Heute vor hundert Jahren starb Joseph-Ferdinand Cheval, der im ländlichen Département Drôme seinen Traum eines mittelalterlich-exotischen Luftschlosses Stein werden ließ.
„Kunst kommt nicht von Können, sondern vom Müssen“, schrieb Arnold Schönberg 1910. Wenige Kunstwerke beglaubigen diesen großen Künstlersatz schlagender als eine zwei Jahre später vollendete Schöpfung von ureigener Güte: der Palais idéal du facteur Cheval. Wie unter dem Zwang eines inneren Antriebs zum bildhauerisch-architektonischen Schaffen errichtete ein Landpostbote, Joseph-Ferdinand Cheval, ohne jede künstlerische Aus- und Vorbildung zwischen 1879 und 1912 im südwestlichen französischen Département Drôme einen Traumpalast von – für ein Ein-Mann-Unternehmen – gewaltigen Dimensionen: zwischen 8 und 10 Metern hoch, die West- und Ostfassade jeweils 26 Meter lang, die beiden anderen zwischen 12 und 14 Metern – insgesamt 1000 Kubikmeter Mauerwerk, aufgetürmt in 93 000 Arbeitsstunden! „Wer hartnäckiger als ich, mache sich ans Werk“, fordert eine der zahlreichen Inschriften des Palais idéal die Besucher heraus.
Diese entdecken den Bau gewohnt von der Ostfassade her. Hier nahm das monumentale Unternehmen im Frühjahr 1879 seinen Anfang. „Molassesteine, unbearbeitet, aber mit erstaunlicher Sicherheit zusammengefügt, tierförmige Kiesel, in ihrem Karzer aus Mörtel gefangene Muscheln, rudimentäre Becken und komplexe Nischen, alles hier zeugt vom ersten unwiderstehlichen, ununterdrückbaren, uneindämmbaren Schaffensimpuls“, beschreibt Gérard Denizeau in seiner 2011 veröffentlichten Monografie den ältesten Teil des Palasts. Durchaus programmatisch war der Urbau, den Joseph-Ferdinand Cheval (1836 bis 1924) dem Boden seines Gemüsegartens entsteigen ließ, die „Source de Vie“: ein „Lebensquell“, dessen verstummtes Plätschern wie subliminales Gemurmel noch in der Luft zu schweben scheint (die Fontäne ist, wie alle anderen Wasserwerke des Palasts, aus konservatorischen Gründen längst nicht mehr in Betrieb). Rechts und links umrahmen den versiegten Quell ein ägyptisches Mausoleum mit gewaltigen Trommelsäulen und die durch steinerne Palm- und Olivenbäume, Feigenkaktusse und Aloen gekrönte „Tour de Barbarie“, über deren Fassade sich drei langgezogene Riesen hinstrecken, mit Wämsern wie aus geschorenem Schafsfell.
Die überbordende Nordfassade polarisiert, ja lädt zum Polemisieren ein. Nicht wenigen galt seinerzeit die Vermählung christlicher und heidnischer Elemente, von Motiven aus dem Buch Genesis (Eva, die Schlange, die Arche Noah) und von antikisierenden Chimären (mit Assoziationen an vielköpfige Ungeheuer wie Hydra und Skylla) als eine Häresie. Alles hier wächst und wuchert, bis hin zu schwindelerregend vervielfachten Widderköpfen und Krakententakeln.
Ganz anders wiederum die Westfassade. Hier bergen Nischen fünf übermannshohe Architektur-„Miniaturen“ – von links nach rechts ein Hindutempel, ein Schweizer Chalet, ein Weißes Haus, eine „Maison carrée d‘Alger“ und ein mittelalterliches Schloss. Diese Modelle von Fantasiebauten versuchen nicht einmal, realen Vorbildern zu ähneln; stattdessen bestechen sie durch ihre naiv stilisierten Formen und durch die Vielfalt der verwendeten Naturbaustoffe: Steinkugeln, Meeresmuscheln, buntes Flusskies, ein schwammartiges Mörtelgemisch… Doch finden sich liliputanische „Follies“ mit bewussten oder unbeabsichtigten Anspielungen auf diverseste Architektur(form)en, von Tholos und Pagode bis hin zu den antiken „Wolkenkratzern“ von Sanaa und Tantamayo, aber auch zum Tempelkomplex von Angkor Wat, über den ganzen Palast verstreut.
