Mexikanische Zwerge und jüdische Riesen – zum hundertsten Geburtsjahr von Diane Arbus zeigt Luma Arles nicht weniger als 454 Bilder
Armes reiches Mädchen! Diane Arbus (1923-1971) wuchs laut eigener Aussage behütet wie eine transsilvanische Prinzessin auf. Die Tochter des Vizepräsidenten eines Warenhauses an New Yorks exklusiver Fifth Avenue wurde durch das Familienvermögen, eine französische Gouvernante sowie Wohnungen in bester Lage am Central Park von den Widrigkeiten der Welt abgeschirmt. Doch den „Schleier von Schlaf“, mit dem die Fotografin in der Rückschau ihre Kindheit umhüllt sah, durchdrang schon früh ein schneidend scharfer Blick für das verräterisch ver-rückte Detail. So entging dem Prinzesschen bei den im Schneckentempo eines Kondukts absolvierten Paraden durch das familieneigene Kommerzreich zwischen einem Spalier schielender Mannequins und verbeugter Angestellter hindurch nicht, wie unecht Letztere lächelten – „like the obsequies were seasoned with mockeries“. Die menschliche Psyche arbeitet mysteriös: Im Fall von Arbus gebar das Aufwachsen in einem Kokon aus Samt und Seide nicht Selbstsicherheit und Optimismus, sondern ein Gefühl der Erniedrigung und einen Hang zur Depression.
Ist es Milchmädchenpsychologie zu mutmaßen, dass sie sich aus diesem Grund Trägern einer Differenz zuwandte – Vertretern von Randgruppen, die sie in einem ihrer letzten, nicht realisierten Projekte unter der Bezeichnung „quiet minorities“ zusammenfasste? Anderssein – „durch Geburt, Zufall, Wahl, Überzeugung, Vorliebe, Trägheit“ – manifestiert sich nicht zuletzt durch jene verräterisch ver-rückten Details, die Arbus‘ schneidend scharfen Blick wie ein Magnet anzogen. Nachdem sie fünfzehn Jahre lang zusammen mit ihrem Gatten Mode- und Werbefotos geschossen hatte, wandte sie sich 1956 eigenen Vorhaben zu. Auch dank einem Kurs bei Lisette Model, welcher ein Gefühl der Befreiung hervorrief, markierte jenes Jahr ihre künstlerische Geburt. Bezeichnenderweise begann Arbus damals, ihre Negative zu nummerieren (und drei Jahre später, Jahreskalender und Notizbücher zu füllen, die für das Verständnis ihres Werdegangs essenziell sind).
Bis 1962 knipste die Fotografin am Central Park, Times Square und Grand Central-Bahnhof, aber auch in abgelegeneren Lokalitäten wie Hubert’s Dime Museum and Flea Circus oder einem unbemannten Verköstigungsbetrieb namens „Horn & Hardart Automat“. Die Faszination für Randständiges und Skurriles, für Subkulturen und Mikro-Gesellschaften war früh da. Das erste Projekt für das Magazin „Esquire“ verortete 1959 New York zwischen den Polen „posh“ und „sordid“. Das Schäbige würde das Schicke bald an den Rand drängen. Unter dem Titel „The Full Circle“ erschien 1961 ein Beitrag in „Harper’s Bazaar“, der fünf Sonderlinge mit selbstsprechenden Namen porträtierte: Uncle Sam; Jack Dracula, The Marked Man; Miss Cora Pratt, The Counterfeit Lady; His Serene Highness Prince Robert de Rohan Courtenay sowie William Mack, Sage of the Wilderness. Letzteren beschrieb Arbus mit ihrer unnachahmlichen Prosa als eine „Art bepelzten Rasputin, höfisch, ermüdend und gruselig“. Auf der publizierten Foto thront der Edelpenner schmuckbehangen, prophetenbärtig und mit illuminiertem Blick über allerlei Gerümpel. Das folgende, unveröffentlicht gebliebene Projekt tauchte dann kopfüber ein in die schwarzen Wasser des Horrors: Es zeigte einen Monster-Maskenbildner, „menschliche Nadelkissen“, kopflose Männer und Frauen sowie Wachsfiguren von Mördern und ihren Opfern.
Um 1962 wechselte Arbus vom 35mm- auf das 2¼-Format über. Das quadratische Format (wie auch der Verzicht auf das Zuschneiden von Bildern, mit dem sie zwischen 1956 und 1959 experimentiert hatte) wurde zu einem Kennzeichen ihres reifen Stils. Damit einher gingen die Abkehr von der bisher bevorzugten Körnigkeit zugunsten einer schärferen Klarheit, eines größeren Kontrast- und Detailreichtums. Auf den ersten Blick weniger „artistisch“, mehr dokumentarisch als vordem, gewannen Arbus‘ Bilder an Dichte und Rätselhaftigkeit. Neben Themen, die auf ihre Prinzessinnen-Kindheit verweisen – Kinder reicher Leute (Arbeitstitel: „Silver Spoon“), Berühmtheiten und ihre adoleszenten Sprösslinge, Erbinnen… –, widmete sich die Fotografin einer in etliche Streiflichter aufgesprengten „Anthropologie der Gegenwart“. So begeisterte sie sich, neben vielem mehr, für Krabbel- und Stabwirbel-Wettbewerbe (die im Amerikanischen die evokativen Namen „diaper derbies“ beziehungsweise „baton twirling contests“ tragen), für Nudistencamps, Altersheime und Tanzlokale… Daneben lichtete sie „odd couples“ ab – Frauchen oder Herrchen mit Haustier, Doppelgänger von Berühmtheiten, Künstlerpartner, Zwillinge… – und vervollständigte stetig ihre „Schmetterlingssammlung“ von Randfiguren: Kleinwüchsige („midgets“), Transvestiten („female impersonators“), Oben-ohne-Tänzerinnen, Dominä mit Freiern, Stripperinnen und Zirkuskünstler, nicht zu vergessen die geistig Behinderten, die sie in ihren drei letzten Lebensjahren immer und immer wieder fotografierte, oft maskiert und/oder kostümiert.
