Skulptierte Granatenhülsen und Skizzenbücher aus dem Felde – das Memorial von Verdun zeigt eine Ausstellung über Grabenkunst, die im Ersten Weltkrieg in der Maas-Gegend geschaffen wurde
Die Gräben des Ersten Weltkriegs werden gemeinhin mit Schlamm, Promiskuität und Tod durch Gas, Gangrän oder Granaten assoziiert. Nicht jedoch mit Kunst. Dabei fanden die Soldaten beider Lager zwischen zwei Bombardierungen oft die Muße, Werke zu schaffen, die man mit der Vokabel „Grabenkunst“ bezeichnet. Buchpublikationen auf Deutsch, Englisch und Französisch zeugen von dem vor zwei Jahrzenten erwachten Interesse für ein Genre, das Grauen und Genuss, Geschichte und Gegenwart auf eine das breite Publikum unmittelbar ansprechende Art und Weise verbindet.
Der Ortsname „Verdun“ ist wegen der daselbst zwischen Februar und Dezember 1916 ausgetragenen Materialschlacht zum Synonym für „Grabenkrieg“ geworden. So scheint es nur folgerichtig, dass das dortige Memorial seine erste Kunstausstellung überhaupt dem „art des tranchées“ widmet. Die Struktur der Schau ist von exemplarischer Klarheit: Ein erster Teil vereint Werke von Soldaten ohne künstlerische Ausbildung; ein zweiter die Arbeiten von Berufsschöpfern, die als Soldaten dienten; ein dritter die Produktion von Künstlern, die nicht mit der Waffe in der Hand kämpften, aber im Auftrag der jeweiligen Autoritäten das Frontgeschehen dokumentierten beziehungsweise überhöhten. Das Ganze fokussiert auf Verdun und Umgebung sowie auf die Kriegsgegner Deutschland und Frankreich.
Das erste Kapitel vermittelt einen Fakt und eine Einsicht. Der Fakt: Das Gros der Soldaten war vordem im Zivilleben einer manuellen Arbeit nachgegangen: Handwerk, Ackerbau, Fabrikarbeit… Männer, die tagein, tagaus mit ihren Händen zu schaffen pflegten, setzten diese Gewohnheit auch in den Gräben fort. Sie nutzten, was ihnen unter die Hände fiel – Holz, Stein, das Metall von Munitionen –, und schufen ihre Werkzeuge oft selbst. So entstanden Ringe, Feuerzeuge, Tabakdosen und zwei typische Hervorbringungen der Grabenkunst: skulptierte Granatenhülsen und spitzenartige Laubblätter (letztere so lang mit einer feinen Nadel durchstochen, bis sich vom Blattskelett ein durch eine Schablone ausgespartes Wort oder Motiv abhob). Die Einsicht: Es ist noch kein Künstler vom Himmel gefallen, nicht einmal in einen Graben. Was Amateure seinerzeit an der Front schufen, blieb – so außergewöhnlich die Umstände auch sein mochten – kommun. Von Interesse mochte allenfalls die Thematik sein, namentlich da, wo die Kriegs-Ikonographie bewusst ausgeblendet wurde zugunsten idyllischer, ja utopischer Szenen.
Weit gehaltvoller, was Berufskünstler, die Kriegsdienst leisteten, seinerzeit bei Verdun schufen. Fernand Léger schrieb von dort an einen Freund: „Es gibt keinen kubistischeren Krieg als diesen, der Dir einen Kerl mehr oder weniger wörtlich in mehrere Teile auseinanderdividiert.“ Neben kubistischen Bleistiftzeichnungen des Franzosen zeigt die Schau auch die bereits 1915 entstandene „Popote de la vache enragée“, ein mithilfe von „Frontwerkstoffen“ geschaffenes Gemälde: zwei Mehlsäcke, ein Stück roter Hosenstoff, ein Munitionskisten-Brett.
Von Franz Marc, der zwanzig Kilometer östlich von Verdun fiel, sind Faksimiles des nachgelassenen „Skizzenbuchs aus dem Felde“ zu sehen. Diese Bleistiftminiaturen feiern in ätherisch abstrahierter, licht vibrierender Form Begegnungen mit der pflanzlichen und tierischen Schöpfung; der Krieg ist nur in dreien von ihnen präsent. Umso bleierner lastet er in den Radierungen von Henri Debarbieux‘ Mappe „Verdun“: Finsternis schluckt da die Gesichter schemenhafter Figuren, verzerrte Proportionen sowie übersteigerte Hell-Dunkel-Kontraste erzeugen eine Albtraumstimmung zwischen Goya und Redon.
Dankenswerterweise dokumentiert die Schau auch das Schaffen zum Kriegsdienst eingezogener Lyriker und Musiker. Aus der Warte der unmittelbaren Gegenwart mag frappieren, dass mehr als die Hälfte des Programms eines Konzerts, an dem der bei Verdun kämpfende Komponist und Dirigent André Caplet 1916 mitwirkte, aus Werken deutscher Komponisten bestand (unter ihnen sogar Richard Wagner). Boykottaufrufe gab es seinerzeit zwar ebenso wie heute, aber ein unabhängiger Geist wie Maurice Ravel widersetzte sich ihnen dezidiert. Dass der künftige Schöpfer des „Boléro“ auf eigenes Drängen hin ein Jahr lang als Lastwagenfahrer gedient hatte, obwohl er aus Gesundheitsgründen freigestellt worden war, verlieh seinem Einspruch gegen das Canceln der Kollegen Strauss und Schönberg zusätzliches Gewicht.
Endlich befasst sich die Schau auch mit Künstlern, die an der Front weilten, um dort Auftragsarbeiten zu schaffen. Die Bandbreite reicht von malenden Kriegsberichterstattern – unter ihnen der Deutsche Ernst Vollbehr, Spezialist für Luftpanoramen wie „Deutsche Gasbeschießung hinter den deutschen Stellungen auf das noch von den Franzen besetzte Dorf Regneville“ – über begnadete Ruinenmaler wie François Flameng bis hin zu „Kunst-Kämpfern“. So der 1852 geborene Presseillustrator Jean-Louis Forain, seinerzeit eine Berühmtheit, die ihr Talent als Pressezeichner (und als Generalinspektor der sogenannten Camouflage-Abteilung) in den Dienst des Vaterlands stellte. Mit „La Borne“ schuf Forain 1916 ein Bild von solcher Symbolkraft, dass es in Form von Flugblättern über feindlichen Stellungen abgeworfen wurde: Ein Grenzstein mit der Aufschrift „Verdun“, an dem eine Welle toter deutscher Soldaten aufläuft.
Doch das moderne Sinnbild der sinnlosen Schlacht malte 1917 Félix Vallotton. Sein Ölgemälde „Verdun“ trägt den Untertitel „Interpretiertes Kriegstableau, bunte schwarze, blaue und rote Projektionen, verwüstetes Gelände, Gasschwaden“ – eine quasi-abstrakte Allegorie der titanischen Kräfte, die die Menschen und sogar jede Spur an deren Dasein unbarmherzig auslöschten.
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