative Tableaux, ihm folgte der Modeschöpfer Jean Paul Gaultier nach mit Kleidern aus Brot (sic), bevor Raymond Depardon und Hiroshi Sugimoto das Jahr mit Kurzfilmen über sieben Metropolen zwischen Berlin und Addis Abeba beziehungsweise mit einer fotografischen Hommage an Marcel Duchamps „Grosses Glas“ und an Jean Nouvels Glashaus ausklingen ließen.







Was aus Letzterem wird, muss der Besitzer entscheiden – die Fondation Cartier war am Boulevard Raspail lediglich Mieterin (und ist es auch in ihrem neuen Heim am Louvre). Die Stiftung erklärte auf Anfrage, sie kommuniziere nicht zu Finanziellem; in der französischen Presse stand zu lesen, Nouvels Umbau habe zwischen 225 und 245 Millionen Euro gekostet. Die Riesensumme spiegelt die Quasi-Verfünffachung der Ausstellungsfläche auf 6500 Quadratmeter wider. Damit verfügt das Haus über ungleich mehr Raum als Bernard Arnaults Fondation Louis Vuitton und François Pinaults Bourse de commerce. Einzig Maja Hoffmanns Stiftung Luma in Arles gebietet in Frankreich über noch größere Schauflächen, freilich verteilt auf mehrere Gebäude. Wird die Fondation Cartier, deren bisheriges Motto „mittelklein, aber superfein“ lauten könnte, nach ihrem Aufstieg in die Riege der Big Players der Gefahr der Institutionalisierung und Normalisierung entgehen können?


Die Ausstellung „Exposition générale“ läuft bis zum 23. August 2026 in der Fondation Cartier.
Katalog: Exposition générale. Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris 2025. 364 S., Euro 55.-.
Begleitpublikation zur Architektur:
La Fondation Cartier pour l’art contemporain par Jean Nouvel. Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris 2025. 216 S. Euro 49.-.
Weitere verwendete Literatur:
Voir venir, venir voir. Fondation Cartier pour l'art contemporain, Paris 2024. 436 S., Euro 45.-. Die ersten vierzig Jahre der Geschichte der Stiftung in Bildern und Texten.