Die Südfassade endlich zeichnet sich vor allem durch ihr enormes Portal aus, dessen Ziergiebel beunruhigende Kreaturen bevölkern, derweil pflanzliches und tierisches Gewimmel das linke Gewand überwuchert. Vertreter der Fauna mehrerer Kontinente ziehen sich auch über die Flachreliefs der Galerie hinweg, die den Palast H-förmig durchquert: Katz und Maus, Kuh und Gans, aber auch Kamel, Elefant, Ameisenbär sowie das Paar aus Strauß und Flamingo mitsamt unwahrscheinlichem Nachwuchs. Die Imagination des Briefträgers Cheval entzündete sich vor allem an Mittelalterlichem und an Exotischem; wichtigste Quellen waren der altfranzösische Fuchsroman sowie zeitgenössische Illustrierte.
Mit Lesen und Schreiben tat sich der Sohn von Kleinbauern, der im Alter von zwölf Jahren die Dorfschule verließ, indes zeitlebens schwer. Nachdem er als Jugendlicher auf dem elterlichen Hof mitgearbeitet hatte, verschrieb sich Cheval kaum volljährig (und bereits Vollwaise) dem Bäckerhandwerk. Nach allerlei Zwischenstationen – und einer längeren Lücke im Lebenslauf zwischen 1860 und 1863: wohnte er womöglich eine Zeitlang in Algerien? – schlug der junge Mann endlich die Postbotenlaufbahn ein und ließ sich 1869 in dem 2500-Seelen-Dorf Hauterives nieder. Dort würde er bis zu seiner Pensionierung 1896 täglich gut dreißig Kilometer zu Fuß zurücklegen – über Steilhügel und Sturzbäche hinweg, bei Sturm und Schnee.
Im April 1879 hatte Cheval seine Epiphanie. Während er von einem Weiler zum nächsten eilte, strauchelte er über einen Stein. Dieser mythisch gewordene Stolperstein (den auf der Terrasse des Palasts ein anderer, ungleich massiverer und plastischerer evoziert) faszinierte den Landpostboten durch seine Form – und beschwor einen verblassten Traum herauf: „Ich hatte im Geist einen Palast erbaut, ein Schloss oder Grotten, ich kann es nicht recht in Worte fassen… Aus Furcht, ausgelacht zu werden, erzählte ich niemandem davon – ich fand mich selbst lächerlich. Doch nach fünfzehn Jahren, als ich meinen Traum fast vergessen hatte und kaum mehr daran dachte, rief mein Fuß ihn wach.“ Das war der Auslöser. Von da an gab es keinen Halt mehr, keine Rücksicht auf Familie und Nachbarn, weder Rast noch Ruhe. Mit dem Fleiß einer Ameise und der Unnachgiebigkeit eines Sisyphus‘ las Cheval auf seinen Runden Steine und andere Baumaterialien auf, schleppte jeweils bis zu 40 Kilogramm von ihnen auf dem Rücken nach Hause oder türmte sie zu Haufen, die er spätnachts aus einer Entfernung von fünf, zehn oder gar fünfzehn Kilometern zum im Entstehen begriffenen Palast karrte. Diesen formte er ohne jede Vorbildung als Maurer, geschweige denn Architekt aus Mörtel, den er teils – ohne je von Eisenbeton gehört zu haben – durch Metallstreben verstärkte. Wo ein monomanischer Wille ist, findet sich auch ein bautechnischer Weg, so anfällig für Infiltrationen, Verwitterung und Rost das Ergebnis dann auch sein mochte – der Palast bedarf ständiger Restaurierungen.
