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Des schlafenden Heilands wallendes Haar

marczitzmann

Aktualisiert: 3. Dez. 2024

Zwei Ausstellungen und weiterer Denkstoff als Gegengift zum Hype um die bevorstehende Wiedereröffnung von Notre-Dame
 

Am kommenden Wochenende wird die Kathedrale Notre-Dame de Paris wiedereröffnet. Ganz Frankreich bebt in Vorfreude. Um es weniger hehr zu formulieren: Entrepreneure wittern ein einträgliches Geschäft. Das betrifft in erster Linie den Selfmademan und Propagator der „Startup-Nation“ im Élysée, der seinen ramponierten Ruf mithilfe der Festlichkeiten am 7. und 8. Dezember zu vergolden hofft. Emmanuel Macron hat sein am 16. April 2019 gegebenes Versprechen, das am Vorabend durch einen Großbrand beschädigte Gotteshaus innerhalb von fünf Jahren „wiederaufzubauen“, fast fristgerecht gehalten: Daraus gedenkt Frankreichs Präsident nun Kapital zu schlagen. Doch auch kommunere Kommerzler bieten einschlägige Waren feil, von der auf fünfzig Flaschen limitierten Champagner-Sonderedition des Gourmettempels La Tour d’Argent, deren Holzschrein mit Notre-Dame-Stanzmuster als Windlicht fortleben soll, bis zum Adventkalender oder Pop-up-Buch mit gotischer Anmutung.


Prosit Wiedereröffnung – für 650 Euro können auch Sie mit anstoßen. (Bild: PD)

Seriösere Geistesnahrung offeriert seit kurzem das Musée de Cluny. Das staatliche Mittelaltermuseum richtet gemeinsam mit der Nationalbibliothek zwei kleine, feine Ausstellungen zu Notre-Dame aus. Die substanziellere der beiden belegt eindrücklich, dass die Restaurierung (der Begriff „Wiederaufbau“ ist unangebracht, weil „lediglich“ das Dachgebälk abgebrannt ist und der Vierungsturm eingestürzt) eine Chance bildet für die Erforschung der Kathedrale.


Clou der Schau mit dem sprechenden Namen „Die Steine zum Sprechen bringen“ sind dreißig Stücke des einstigen Lettners, die (unter gut tausend anderen!) 2022 bei Grabungen im Boden der Vierung gefunden wurden. „Stücke“ meint hier buchstäblich „Teile“: Fragmente der ab 1699 anlässlich von Umbauarbeiten zerstörten steinernen Schranke zwischen dem Kirchenraum für Geistliche und jenem für Laien. Aus Kalkstein hatten Bildhauer in den 1230er Jahren Miniaturarchitekturen geformt (ein Giebeldach mit Rosette zwischen zwei Spitztürmen), naturalistische Friese (Vögel und Nager zwischen Weinranken), aber auch anrührende Halb- und Flachreliefs wie eine Profilansicht des schlafenden Heilands mit wallendem Kopf- und Barthaar. Fast ein halbes Jahrtausend später waren viele dieser Schöpfungen regelrecht zerstückelt worden, was isolierte Hände und Füße sowie zwei Männerköpfe mit gefärbten Lippen und Haaren drastisch vor Augen führen.


Fragment einer Miniaturarchitektur des zerstörten Lettners, freigelegt bei den Grabungen 2022 (Bild: Denis Gliksman, Inrap)
Fries-Fragment, polychrom und naturalistisch, wie es für die strahlende Gotik charakteristisch ist (Bild: Hamid Azmoun, Inrap)
Christuskopf mit geschlossenen Augen (Grablegung?), um 1230 (Bild: zit.)

Viele der gefundenen Fragmente zeugen von der einstigen Polychromie gotischer Skulpturen. Doch eine farbige Gestaltung konnte nach Reinigung jetzt auch bei Werken nachgewiesen werden, die sich schon länger in der Sammlung des Musée de Cluny befinden (ein Großteil des Skulpturenbestands der Kathedrale wurde zur Revolutionszeit abgetragen beziehungsweise abgeschlagen und als Baumaterial verwendet – in welchem Zustand man ihn im 19. und 20. Jahrhundert exhumierte). So changierte auf dem Portal des Jüngsten Gerichts die Hautfarbe der Wiedererweckten zwischen Graublau und Hellrosa, während jene der Verdammten mehr ins Fuchsienrote ging. Ermöglicht wurde besagte Säuberungskampagne durch das Spendenmanna nach der Feuerkatastrophe – neben vielen anderen Initiativen, um den Stand der Forschung voranzubringen.


