Kunst, die aktiv wirkt: Die Navire Avenir soll in Not geratene Migranten im Mittelmeer retten
Kunstwerke, die den desolaten Zustand der Welt beklagen, gibt es zuhauf – von Jacques Callots Radierungen der Gräuel des Dreissigjährigen Kriegs bis zum Gros der Abschlussarbeiten heutiger Kunstschulstudenten. Warum nicht ein Stück entwerfen, das, statt passiv zu weinen, aktiv wirkt? Dies die Grundidee hinter dem geplanten Bau der Navire Avenir, des ersten Seenotrettungsschiffs, das für die Bergung in Not geratener Migranten im Mittelmeer konzipiert wurde.
Ausgangspunkt war eine Künstlerresidenz an der Villa Médicis in Rom 2019/20, bei der Sébastien Thiéry die Erstellung eines Unesco-Antragsdossiers für die Anerkennung des Akts der Gastfreundschaft als Immaterielles Kulturerbe der Menschheit koordinierte. Dabei stieß der Schriftsteller, Filmemacher, Politologe und Mitgründer der auf „Forschungs-Aktionen“ mit Migranten spezialisierten Vereinigung PEROU auf den praktischen Erfahrungsschatz von Seenotrettern. Durch das Centre Pompidou-Metz 2020 eingeladen, für dessen zehnten Geburtstag ein Werk zu schaffen, schlug Thiéry einen „Erweiterungsbau“ in Form eines Rettungsschiffes vor. Hat nicht der Architekt des lothringischen Ablegers des Pariser Centre Pompidou, der Pritzker-Preisträger Shigeru Ban, vielmediatisierte Katastrophenhilfe-Bauten entworfen?
In den Folgejahren arbeitete ein Kollektiv das Projekt bis ins Detail aus – der Verein Navire Avenir versammelt heute Migranten, die einen Schiffbruch überlebt haben, Seenotretter, Architekten, Ingenieure, Designer, Juristen, Pfleger, Forscher, Köche und Studenten aus ganz Europa. Verschiedenenorts schon in Arbeitsfassungen vorgestellt, ist das Unternehmen diese Woche in Paris recht eigentlich lanciert worden. Ziel ist, bis zum Jahresende sechs Millionen Euro zu sammeln, um mit dem Bau des auf siebenundzwanzig Millionen Euro veranschlagten Schiffes zu beginnen. Warum eine solche Riesensumme? Ein Blick auf den Vorplatz des Centre Pompidou offenbarte die gewaltigen Dimensionen der Navire Avenir. Deren Grundplan steckte da, mit Kreide auf den Boden gezeichnet, den Raum ab für allmorgendliche imaginäre Führungen in Begleitung von Sympathisanten und Mitgliedern des Trägervereins: 69 Meter Länge, 22,5 Meter Breite! Das Schiff, so Thiéry auf Anfrage, sei für Fälle konzipiert, in denen es Hunderte von Schiffbrüchigen zu retten gelte. Zugleich jedoch antizipiere seine Größe die Verschärfung der Notlage in einer nahen Zukunft, wo die Klimakatastrophe und deren Folgen zu einem exponentiellen Anstieg der Zahl verzweifelter Mittelmeerfahrer führen werden.
Bei einer Konferenz im Centre Pompidou am Mittwochabend machten achtzehn Vertreter des Trägervereins deutlich, wie viel Gedankenarbeit sie in die Gestaltung des Schiffes investiert haben. Der Input von schiffbrüchigen Migranten, versammelt in der Marseiller Association des usagers de la PADA, dürfte hier kaum zu überschätzen sein. Die Form des Katamarans wurde so gewählt, weil dieser Schiffstyp wenig schaukelt: Gerettete leiden oft an Seekrankheit. Die beiden feinen Stahlrümpfe setzen dem Vortrieb nur geringen Widerstand entgegen, der Motor verbraucht also sparsam Elektrizität. Diese wird hybrid erzeugt: Durch eine 371 Quadratmeter große Photovoltaikanlage und durch zwei starre Segel, die wie vertikale Flugzeugflügel gen Himmel ragen und sich automatisch je nach Windrichtung und -stärke ausrichten. Auch in Sachen Wasser- und Abfallmanagement setzt das Schiff auf Nachhaltigkeit.
