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Die Franzosen zuerst

Eine kleine (Ideen-)Geschichte des Rassemblement national

 


Nach dem zweiten Weltkrieg war der Rechtsextremismus in Frankreich auf Jahre hinaus diskreditiert. Zwar flammte gegen Ende der Vierten Republik das Strohfeuer des Poujadismus auf, einer rechtspopulistischen Bewegung mit antiparlamentarischen, fremden- und auch judenfeindlichen Zügen. Doch ab 1958 besetzten die beiden ersten Präsidenten der Fünften Republik, Charles de Gaulle und Georges Pompidou, mit konservativ-patriotischen Positionen fast das gesamte Feld rechts der Mitte. Gedankengut hart am rechten Rand wurde in dieser Zeit nur noch durch Splittergruppen getragen. Eine von ihnen war die neofaschistische Bewegung Ordre nouveau, die Ende 1972 im Hinblick auf bevorstehende Parlamentswahlen eine Partei gründete: den Front national (FN). Zehn Jahre lang vegetierte dieser in politischer Bedeutungslosigkeit dahin; sein Präsident indes, Jean-Marie Le Pen, erwarb sich peu à peu einen Ruf beziehungsweise Ruch als markiger Tribun.


„Mit uns, bevor es zu spät ist!“

Ab 1983 verzeichnete die Partei dann erste Wahlerfolge. In jenem Jahr errang der FN in Dreux bei Chartres zehn Gemeinderäte; 1984 folgten zehn EU-Abgeordnete, zwei Jahre später dank dem für kurze Zeit wiedereingeführten Proporzsystem 35 Sitze in der Nationalversammlung. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 1988 erhielt Le Pen gut 4,3 Millionen Stimmen, über 14 Prozent der Voten: eine „marée lepéniste“ (Springflut), so seinerzeit die Schlagzeilen. Eine relative Mehrheit von Arbeitern stimmte nunmehr für den FN; dieser nannte sich fortan die erste Arbeiterpartei des Landes und gründete, um der „Proletarisierung“ seiner Wählerschaft Rechnung zu tragen, Gewerkschaften in Fabriken und Transportbetrieben.


„Mit Franzosen französisch produzieren“

Doch mit kalkulierten antisemitischen Entgleisungen wie der Minimierung der Gaskammern zu einem „Detail des Zweiten Weltkriegs“ (1987) manövrierte der Parteipräsident den FN in eine Schmuddelecke, wo die Bewegung dazu verdammt schien, bei 15 Prozent der Voten zu stagnieren. Ende 1998 zogen ein Gutteil der Kader um den Generaldelegierten Bruno Mégret die Konsequenz aus Le Pens immer deutlicher zur Schau getragener Unlust, aus der Rolle des destruktiven Opponenten herauszutreten: Sie spalteten sich ab vom FN und gründeten eine neue Partei – ohne langfristigen Erfolg.


Nach diesem substanziellen Aderlass lag der FN um die Jahrtausendwende darnieder. Umso größer die Überraschung – und für die Großmehrheit der Franzosen die Bestürzung –, als Le Pen am 21. April 2002 mit fast 17 Prozent der Stimmen den sozialistischen Präsidentschaftsanwärter (knapp) ausstach und neben dem neogaullistischen Kandidaten Jacques Chirac in die zweite Wahlrunde gelangte. Der FN-Führer hatte eine offensive Kampagne geführt, die im Vergleich zu 1995 den Akzent stärker aufs Soziale legte und den fremdenfeindlichen Grundrefrain dämpfte. Sein Stimmzuwachs war indes bescheiden; Hauptgrund für Le Pens Weiterrücken in die zweite Wahlrunde war die Zersplitterung des linken Lagers in nicht weniger als acht Kandidaturen. Der „21. April“ war ein immenser Schock. Millionen gingen in den Folgetagen auf die Straße, am Ende stimmten fast alle Nicht-„Frontisten“, von den Trotzkisten bis zu den Neogaullisten, für Chirac. Dieser wurde mit über 82 Prozent der Voten wiedergewählt.