2022 entdeckte kopflose Figur mit königsblauer Tönung, um 1230 (Bild: zit.)

So wird das Bild der Kunstgeschichte, spezifisch: der gotischen Skulptur, mit kleinen Retuschen revidiert. Ein vermutlich schon während des Steinschnitts beschädigtes Kapitell, das 1982 gefunden worden war, konnte etwa mit einem unversehrten Gegenstück verglichen werden, das sich noch vor Ort befindet und dank der Baugerüste jetzt erstmals gut zugänglich war. Modernste Mittel der Bildgebung gestatteten es, Inschriften wie „Pavllvs“ oder schlicht ein „O“ von „Salomon“ zu entdecken und so die entsprechenden Figuren zu identifizieren. Fragmente, vervollständigt um neugefundene Splitterstücke, sind nunmehr klarer„lesbar“. Die räumliche Positionierung eines Engels wurde von Frontal- auf Profilansicht korrigiert. Und so weiter und so fort.


Eine holografische Vitrine dokumentiert die Identifizierung des „Zwillings“ eines 1982 gefundenen Kapitells anlässlich der jüngsten Restaurierung der Kathedrale. (Bild: zit.)

Scharen von Besuchern – Studenten in karierten Strickpullovern, gutkatholische Pärchen aus wohlsituierten westlichen Vororten, Kirchenmäuse in einem Zustand mystischer Verzückung, wie ihn Fellinis „Roma“ zeigt – schieben sich auch durch die Schau „Notre-Dame durchblättern“. Dort sind nicht nur handgeschriebene und -gemalte Bände des 13. bis 15. Jahrhunderts aus den Beständen der Kathedrale zu bewundern, sondern auch die Hintergründe von deren Zusammenstellung zu erfahren. Der erste – wohl nicht erschöpfende – Katalog der Bibliothek von Notre-Dame stammt aus den späten 1230er Jahren: Er führt 42 Werke auf. Naturgemäß legte der mittelalterliche Buchfundus der Kathedrale den Schwerpunkt auf Religiöses, und namentlich auf Theologisches. Wobei manche Leser anscheinend die Rechtschaffenheit missen ließen, die ihr Stand erheischt hätte: „Dieser Psalter gehört Notre-Dame de Paris“, warnt so eine lateinische Präambel, „wer ihn versteckt, nicht dem Kanzler zurückgibt oder ihn gar zerstört, den treffe der Bannfluch“. Doch bald schon mischte sich Profanes unter den geistlichen Lesestoff: antike Komödien, der Rosenroman, ja Christine de Pizans protofeministisches „Buch von der Stadt der Frauen“.


In Substanz steht hier: „Stehlen verboten!“. (Bild: zit.)

Die Restaurierung von Notre-Dame innerhalb von nur 68 Monaten ist eine beachtliche Leistung. Doch sollte man ob des Hypes nicht unbeantwortete Fragen und fragwürdige Vorgehensweisen vergessen, die die Spindoktoren des Élysées gar zu gern im Wiedereröffnungsjubel untergehen sähen. So ist, erstens, der Auslöser des Brands bis heute nicht bekannt. Es gibt Mutmaßungen – ein Winkelschleifer, der seinerzeit bei Renovierungsarbeiten zum Einsatz kam; ein Zigarettenstummel; ein elektrisches Läutwerk –, aber keine Gewissheiten. Dass die im Juni 2019 eingeleitete Untersuchung noch immer nicht abgeschlossen ist, mutete Spezialisten – ohne Verschwörungstheorien nähren zu wollen – merkwürdig an. Zumal von Anfang an klar war, dass der Brandherd am Fuß des Vierungsturms lag und dass ein Unfall ihn gezeitigt hatte. „Aber niemand hat heute Interesse daran, die wahre Ursache zu finden“, schreibt der Kunstjournalist Didier Rykner in seinem Buch „Notre-Dame, une affaire d’État“. Weder der Klerus, der das erwähnte Läutwerk vorschriftswidrig vom Provisorium zur Dauereinrichtung hatte werden lassen, noch die 2019 an den Renovierungsarbeiten beteiligten Unternehmen, die bei der jüngsten Restaurierung teils erneut zum Einsatz kamen, noch der Staat, der als Besitzer der Kathedrale den elementaren Brandschutz vernachlässigt hatte. So hielt am 15. April 2019 ein einziger Feuerwehrmann Wache, der mit dem Riesenbau nicht vertraut und durch Überstunden ausgelaugt war. Und die Pariser Kollegen, die dieser bedauernswerte Wächter 28 (achtundzwanzig!) Minuten nach dem ersten Alarmsignal benachrichtigte, hatten ihrerseits keinen Teleskopmasten von über 32 Metern zur Verfügung – wo die Fassade der Kathedrale (ohne Türme) bereits 45 Meter hoch ist!


