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Für Kinderseelen und erwachsene Ohren

Aktualisiert: 29. Sept. 2022

Dank der Regisseurin Mariame Clément und dem Dirigenten Carlo Rizzi gerät die Erstaufführung von Jules Massenets Märchenoper "Cendrillon" an der Opéra Bastille zu einem durch und durch zauberhaften Abend

Frage: was ist so groß wie ein Hobbit-Haus, besteht hauptsächlich aus Metall, hat Leitern und Luken, Röhren und Spindeln, Nieten und Leuchtanzeigen, flackert und funkt, blubbert und blitzt? Leser und vor allem Leserinnen, die sich ihre Kinderseele bewahrt haben, wissen es natürlich: Es ist eine Prinzessinnen-Produktionsmaschine! Eine solche thront im Heim der Haltières, einer – auf Neudeutsch – Patchworkfamilie, als deren Oberhaupt die resolute Madame fungiert. Wird Massenets „Cendrillon“ (selten genug) einmal aufgeführt, erscheint Madame de la Haltière stets als eine schrille Charge, Mischung aus Schreckschraube und Hausdrache. Nicht so in Mariame Cléments Inszenierung an der Opéra Bastille, der ersten überhaupt an der Pariser Nationaloper. Die Regisseurin nimmt die Figuren – alle Figuren – nicht nur ernst, sie wirft auch einen ausgesprochen empathischen, ja liebevollen Blick auf sie. In jeder von ihnen sieht sie das Beste – und fördert so unvermutete Facetten zutage.

Aus Feenstaub und Industriedampf mach Prinzessinnen - Madame de la Haltières Maschine (Bild: © Monika Rittershaus – OnP)

Madame de la Haltière, um bei ihr zu bleiben, betritt die Bühne nicht im Rüschenkleid einer Männerhasserin mit Standesdünkel, sondern in der Arbeitskluft einer Erfinderin und Entrepreneurin. Ihre Prinzessinnen-Produktionsmaschine verwandelt jede Kreatur, die man hineinsteckt (selbst die Hauskatze!), in ein goldgelocktes Püppchen mit rosarotem Reifrock – auf dem Heiratsmarkt die Premium-Ware schlechthin. Clément schließt so von Anfang an die Entstehungszeit des 1899 an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführten Vierakters – das Zeitalter der von Zweifeln noch kaum angekränkelten industriellen Produktion – mit dem Inhalt der Märchenoper kurz.

Experiment geglückt, Püppchen geklont (Bild: © Monika Rittershaus – OnP)

Madame de la Haltière will ihre zwei leiblichen Töchter an den Mann bringen. Und nicht an irgendeinen, sondern an den Traumprinzen. Zu diesem Zweck zwängt sie sie in ein stereotypes Korsett, das keiner von beiden passt – die eine wird als sportlich, die andere als häuslich gezeichnet, auch hier entgegen einer gängigen Karikierung als geklonte Zicken. Aber sie tut das mit einer Energie und einem Erfindungsreichtum, die Bewunderung heischten, so sie nur anderen, weniger angreifbaren Zwecken dienten. Gesanglich besticht Daniela Barcellona in der Rolle der resoluten Virago mit einer breiten Stimm- und Stimmungs-Palette, von rau herrisch über klangvoll exaltiert bis zu glucksend übergeschnappt (in der Stammbau-Tirade des dritten Akts). „Man wird sie einsperren, sie ist verrückt“, reibt sich der untergebutterte Gatte schon zu Anfang die Hände.

Erfinderin und Entrepreneurin, leicht übergeschnappt (Bild: © Monika Rittershaus – OnP)