Auch bei den nachfolgenden Parlamentswahlen verhinderte die „republikanische Front“ den Sieg auch bloß eines FN-Abgeordneten. Doch im 13. Wahlbezirk des Pas-de-Calais erzielte Marine Le Pen mit knapp einem Viertel der Stimmen in der ersten Runde ein achtbares Ergebnis. Schon während der Präsidentschaftskampagne hatte die jüngste Tochter des Parteimitgründers vor Kameras und Mikrofonen ihre mediale Ausstrahlung bewiesen. Der FN war von Anfang an eine Familiengeschichte: Ein frühes Wahlplakat zeigte 1974 das lächelnde Gesicht von Jean-Marie Le Pen ohne den Namen noch das Logo der Partei – der Präsident steht für die Bewegung und umgekehrt. Die zweite Gattin des Patriarchen, seine drei Töchter und seine Großnichte sind oder waren aktive Mitglieder des FN. Männliche Parteigrößen sind oder waren ihrerseits mit Vertreterinnen des Le-Pen-Clans liiert – so der amtierende Parteipräsident, Jordan Bardella, mit einer Nichte von Marine Le Pen.


„Der Front national, das sind Sie!“. Aber jahrzehntelang war die Partei vor allem Er: Jean-Marie Le Pen. Hier seine drei Töchter auf einem Wahlplakat.

Letztere verlieh der Präsidentschaftskampagne ihres Vaters 2007 eine ganz neue, von vielen Älteren als „widernatürlich“ verschriene Stoßrichtung. Sie suchte mit einem Plädoyer für ein tolerantes, laizistisches Frankreich, in dem „assimilierte Einwanderer“ friedlich mit der „Stammbevölkerung“ koexistierten, die Banlieue-Jugend zu ködern. Kader geiferten gegen den „Linksdrall des Diskurses, die Pasteurisierung der Themen, die Wahlplakate im Benetton-Stil und das Ausbleiben von Kritik an Nicolas Sarkozys Posituren und Widersprüchen“. Tatsächlich gelang es dem rechtskonservativen Kandidaten, dem FN das Wasser abzugraben – indem er einen Gutteil von dessen Urprogramm übernahm! Jean-Marie Le Pen verzeichnete mit 10,4 Prozent der Stimmen in der ersten Runde sein schlechtestes Ergebnis seit 1974.


„Wählt Eure Banlieue“
„Sie haben alles kaputtgemacht!“

Es sollte seine letzte Kandidatur sein. 2011 wurde Marine Le Pen als seine Nachfolgerin an die Parteispitze berufen, schon im Folgejahr übertraf sie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl das beste Resultat, das der Vater je erzielt hatte – sowohl in relativen als auch in absoluten Zahlen. 2017 und 2022 gewann sie bei der Kür von Frankreichs Staatsoberhaupt jeweils weit über 1 Million Stimmen dazu. Bei den jüngsten Unterhauswahlen errang der FN zwar weitaus weniger Sitze, als Prognosen nach der ersten Runde in Aussicht gestellt hatten – manche von ihnen hatten gar eine absolute Mehrheit prophezeit. Mit 126 (von 577) Sitzen konnte die Partei ihre Gruppe aber um gut 40 Prozent ausbauen und bildet heute die größte Einzelpartei in der Nationalversammlung (mit Verbündeten kommt sie gar auf 142 Sitze).


Den Rechtsextremen gegenüber stehen im Unterhaus zwei stimmstärkere Bündnisse zentristischer und linker Parteien, deren ersteres indes nach sieben Jahren an der Macht starke Abnutzungserscheinungen zeigt, derweil das letztere volle sechzehn Tage gebraucht hat, um sich auf eine Anwärterin für das Amt des Premierministers zu einigen. Für die trotz starkem Stimmzuwachs einmal mehr durch die „republikanische Front“ an der Machtergreifung gehinderten Rechtsextremen scheint die Konjunktur günstig, um bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2027 und/oder den planmäßig 2029 stattfindenden Unterhauswahlen die absolute Mehrheit zu erringen – und so endlich ihr Programm umsetzen zu können.