Profaner Lesestoff: Ciceros „Laelius de amicitia“, 13. Jahrhundert (Bild: zit.)

Zweitens möchte man die Art und Weise, wie gleich nach dem Brand die Restaurierung aufgegleist wurde, als zum Mindesten ungewöhnlich bezeichnen. Macron entschied bereits am Folgetag im Alleingang, dass der „Wiederaufbau“ fünf Jahre zu dauern habe – warum nicht deren vier oder sechs? Der Zwang zum Einhalten der gesetzten Frist hatte dann zur Folge, dass archäologische Grabungen bloß punktuell durchgeführt werden konnten. Wenn man im Musée de Cluny sieht, welche Schätze ein lediglich zwanzig Quadratmeter großer Bodenstreifen preisgegeben hat, kann man den Verzicht auf systematische Grabungen nicht anders als sträflich nennen.


Kurios war auch die Schaffung eines zweckgebundenen öffentlich-rechtlichen Etablissements mit dem selbstsprechenden Namen „Rebâtir Notre-Dame“, wo auch das Kulturministerium die Kathedrale hätte „wiederaufbauen“ können. Und nachgerade stoßend die Verabschiedung eines Sondergesetzes, das Rebâtir Notre-Dame ermächtigte, sich über eine Vielzahl von Regelungen hinwegzusetzen, darunter auch städtebauliche und denkmalpflegerische. Die kaum implizite Botschaft: Derlei Auflagen gelten für alle, nur nicht für den Staat.


In dieselbe Kerbe schlug der unsägliche Vorstoß für eine zeitgenössische Gestaltung des Vierungsturms. Und schlägt noch immer Macrons Marotte, in sechs Kapellen die denkmalgeschützten (und jüngst restaurierten) Kirchenfenster des 19. Jahrhunderts durch Neuschöpfungen ersetzen lassen zu wollen. Als gebe es nicht die Charta von Venedig, das Übereinkommen von Malta, das Nara-Dokument: internationale Richtlinien zum Denkmalschutz, die auch Frankreich zu respektieren vorgibt. Und die Eingriffe wie die genannten von vornherein verunmöglichen sollten.


Messbuch von Notre-Dame, um 1400 (Bild: Bibliothèque nationale de France)

Zuletzt, aber nicht zuunterst sind die Arbeiten nur im Inneren der Kathedrale abgeschlossen. Die Renovierung der Fassaden dürfte ihrerseits noch bis mindestens Ende des Jahrzehnts dauern – ganz zu schweigen von der Umgestaltung der Ostspitze der Île de la Cité um Notre-Dame herum durch eine Gruppe um den belgischen Landschaftsarchitekten Bas Smets. Und von der durch Macron im April 2023 in Aussicht gestellten Schaffung eines Notre-Dame-Museums im benachbarten Hôtel-Dieu. Hier steht weder die Finanzierung fest noch die genaue Lokalisierung in dem ehemaligen Krankenhauskomplex noch die inhaltliche Ausrichtung: farbig-facettenreiche Einführung in die (nicht nur: Bau-)Geschichte der Kathedrale mittels hochkarätiger Dokumente und Kunstwerke oder bloßes 3D-Album der jüngsten Restaurierung?

 


 

Die Ausstellungen „Faire parler les pierres“ und „Feuilleter Notre-Dame“ laufen bis zum 16. März 2025 im Musée de Cluny. Zu Ersterer gibt es einen Katalog.

Verwendete Literatur:
Didier Rykner: Notre-Dame, une affaire d‘État. Les Belles Lettres, Paris 2023. 272 S., Euro 17,50.
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