Die Sucharbeit leisten namentlich ein Heliumballon mit Nachtkamera und drei mit Ferngläsern bewehrte Späher in einem niedrig fliegenden Flugzeug der Vereinigung Pilotes volontaires. Letztere stehen mit der Mannschaft der Navire Avenir via eine Verbindungsperson an Bord (und nicht, wie heute üblich, an Land) in Kontakt. Gerettet werden Schiffbrüchige durch vier mitgeführte kleine „Tochterboote“. Über eine „Nachen-Brücke“, wo Verwundete verarztet und, so nötig, hospitalisiert werden, gelangen die Migranten zu einem fünfhundert Quadratmeter großen Refugium über der Hauptbrücke – weit weg von den Wogen, die sie terrorisieren. Hier finden sie sanitäre Anlagen und 372 Schlafplätze vor, Letztere bestückt mit Decken und sogar mit Schmusetieren für Kinder. Auch an Teppiche wurde gedacht, an eine vielsprachige Beschilderung, an vegetarische Mahlzeiten auf der Hauptbrücke, von der aus überall der Horizont zu sehen ist. Ja, selbst unmittelbare posttraumatische Betreuung (für im Lauf ihrer Odyssee vergewaltigte Frauen oder für die Hinterbliebenen Ertrunkener…) soll an Bord geleistet werden. Endlich will die Vereinigung Navire Avenir die Schaffung einer europäischen Seeflagge anregen – nur Deutschland und die Niederlande (sowie Norwegen außerhalb der EU) gewähren heute den Rettungsschiffen von NGO eine Flagge. SOS Méditerranée, an der Konzeption der Navire Avenir beteiligt und auch im Verwaltungsrat des Trägervereins vertreten, soll ihre Ocean Viking – ein umgenutztes Unterstützungsschiff für Ölplattformen in der Nordsee! – 2025 durch den neuen Katamaran ersetzen können.
Dies, sofern die jüngst lancierte Crowdfunding-Website genügend Startkapital zusammenbringt und Privatmäzene sowie öffentlich-rechtliche Geldgeber den „kleinen“ Spendern zur Seite stehen. Dreiundfünfzig Leiter französischsprachiger Kulturinstitutionen haben jüngst in „Le Monde“ zur Konkretisierung des Kunstwerks anderer Art aufgerufen: „Es handelt sich“, schreiben sie, „um ein ‘Reallymade’ für das 21. Jahrhundert, das aus der Endloswiederholung der Formen des Empörens und Beklagens ausbricht und eine affektive und effektive Beziehung zur Welt herstellt.“
Doch ist das Schiff nicht zu groß, zu teuer, zu schön? Warum nicht existierende Boote umrüsten, bestehende NGO unterstützen? Grundsätzlicher: Unterhält das Unternehmen nicht die illegale Einwanderung, ja spielt womöglich in die Taschen von Menschenschmugglern? Und warum Migranten auf See würdig empfangen, wenn man sie an Land dann doch nur unwürdig zu behandeln vermag? Solche und andere Einwände sucht die Rubrik „Argumente“ der erwähnten Website zu entkräften. Das wichtigste Plädoyer gegen aus Zweifel und Verzagtheit geborene Untätigkeit hielt am Ende des Abends im Centre Pompidou der Schriftsteller Camille de Toledo: Dem Europa der für den Schutz des Schengen-Raums zuständigen Grenz- und Küstenwache Frontex gelte es ein Europa der Gerechten entgegenzustellen. „Jeder an seinem Ort kann mit kleinen Gesten Fiktionen ins Leben rufen: Mit viel Sturheit und Beharren werden diese am Ende real. Aus der Zukunft betrachtet, sind es diese Gesten, die die Jetztzeit dereinst retten werden.“
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