Fotografien des 48-, 69-, 81-Jährigen zeigen ein zunehmend verhutzeltes Bauerngesicht, an dem der rätselhaft-sehrende Blick frappiert. Dessen bodenlose Schwärze gibt nichts preis, lässt nicht los. Was ihn angetrieben hat, verriet Cheval nie. Verlautbarungen, wonach Arbeit und Ehre, „Hoffnung, Geduld und Ausdauer“ seine Motive gewesen seien, tönen wie Rationalisierungen im meritorischen Vokabular der Zeit. Glaubhafter wirkt das Geständnis, als Bauernsohn beweisen zu wollen, „dass es auch in meiner Kategorie Männer der Erfindung und Energie gibt“. Aber soziale Revanche scheint ein wenig kurz als Movens für ein Unternehmen, das das Leben seines Urhebers völlig aufzehrte. „Ich hätte meine Freizeit mit Jagen und Fischen verbringen können, mit Billard- und Kartenspiel“, bekundete Cheval in einem seiner autobiografischen Texte. Es klingt nicht wie eine Klage, sondern wie die stolze Selbstversicherung, dank dem Palastbau einen Fahrschein zur Endstation „Unsterblichkeit“ erworben zu haben. Chevals Mausoleum voller Memento-mori-Motive wie auch das grandiose Grabmal im „Rocaille-Dschungelstil“, das er sich und seinen beiden Gattinnen sowie drei Kindern, die allesamt vor ihm verstarben, zwischen 1914 und 1922 auf dem Friedhof von Hauterives errichtete, dienen dem Zweck, das Vergessen im Tode zu bannen. Doch ist das nicht der Grund für ihr Entstehen. Vielmehr schuf der Briefträger seine Bauten aus demselben instinktiven Impuls heraus wie Dachs und Biber die ihren: Weil er nicht anders konnte, ein innerer Zwang ihn dazu nötigte. In einem anderen Leben wäre der getriebene Visionär vielleicht Reichsgründer, Religionsstifter oder Serienmörder geworden.
Chevals Kunst, die vom Müssen kommt, zog schon früh Aufmerksamkeit auf sich. Journalisten popularisierten von 1884, Fotografen von 1894 an das Monument, das ein Alpenbarde 1904 „Palais idéal“ taufte. Regelmäßige Führungen fanden von der Jahrhundertwende an statt, manche Sonntage kamen bis zu fünfzig Besucher (heute strömen jährlich über eine Viertelmillion Schaulustige nach Hauterives, wo vom Weinhandel bis zum Fahrradverleih zahlreiche Läden nach dem Postboten benannt sind). Die meisten bestaunten indes die Fleißarbeit, den Willensakt, die steinerne Konkretisierung eines luftigen Traums – weniger das Kunstwerk an sich. Dessen Entdeckung und Adelung war den Surrealisten zu verdanken. Und zuvörderst dem wenig bekannten Jacques Brunius, der zwischen 1929 und 1938 fünf Texte über den Palast verfasste und 1939 den Dokumentarfilm „Violons d’Ingres“ über „Sonntagskünstler“ drehte: Cheval kommt darin neben dem Zöllner Rousseau der Löwenanteil zu. Brunius führte unter anderen die Fotografin Denise Bellon nach Hauterives: Eine dort entstandene Serie, die mittels Unter- und Aufsichten, Detailaufnahmen und ähnlichen Kunstgriffen das Fremde und Vertraute, Furchterregende und Verzaubernde, kurz: das Surrealistische am Palais idéal herausstreicht, fand bis nach New York Anklang, wo sie 1936 in der MoMA-Schau „Fantastic Art, Dada, Surrealism“ gezeigt wurde. André Breton, der Papst der Surrealisten, besuchte den Palast 1931, schrieb ein geschwätziges Poem und verfertigte später eine Montage mithilfe einer Foto von Bellon. Max Ernst schuf seinerseits 1932 eine Collage mit dem Titel „Facteur Cheval“.
Doch auch Nichtsurrealisten zog und zieht es noch immer nach Hauterives. Unter ihnen prominent Pablo Picasso, der den Facteur Cheval 1937 in einem tierischen – und teils krud schweinischen – Carnet als potentes Postross porträtierte. Von Robert Doisneau und Lawrence Durrell über Niki de Saint Phalle, Erró und Ben bis hin zu Hervé Di Rosa und Rodolphe Burger führt die Liste der durch den Briefträger inspirierten Schöpferinnen und Schöpfer bis in die Jetztzeit. So widmete der Jazzpianist Édouard Bineau dem obsessiven Baukünstler 2006 gemeinsam mit dem Klarinettisten Sébastien Texier ein meditatives Album, das er sinnfällig „L’Obsessioniste“ taufte. Und erst jüngst veröffentlichte der Chansonnier Chaton eine pariserisch-flapsige, monoton-melancholische Monodie mit dem Titel „Facteur Cheval“.
