Sexuelle Übergriffe zu Dutzenden: der Abbé Pierre, Frankreichs Gegenstück zu Mutter Teresa, stürzt von der Säule
Mit jedem Bericht wird es schlimmer. Mitte Juli 2024 veröffentlichte die Emmaüs-Bewegung den Rapport über eine interne Untersuchung, demzufolge der unter dem Namen „Abbé Pierre“ bekannte römisch-katholische Priester Henri Grouès (1912 bis 2007), das Aushängeschild der Hilfswerke Emmaüs International, Emmaüs France und Fondation Abbé Pierre, zwischen 1970 und 2005 sieben Frauen sexuell belästigt hat, unter ihnen eine Minderjährige. Fünf der Opfer sprechen von wiederholten Übergriffen wie „sexuell konnotierten Äußerungen“, „Einladungen zum Sex“, „aufgedrängten Küssen“ und „ungefragtem Berühren der Brüste“. Im September verzeichnete ein zweiter, nach einem Zeugenaufruf erstellter Bericht siebzehn weitere Fälle. Diesmal ging es um Zungenküsse, die einer Acht- bis Neunjährigen aufgezwungen worden waren, und um Beischlaf unter Zwang – sprich: um Vergewaltigungen. Ein dritter Rapport, soeben veröffentlicht, identifiziert neun neue Opfer, unter ihnen ein Junge sowie ein Familienmitglied von Grouès, das laut eigener Aussage einen inzestuösen Übergriff erleiden musste. Zu den 33 Opfern, die ausgesagt haben, kommen 24 weitere, die durch interne wie externe Untersuchungen identifiziert wurden – zuzüglich eine steigende Zahl von Betroffenen, die sich direkt an die Presse wenden.

Der falsche Heilige ist damit endgültig von der Säule gestürzt. In Frankreich genoss der Abbé Pierre nach einem Radio-Hilfsappell für Menschen ohne Dach über dem Kopf im eisigen Winter 1954, der als „Aufstand der Gutherzigkeit“ in die Geschichte eingegangen ist, einen Status wie Mutter Teresa. Er galt als Apostel der Armen, als Inkarnation des Arbeiterpriesters, als Schutzpatron der Obdach- und Papierlosen. Seit der Schöpfung der entsprechenden Umfrage 1988 erkoren ihn die Franzosen nicht weniger als siebzehn Mal zu ihrer Lieblingspersönlichkeit.
Nach den Enthüllungen der letzten Monate hat die Fondation Abbé Pierre jetzt eine Namensänderung angekündigt. Porträts und Statuen im öffentlichen Raum werden entfernt, Schulen, Parks und Mehrzweckhallen umbenannt. Viele stellen die Frage: Wer wusste was wann – und hat auf welche Art und Weise reagiert?
Wie sich herausstellt, wussten viele vieles. Aber es gibt wissen und wissen. Was Einzelnen, auch vielen Einzelnen bekannt ist, dringt drum nicht zwangsläufig ins allgemeine Bewusstsein. Zudem gibt es verschiedene Arten, Wissen zu verbalisieren, Grade der Explizitheit, die im Lauf der Jahrzehnte variieren. Im vergangenen Halbjahr haben Journalisten Archive durchsucht, Korrespondenzen gesichtet, um Antworten zu finden.

Im Spiegel der Briefe des jungen Henri Grouès erscheint, dass dieser schon als Kind und als junger Mann ein ungesundes Verhältnis zum Sexus hatte. Als Fünfjähriger nahm er einmal ein Messer ins Bett mit, um sich das Stück „Fleisch“, das ihn mit „Argwohn“ erfüllte, abzuschneiden. Die geplante Selbstkastration scheiterte, im Gegensatz leider zum Missbrauch, dem ihn ältere Internatsschüler wenige Jahre später monatelang unterzogen. Mit vierzehn verliebte sich Henri in einen engelhaften Sopransänger; mit fünfundzwanzig in einen anderen Kapuzinermönch. Seine „unnatürlichen“ Neigungen suchte er mit Selbstgeißelung zu bekämpfen.
Doch bereits als junger Parlamentsabgeordneter zwischen 1945 und 1951 verhielt sich der Abbé Pierre – das Pseudonym stammte aus seiner Zeit als Mitglied der Résistance – laut Zeitzeugen gegenüber Mitarbeiterinnen wie ein sexueller Beutegänger. Das war lang vor dem immens resonanzreichen Appel von 1954, nach welchem sich törichte Jungfrauen und hysterische Betschwestern in Scharen auf ihn stürzten. Eine nordamerikanische Promotionstour für Emmaüs 1955 geriet fast zum Fiasko: Wegen seiner Zudringlichkeit gegenüber Frauen musste Grouès sowohl New York als auch Québec verfrüht verlassen. Der katholische Philosoph Jacques Maritain, der mitreiste, fragte sich damals, ob der Abbé schizophren sei. Papst Franziskus warf letzten September mit Blick auf Grouès eine ganz ähnliche Frage auf: Können „Menschen, die Gutes tun, und von denen man später entdeckt, dass sie furchtbare Sünder sind“, können Dr. Schwarzrock und Mr. Lustmolch in Personalunion ein gottgefälliges Werk tun?
Der Heilige Vater konzedierte bei dieser Gelegenheit, der Vatikan habe spätestens seit dem Tod des Abbés 2007 von dessen Übergriffen gewusst – schob aber wie jeder Chef eines Weltkonzerns, dessen vergangene Verfehlungen auffliegen, die Verantwortung von sich: „Ich war damals nicht im Amt; und es ist mir nicht eingefallen, mich in dieser Sache kundig zu machen“. Auch der Präsident der Französischen Bischofskonferenz übte sich kurz darauf in einem offenen Brief im Verwässern. Er verwies zunächst auf seinerzeitige Maßnahmen wie eine 1957 zwangsverschriebene psychiatrische Kur (die ohne Wirkung blieb) und die Abordnung eines „Socius“, einer Art geistlichem Chaperon, um Grouès stets im Auge zu haben (was aufgrund von dessen Gewandtheit im Abschütteln misslang). Doch dann betonte er, kein Biograf und kein Biopic-Regisseur, kein Journalist und kein Politiker, denen der Abbé seinen Starruhm verdankte, hätten je Verfehlungen kritisiert. Und sexuelle Übergriffe gebe es in allen Arten von Milieus. Kurz: Jeder und niemand war schuld.

Vertreter der römisch-katholischen Kirche wie der Emmaüs-Bewegung sprachen seit den 1950er Jahren hinter vorgehaltener Hand von „Trieben“ und „Begierden“, die den Abbé zu „Verstößen“ verleitet und in „Abenteuer“ gestürzt hätten – ja von einer „Krankheit“, die es, wo nicht zu kurieren, so zumindest zu bändigen gegolten habe. Niemand verwendete bis jüngst das Wort „Übergriff“, aber vielen war schon früh bewusst, dass Grouès von Frauen ferngehalten werden musste. Dies auch im Interesse der Kirche, die er populär machte, und der karikativen Organisationen, die er gegründet hatte und die unbestritten Gutes taten (und noch immer tun). Letztere zeigen sich heute couragierter als Erstere: Eine durch die Emmaüs-Bewegungen eingesetzte unabhängige Kommission soll eruieren, wie die beiden Parteien mit den Übergriffen des Abbé Pierre umgegangen sind und warum ein Dreivierteljahrhundert lang nichts zum Thema ruchbar wurde. Offen ist die Frage nach Reparationszahlungen.

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