Die Stieftochter, aufgrund ihres Lebens bei und sogar in der einem Hochofen gleichenden Maschine „Cendrillon“ („Aschenputtel“) gerufen – sie schläft buchstäblich in einer großen Röhre –, schickt sich von selbst in dieses Randdasein. Entgegen den Vorlagen von Charles Perrault und der Gebrüder Grimm wird sie bei Massenet – und dankenswerterweise auch bei Clément – weder durch die Mutter noch durch die Schwestern misshandelt. Die Rolle des Heimchens am Herd („Reste au foyer, petit grillon“), die sie bei ihrem ersten Auftritt „in der Art einer Volksweise“ evoziert, scheint schlicht ihr natürliches Los zu sein – was niemand hinterfragt. Niemand, bis auf die gute Fee, die als diamantglitzernde Patin über die Halbwaise wacht. Mit einem Schlag ihres Zauberstabs (sowie Ketten funkelnder Koloraturen) versetzt sie Cendrillon in den königlichen Crystal Palace, Mischung aus Paradiesvogel-Voliere und Weltausstellungs-Glashaus. Kathleen Kim besticht im Part der überirdischen Ersatzmutter mit Leuchtkraft ohne Schärfe und einer mehr poetischen als sportlichen Agilität.

Simsalabim! Die gute Fee kommandiert ihren gefiederten Geistern. (Bild: © Monika Rittershaus – OnP)

Der Traumprinz, bis dahin ein trister Teen, in dessen Dasein allein ein Paar rote Converse-Schuhe etwas Farbe brachten, verliebt sich auf den ersten Blick in Cendrillon – und umgekehrt. Beide sind Außenseiter, beide so rein und unschuldig, wie ihre Kleider weiß sind – und beide bewegen sich linkisch in einer Hofwelt, in der Ungekünsteltheit als unnatürlich verachtet wird. Tara Erraught und Anna Stephany entsprechen diesem Charakterprofil darstellerisch wie stimmlich. Letztere gefällt in der Hosenrolle des Prinzen mit warmem Timbre und – auch in bravourösen Momenten – leicht gedämpftem Glanz. Erstere entfaltet in der Titelrolle wo nötig auch Strahlkraft, besticht vor allem aber durch sichere Stütze, fokussierte Tonbildung und reibungslose Registerwechsel. Frederica von Stade (in den 1970er Jahren) und Joyce DiDonato (seit 2006) haben den Part mit mehr Reife, ja Herbstlichkeit abschattiert, was rein farblich reizvoller sein mag. Doch lässt sich dafürhalten, dass Erraughts „reinweißer“ Ansatz der Rolle besser entspricht. Gegenüber der Irin fällt Lionel Lhote im Part des Vaters Pandolfe ab: Bei aller Legato-Kunst und gepflegten Diktion scheint ihm doch ein wenig das Stimmvolumen für den Riesensaal zu fehlen. Doch die Akustik des Bastille-Parterres ist oft trügerisch.

Tausche Converse gegen Glaspantoffeln - der Traumprinz hat seine Künftige im Balltrubel sogleich an ihrer reinweißen Seele erkannt (Bild: © Monika Rittershaus – OnP)

Helden des Abends sind so oder so die Regisseurin und der Dirigent. Ein Beispiel unter vielen für Cléments fantasievolle, dabei den Buchstaben wie den Geist des Werks respektierende Deutung: Jedem Akt geht ein durch Etienne Guiol geschaffenes Video in Form bewegter Schattenrisse voraus. Im ersten Aufzug stellt dieses (fast) sämtliche Protagonisten vor, wie es der 1899 bei den Proben gestrichene und seither nie aufgeführte Prolog tat – ein augenzwinkernder Fingerzeig für Kenner. Im zweiten Akt verweist das Filmchen mit seinem Rahmen aus kleinen Prinzessinnen in trippelnder Endloswiederholung nicht nur auf das Thema des Aufzugs – die Brautwahl –, sondern auch auf die monotonen Repetitionen des „concert mystérieux“, das Flöte, Bratsche und Harfe da hinter den Kulissen intonieren.


Schier ideal endlich, wie Carlo Rizzi das Opernorchester zu leichtem und leisem, hinreißend geschmeidigem Spiel animiert. Fragen nach der Originalität von Massenets Harmonik, nach der Tiefe seiner Inspiration und der Länge seines Atems werden hinfällig angesichts dieser duftigen, mit der Transparenz von Aquarellbildern instrumentierten und aufgrund ihrer unregelmäßigen Periodik durchweg die Spannung aufrechterhaltenden Phrasen. Die Musikerinnen und Musiker im Orchestergraben sind hörbar in ihrem Element; Ricci lässt sie spielen, schillern und staunen. Ein zauberhafter Abend.

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