Doch widersprach die Fotografin der – bis heute verbreiteten – Auffassung, sie habe sich spezialisiert auf „subjects perverse and queer“, wie ihr eigener Bruder 1965 in seinen Memoiren schrieb. Es gehe ihr nicht darum, entgegnete sie, einen „schmutzigen Katalog“ zu erstellen. Vielmehr suchte Arbus die Subjekte ihrer Bilder gerade nicht als Freaks zu zeigen, sondern als Individuen, deren Anderssein sie heraushob, ja adelte. „Ich lehne es entschieden ab“, zitierte die Künstlerin Norman Mailer, „sie alle in einen Topf zu werfen. Ich denke, so beginnt der Totalitarismus. Die Essenz des Totalitarismus ist [das Postulat], dass alle Menschen gleich aussehen.“
Nach Arbus‘ Freitod 1971 hat ihr ehemaliger Assistent Neil Selkirk die Negativfilme und Kontaktabzüge von rund 7500 Rollen geordnet und – als Einziger von den Nachlassverwaltern dazu ermächtigt – im Lauf der Jahre zahlreiche Silbergelatinabzüge angefertigt, namentlich für Ausstellungen und Publikationen. Jeweils einen davon hat er für sich behalten: So kamen bis zur Jahrtausendwende stolze 454 Abzüge zusammen. Dieses Konvolut hat die Schweizer Mäzenin Maja Hoffmann 2011 für ihre Luma-Stiftung erworben – und stellt es nun, anlässlich des hundertsten Geburtsjahrs der Fotografin, erstmals im von Frank Gehry entworfenen Hauptbau von Luma Arles aus.
Die Schau „Diane Arbus : Constellation“ irritiert und fasziniert zugleich. Vieles fehlt ihr, was gemeinhin eine Ausstellung ausmacht: eine Struktur, ein Parcours, ein Katalog – nicht einmal Saaltexte gibt es. Die 454 Fotografien hängen in aleatorischer (Un-)Ordnung gerahmt an übermannshohen Metallgestängen, welche in der tausend Quadratmeter großen Galerie principale eine Art Labyrinth mit Durchblick formen. Manche Bilder befinden sich in Augen-, andere in Kniehöhe, etliche auch über den Köpfen der Besucher, wo Deckenstrahler diese beim Aufblicken blenden. Meist hängen je zwei identische Rahmen Rückseite an Rückseite; wo sich nur ein einziger Rahmen findet, ist dessen Envers verspiegelt, wie auch, in voller Höhe und Breite, die Rückwand des Riesensaals. Der Verdoppelungs- und Vexierbild-Effekt ist verblüffend – und emblematisch für eine Schau, die bis auf die in einem Heftchen mitgereichten Bildlegenden auf jede Erklärung, jede Interpretation, jede Kontextualisierung verzichtet. Ja, nicht einmal aus dem Umstand wird hier Kapital geschlagen, dass ein Drittel der Fotos erstmals öffentlich zu sehen sind!
Dass der bei Luma für Fotografie zuständige Kurator Matthieu Humery einzig und allein aufs Visuelle fokussiert, mag man denkfaul, reißerisch, ja unwissenschaftlich nennen. Und hätte damit nicht ganz unrecht. Man kann es aber auch anders sehen: „Diane Arbus : Constellation“ ist die umfangreichste je der Fotografin gewidmete Ausstellung; sie zeigt viel neues Material und ist gratis zugänglich. Statt der Schau einen Strick aus dem zu drehen, was sie nicht ist (noch sein will), kann man sie als auch als eine Mischung aus Crashkurs und Satellitenbild, aus Tiefseetauchgang und „All-You-Can-Eat“-Büfett betrachten. Kenner wie Unbeleckte dürfen hier nach Lust und Laune Ein- und Auszoomen, von einem Format, Zeitabschnitt, Themenfeld zum andern flattern, Altbekanntes neben Neuentdecktem bestaunen (die bis anhin unveröffentlichten Fotos entstammen fast alle Serien, deren beste(s) Bild(er) bereits publiziert wurde(n), fügen Arbus‘ Profil aber willkommene Nuancen hinzu).
Am Ende, als man zum x-ten Mal wieder umkehrt, um an einer Gabelung eine Richtung einzuschlagen, von der man nicht weiß, ob man sie nicht vorher schon einmal gewählt hat, landet man jäh in einer Art Lichtung, die sich vom Labyrinth-Raster durch ihre gerundete Form abhebt. Hier sind auf vier Gestänge die Bilder der „Box of Ten Photographs“ verteilt, des legendär gewordenen Portfolios, das die Fotografin in ihren letzten Lebensjahren so viel Zeit und Mühe gekostet hat (und von dem sie nur vier Exemplare verkaufen konnte): der mexikanische Zwerg mit dem Mona-Lisa-Lächeln, der fragile jüdische Riese mit seinen Eltern aus Spießbürger-Granit, das geckogesichtig verdrossene Königspaar eines Seniorenballs und sieben weitere Ikonen der Fotokunst – die Quintessenz von Arbus‘ Schaffen.
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