„Ja, Frankreich“

Was dieses betrifft, zeigt die Partei ebenso viel Konstanz wie Opportunismus. Immigration ist das Kernthema des FN – nicht von Beginn an, aber seit 1978, als die Langzeitfolgen der ersten Ölpreiskrise offenbar wurden. Die Zurückweisung der Einwanderung war zunächst verbunden mit jener der Arbeitslosigkeit („1 Million Arbeitslose sind 1 Million überflüssige Immigranten“ lautete ein in seiner Schlichtheit schlagender Slogan) sowie mit jener der Unsicherheit. Einwanderer seien Nichtsnutze, Schwachsinnige, Delinquenten und Kriminelle, hielt eine Wahlkampfbroschüre 1974 wortwörtlich fest. Seit dem 11. September und zumal seit dem Wiederaufflammen des islamistischen Terrorismus in Frankreich, dem seit 2012 über 270 Menschen zum Opfer gefallen sind, hat der FN die schon zuvor stark antimuslimische und mehr noch antiarabische Stoßrichtung seiner Fremdenfeindlichkeit verschärft. Maghrebiner seien Diebe, Drogenhändler, Vergewaltiger und Terroristen, so die kaum subliminale Botschaft.


„Nein zum Islamismus“

Ist der FN rassistisch? Jean-Marie Le Pen wurde zwischen 1969 und 2012 sechsmal für antisemitische Aussagen verurteilt – und 2015 aus demselben Grund aus der Partei ausgeschlossen. Wiewohl die Bewegung sich schon länger um einen Persilschein in Sachen Judenhass bemüht – den ihr jüngst etwa der Nazijäger Serge Klarsfeld ausstellen mochte –, verweigert der Repräsentative Rat der Jüdischen Institutionen in Frankreich jeden Kontakt mit ihr. Die Partei werfe sich bloß in die Positur des Verteidigers der Juden, um den Antisemitismus „der Muslime“ zu brandmarken, monierte der Präsident des besagten Rats. Doch kehre sie nie vor der eigenen Tür, wie vor kurzem der Ausspruch des Parteipräsidenten Bardella bestätigte, er glaube nicht, dass Le Pen Vater ein Antisemit sei – trotz dessen Verurteilungen!


„Wir sind hier in Frankreich!“

Neben der Fixierung auf die Immigrationsthematik, getragen erst durch Futterneid, dann auch durch eine engstirnige Definition der „nationalen Identität“, legt der FN einen bemerkenswerten Opportunismus an den Tag. Dieser wirkt halb pragmatisch, halb zynisch. Pragmatisch ist namentlich die stillschweigende Preisgabe einstiger Kernforderungen wie dem Austritt aus der EU und aus dem Schengener Abkommen, der Wiedereinführung der Todesstrafe, der Aufhebung des Rechts auf Abtreibung, der Abschaffung der Schwulenehe, der Aufgabe des Euro oder dem Atomausstieg, weil die betreffenden Realitäten heute weitherum akzeptiert sind. Zynisch ist die verbale Verteidigung von Frauen und Homosexuellen, um so die Misogynie und Homophobie „der Muslime“ zu geißeln – stimmt die Partei doch nie für entsprechende Reformtexte (und meist sogar gegen diese). Regelrecht abgefeimt mutet endlich das Überziehen rosaroter Schafspelze an, wenn hohe und höchste Parteivertreter sich auf linke Ikonen wie Karl Marx, Jean Jaurès oder Léon Blum berufen.


„Jaurès hätte für den FN gestimmt“

Dass FN-Wähler derlei schlucken, liegt zum einen an ihrer Uninformiertheit. Zum andern aber auch an einer unter der Ägide von Bruno Mégret initiierten und unter Marine Le Pen sowie Jordan Bardella perfektionierten Weißwasch-Aktion mit dem selbstsprechenden Namen „dédiabolisation“. Dieser Fassaden-Exorzismus sucht der rechtsextremen Bewegung den Extremismus auszutreiben – aber nur auf der der Öffentlichkeit zugewandten Seite. Eine interne Broschüre lehrte Parteivertreter Anfang der 1990er Jahre etwa: „Statt zu sagen: ‚Die Kameltreiber ins Meer!‘, sagen wir besser, wir sollten ‚die Rückführung der Immigranten aus der Dritten Welt organisieren‘“.