Fiktional verarbeitet wurde das Leben des Postboten unseres Wissens zweimal: In einem knochentrockenen Comic und in einem Spielfilm. „L’Incroyable Histoire du facteur Cheval“ von Nils Tavernier erhielt bei seinem Kinostart 2018 gemischte Kritiken. Doch bildet das Biopic nicht nur eine valable Einführung in die Vita des Briefträgers, sondern überzeugt auch als kinomategrafisches Kleinkunstwerk. Der Streifen ist da elliptisch, wo möglich – Kindheit und Jugend fallen so unter den Tisch, Leben und Tod von Chevals erster Gattin werden in 26 Sekunden und den drei Stationen „Nachtmahl“, „Keuchhusten“ und „Begräbnis“ abgehakt. Doch wo nötig, lässt sich Tavernier Zeit: namentlich da, wo er Chevals Schwerstarbeit an seinem Palast in Mörtelgrau und Kieselbraun filmt oder in rauschenden, raunenden Aufnahmen die spröde Schönheit der Waldseen und Gebirgsbäche der Drôme einfängt. Jacques Gamblin als emotional gehemmter, wortkarger Postbote und Laetitia Casta als seine mit schier aristokratischem Zartgefühl ausgestattete zweite Gattin bleiben in der Erinnerung haften. Dass man den Film dennoch nicht unvergesslich nennen möchte, ist einzig dem Umstand geschuldet, dass anderen Vertretern der sogenannten Naiven Kunst Streifen von ungleich stärkerer Eindringlichkeit gewidmet worden sind – 2008 etwa der eine Generation nach Cheval geborenen Séraphine de Senlis durch den Regisseur Martin Provost und seine stupende Hauptdarstellerin Yolande Moreau.
Im Bereich der Belletristik seien endlich noch ein Kuriosum und eine Preziose erwähnt. 1960 verfasste Peter Weiss den Essay „Der große Traum des Briefträgers Cheval“. Darin rückt der Vertreter einer hier durchaus poetisch angehauchten Beschreibungsliteratur den Schöpfer des Palais idéal in die Nähe zu seinen eigenen Zeitgenossen Wols und Henri Michaux – und kommt zu einem überschwänglichen Fazit: „Neben diesem Werk, mit seinem Gewirr von sonderbaren Flecken, Volumen, Punkten, Rillen, Formkontrasten, Unregelmäßigkeiten und Andeutungen, verblasst alles, was heute in der spontanistischen, tachistischen Kunst erstrebt wird.“ Der zugleich dichteste und dichterischste Text über den Postboten stammt indes aus der Feder von Claude Prévost. Die Autorin hatte an Veröffentlichungen über Dalí und Gaudí mitgearbeitet, mit denen Cheval oft verglichen wird, und an einer Filmserie über André Malraux, der den Palais idéal 1969 unter Denkmalschutz stellte. Übrigens gegen den Widerstand der Kader des Kulturministeriums, dem der Linksgaullist damals vorstand: „Das Ganze ist absolut abscheulich, ein betrüblicher Wust von Irrsinn, dem wirren Hirn eines Bauerntrampels entstiegen“, ätzten diese 1964. Prévost trägt in dem Sammelband „Le Palais idéal du facteur Cheval“ nicht nur auf knapp 200 Seiten Informationen zuhauf über den Postboten, seine Zeit und Umwelt zusammen. Sie webt auch aus Mitteilungen Chevals sowie aus Hunderten von Zitaten, von der Bibel bis zu René Char, ein in erlesenstem Französisch prangendes Prosagedicht, das so dicht und dunkel anmutet, so massiv und filigran, so mineralisch wuchernd und zugleich organisch kompakt wie das Stein gewordene Luftschloss des Briefträgers von Hauterives.
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