Romanisierte Kleinhunde, mittelalterliche Teufelsschweine und postapokalyptische Riesenmaulwürfe: Eine Ausstellung im Pavillon de l'Arsenal zum Thema "Tiere in Paris, von der Stadtgründung bis heute"
Paris ist eine der am dichtesten besiedelten Großstädte der Welt. Im Durchschnitt leben hier etwas mehr als zwanzigtausend Menschen auf einem Quadratkilometer; im elften Arrondissement sind es gar doppelt so viele. Was bedeutet: kompakte Bebauung, kleine Wohnungen, wenig Grünflächen. Keine idealen Bedingungen für Wild- und Haustiere. Doch die Sandsteinwüste lebt! Der Pavillon de l’Arsenal, das städtische Zentrum für Urbanismus und Architektur, widmet zurzeit eine Ausstellung dem Thema "Tiere in Paris, von der Stadtgründung bis heute“. Wie meist in dieser verdienstvollen Institution werden primär Informationen vermittelt, via Texttafeln, die bebildert sind durch Reproduktionen von Fotos, Plänen, Stichen, Gemälden, Skulpturen, Mosaiken, Buchmalereien, Werbeplakaten, Computerrenderings und so weiter. Originale Dokumente, Objekte oder Werke findet man kaum. Es ist eine Schau mehr für den Geist als fürs Auge.
Was nicht bedeutet, die beiden Kuratoren, die Architekten Henri Bony und Léa Mosconi, hätten es sich leichtgemacht. Ganz im Gegenteil zeugt der über zweihundertfünfzig Seiten starke Katalog, der ungleich dichter ist als die im besten Sinne massentaugliche Schau, von erheblicher gedanklicher Vorarbeit. Schau und Buch decken nicht weniger als zwanzig Jahrhunderte ab!
Älteste tierische Spuren im nachmaligen Paris sind Speisereste aus Abfallgruben des unter Kaiser Augustus gegründeten römischen Städtchens Lutetia. Ein Archäozoologe hat so innert zwanzig Jahren fast fünfundfünfzigtausend Knochenteile zusammengetragen und identifiziert. Es erweist sich, dass die romanisierten Lutetier wenig Wild, dafür aber viel Hausgeflügel verzehrten (welches die Gallier ihrerseits verschmähten, da Gans und Gockel ihnen heilige Tiere waren) – und sogar normannische Austern importierten! Tiere wurden aber auch im siebzehntausend Zuschauer fassenden Amphitheater aufeinandergehetzt oder als Hausgenossen gehätschelt, namentlich kleine Hunde von der Größe eines Dackels oder gar eines Chihuahuas. Katzen duldeten die Lutetier hingegen allenfalls als Mäusefänger. Am ehemaligen Hafen der Île de la Cité fand man so eine tote Mieze aus dem zweiten Jahrhundert neben den Überresten einer Hausratte.
Bis ins Mittelalter hielt sich die Sitte, Kleinvieh in den Gassen herumlaufen zu lassen. Sitte oder Unsitte? 1131 stieß Philippe de France beim Reiten durch das enge Stadtgefüge mit einem Hausschwein zusammen. Ein „Verkehrsunfall“, der den ältesten Sohn und Mitregenten des Königs Louis VI. das Leben kostete. „Porcus diabolicus“, bekreuzigte sich ein zeitgenössischer Chronist; unserer Tage widmete Michel Pastoureau, Frankreichs großer Forscher zur Farb- und Tiersymbolik, der tragischen Begebenheit ein zweihundertfünfzigseitiges Buch, „Le Roi tué par un cochon“. Eine lange Reihe von Edikten, die zu verhindern suchten, dass ein weiterer König durch ein Schwein getötet würde, vermochte erst im sechzehnten Jahrhundert dem Vagabundieren von Borstentieren Einhalt zu gebieten.
„Domptieren!“ lautete ab der Renaissance die Losung. Man suchte das Tier zu bändigen, es an seinen (untergeordneten) Platz zu verweisen – und damit auch auf Distanz zu rücken. Die letzten Valois- und die ersten Bourbonenherrscher sowie nach ihnen Napoleon I. verwandelten immense Teile der Île de France in Jagdgründe. Sternförmige Alleen, von Pavillons gesäumt, durchzogen die Königs- und Kaiserforste. In der Stadt selbst ersetzten nach dem Unfalltod von Henri II. Paraden die Turniere: Die Place du Carrousel zwischen Louvre und Tuilerien zeugt noch heute von den berittenen Prachtaufzügen des siebzehnten Jahrhunderts. Sie verwandelten das Tier – hier das Pferd –, seiner wilden, unberechenbaren, eben: „animalischen“ Natur beraubt, in ein mechanisches Spielzeug. Das galt erst recht für die Attraktionen der zahlreichen Zirkusse und Rennbahnen, die zwischen den letzten Jahren des Ancien Régime und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus billigen Materialien erbaut (und meist bald wieder abgerissen) wurden. Einziges Relikt aus dieser Zeit ist der Cirque d’hiver des bedeutenden deutschstämmigen Architekten Jacques Hittorf aus dem Jahr 1852 – er beherbergt bis heute eine Zirkustruppe.