Wortspiel: „Hisst die Segel/Verzieht Euch!“

Nichts indes zeigt die Doppelgesichtigkeit des FN besser als die Änderung des Parteinamens 2018. Dieser bilde, so Marine Le Pen seinerzeit, trotz seiner „epischen und glorreichen Geschichte“ eine „psychologische Hürde“ für zahlreiche Wähler – warum, wurde nicht expliziert, aber man verstand es auch so: Weil der FN aufgrund seiner Radikalität für viele abstoßend wirkt. Doch der neue Parteiname, „Rassemblement national“ (RN), verweist auf den kurzlebigen „Rassemblement national français“ des rechtsextremen Anwalts und Politikers Jean-Louis Tixier-Vignancour in den 1950er Jahren und auf den „Rassemblement national-populaire“, den der Faschist und Kollaborateur Marcel Déat 1941 gegründet hatte mit dem Ziel, zur Einheitspartei des Vichy-Regimes zu werden. Wer seiner Bewegung im 21. Jahrhundert einen solchen Namen gibt, ist schwerlich ein Republikaner, geschweige denn ein Demokrat.


„Drei Millionen Arbeitslose sind drei Millionen überflüssige Immigranten! Frankreich und die Franzosen zuerst!“

Dass der Rechtsextremismus in Frankreich stärker ist als in allen anderen EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Ungarn (und vielleicht von Polen), hat mehrere Gründe. Die blutige Trennung von Algerien 1962 zeitigte einen Phantomschmerz, den der Historiker Benjamin Stora mit den Langzeitfolgen der Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten der USA vergleicht: Ein solcher Schmerz lasse jahrhundertealte rassistische Vorurteile fortleben. Die Unfähigkeit der Sozialisten, das Los der einfachen Leute aufzubessern, durch Mitterrands wirtschaftspolitische Kehrtwende von 1983 wie durch die desaströse Präsidentschaft von François Hollande (2012 bis 2017) versinnbildlicht, untergrub die Glaubwürdigkeit der einst führenden Linkspartei. Die Schleieraffären seit 1989 (und erst recht die islamistischen Attentate seit 2015) trugen zur Zweckentfremdung des toleranten Laizismuskonzepts von 1905 zu einem Kampfinstrument gegen Muslime bei. Sarkozy eignete sich zwischen 2007 und 2012 Schlagwörter und Programminhalte des FN an; die jüngste Spaltung der einstigen Neogaullisten in Befürworter und Verweigerer eines Bündnisses mit dem RN zeigt, wie brüchig die „republikanische Front“ zum rechten Rand hin geworden ist. Endlich rühren die Pressetitel, Radio- und Fernsehsender des Bolloré-Konzerns, aber auch die Tageszeitung und vor allem das Wochenendmagazin der „Figaro“-Gruppe stets lauter die Propagandatrommel für den RN.


„Immigration… öffnet die Augen!“

Das Gedankengut der Rechtsextremen triumphiert so zusehends. Sogenannte Intellektuelle – wenn man Publizisten mit breiter medialer Oberfläche wie Pascal Bruckner, Luc Ferry, Alain Finkielkraut und Michel Onfray denn mit dieser Bezeichnung ehren will – verorten die Hauptgefahr für Frankreich heute allen Ernstes nicht am rechten, sondern am linken Rand. Neue Ismen verweisen auf die Schlachten, die Vertreter des „rechten Gramscianismus“ austragen: Diese Vorkämpfer für die kulturelle Hegemonie der Recht(sextrem)en fechten gegen den „Wokismus“, gegen den „Mondialismus“, der für weltweite Handels- und Bewegungsfreiheit plädiere, gegen den „Immigrationismus“, der Einwanderung als ein positives Phänomen darstelle, gegen „Menschenrechtlerismus“ („droit-de-l‘hommisme“), der sich tugendhaft geriere, aber bloß robuste Realpolitik verhindere, und gegen den „Entschuldigismus“ („excusisme“), der Verstöße gegen die soziale Norm für straffrei erkläre, indem er sie justament zu erklären suche. Zieht man noch den vielbeschworenen „Sperrklinken-Effekt“ in Rechnung, wonach nicht mehr umkehre, wer einmal für den RN gestimmt habe, die Legitimierung, die fast stetig steigende Wahlergebnisse zeitigen, die Erneuerungskraft, die von dem 28-jährigen, proper-telegenen Bardella ausgeht, sowie den verbreiteten Groll gegen Macron und Gefolgsleute, erscheint eine mittelfristige Machtergreifung der Rechtsextremen in Frankreich heute wahrscheinlicher denn je.


„Retten wir Frankreich vor dem europäischen Nepp“

 


Verwendete Literatur:
Valérie Igounet: Les Français d‘abord. Éditions Inculte, Paris 2017. 192 S. Euro 19,90.

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