In noch stärkerem Maß verschrieb sich die Ménagerie du Jardin des Plantes einem ideologischen Programm. Im Revolutionsjahr 1791 gegründet, sollte dieser Tierpark dem mündigen Bürger Modelle „guten“ beziehungsweise „schlechten“ Verhaltens zeigen und die zivilisatorische Wirkung einer tugendhaften Regierung illustrieren. Der blauäugige Glaube an die Verbrüderung von Mensch und Tier zeitigte teils schräge, teils schlimme Effekte: Der Damhirsch verletzte Besucher, die beiden Elefanten, sinnigerweise auf einer Kreistribüne „ausgestellt“, rissen Gaffern den Hut vom Kopf, diese rächten sich mit Steinwürfen…
Im Alltag jedoch traf der Pariser vor allem auf Pferde. Deren Zahl nahm im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts exponentiell zu: 1880 zählte man ihrer nicht weniger als 78 908! Ein Viertel von ihnen gehörte der Compagnie générale des omnibus und wurde in „Depots“ geparkt. Diese waren zum Teil viele Tausend Quadratmeter groß und beherbergten auf mehreren Stockwerken neben bis zu tausendeinhundert Pferden auch Automobile. Um die Leistungsfähigkeit der Zugtiere zu steigern, fütterte man sie mit Tiermehl und verabreichte ihnen ein Serum gegen Anämie.
Doch die letzte Entwürdigung des Tieres vollzog sich – man ahnt es – in den Pariser Schlachthäusern. Ehedem wurde das Vieh vom Land ins Stadtzentrum getrieben und dort – namentlich im quartier de la boucherie zwischen Seine und Les Halles – durch die Fleischer selbst getötet. Louis-Sébastien Mercier beweinte in seinem grandiosen „Tableau de Paris“ aus den letzten Jahren des Ancien Régime eindrücklich die Leiden der vor aller Augen erschlagenen Kreaturen. Napoleon I. brach 1810 das Monopol der Metzger und schuf fünf Schlachthäuser am Stadtrand; Napoleon III. und sein Präfekt Haussmann errichteten ein halbes Jahrhundert später die zentralen Hallen und den Komplex aus Viehmarkt und Schlachthaus in La Villette. Der „Bauch von Paris“ und die „Blutstadt“ haben Scharen von Schriftstellern und bildenden Künstlern inspiriert, vom Romancier Zola über den Dichter Queneau, den Maler Masson, die Fotografen Atget und Eli Lotar bis zum Cineasten Franju, Autor des zweiundzwanzigminütigen Dokumentarfilms „Le Sang des bêtes“ („Das Blut der Tiere“, 1949), der noch heute bei vielen Zuschauern heftigste (Abwehr-)Reaktionen zeitigt. Nach einem fehlgeschlagenen Modernisierungsversuch schloss das Schlachthaus 1974, heute lockt ein Kulturpark sensible Städter nach La Villette. Die Schlächterei ist derweil in die Bretagne ausgelagert, wohin das Vieh der Île-de-France in Lastwagen verfrachtet wird, bevor es – in Einzelstücken – den Rückweg antritt. Was dort in den opaken Kastenbauten überwiegend privater Betreiber an Gräueln geschieht, dringt einzig dank den versteckten Kameras der Tierschutzvereinigung L214 ans Licht der Welt.
Doch die Schau schließt auf einer verhalten optimistischen Note. Seit drei Jahrzehnten tauchen hier und da im Pariser Großraum wieder Schafherden auf. Ihre Besitzer betreiben nachhaltige Weidewirtschaft, lassen Parks abgrasen, aber auch Böschungen am Rand der Ringstraßen sowie Rasenflächen, die Unternehmen oder Krankenhäusern gehören. Zwei „assoziative Bauernhöfe“ in den Vorstädten Bagnolet und Nanterre setzen auf „Agropoesie“ – fragile grüne Oasen, die landwirtschaftliche und kulturelle Aktivitäten mischen. „Oasis“ heißt auch ein Projekt, das seit 2018 Schulhöfe in Zufluchtsorte für Kleintiere verwandelt, mithilfe von Teichen, Nistkästen, Bienenhäusern, Hühnerställen, Insektenhotels… Dank dem landesweiten Verbot des innerstädtischen Gebrauchs von Insektenvertilgungsmitteln 2014, der Schaffung zahlreicher neuer Grünflächen (namentlich Gemeinschaftsgärten) und einer stetig steigenden Anzahl von Terrassen- und Balkonpflanzen ist Paris zu einem Paradies für Bienen geworden; der hauptstädtische Honig gilt als ausgezeichnet. Und auch größere Tiere kehren zurück: Während des ersten Lockdowns 2020 erblickte im Père-Lachaise-Friedhof ein Wurf Füchse den Glanz der Lichterstadt.
Indes ist man vor Kollateralschäden im Umweltbereich nie gefeit. Im Rahmen des Kampfes gegen die Klimaerwärmung wurden in der Kapitale, wie vielerorts, Dach- und Fassadenlöchern gestopft und andere Maßnahmen zur Wärmedämmung vorgenommen. Doch dies hatte den Verlust von Nistplätzen für Singvögel zur Folge. So ist zwischen 2003 und 2017 die Zahl des emblematischen Tieres der Kapitale um erschreckende neunundachtzig Prozent zurückgegangen. Man hat es erraten: Die Rede ist vom Pariser Spatzen!
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