Jan Van Eycks restaurierte „Rolin-Madonna” steht im Mittelpunkt einer lehrreichen Dossierausstellung des Louvre
Jan van Eycks „Rolin-Madonna“ misst 71 auf 65 Zentimeter. Es wurde geschätzt, dass das mittelkleine Gemälde nicht weniger als zweitausend Figuren zeigt. Geschätzt, weil niemand wissen kann, wie viele genau es sind. Bis auf sechs von ihnen befinden sie sich im Bildhintergrund und sind Millimeter winzig. Viele bestehen bloß aus zwei, drei Pinselstrichen, pardon: Tüpfchen. Steht man in der Dossierausstellung, die der Louvre dem berühmten Bild anlässlich seiner Restaurierung widmet, kneift man die Augen zusammen, klebt die Nase schier an die Holztafel, auf die das Werk gemalt ist – und vermag trotzdem bei weitem nicht alles zu erkennen! Dass die Figürchen leben, gestikulieren oder diverse Posturen einnehmen, dass ihre Schimmel oder Isabellen dunkle Griffelbeine haben und dass das Ruder eines Fährmanns im Flusswasser Strudel zeitigt, sieht man erst in einem Film, der auf einem Großbildschirm in extremer Nahaufnahme durch die gemalte Liliputanerlandschaft führt. Welch eine Virtuosität!
Doch minuziöses Handwerk ist das eine, wundersame Kompositionskunst das andere. Staunenerregend, wie Van Eyck den Blick von der Jungfrau mit Kind und dem Kanzler des Herzogtums Burgund im Vordergrund über eine kuriose Gartenterrasse im Mittelgrund zum Miniaturpanorama zwischen Dorf und Stadt im Hintergrund führt, wie er das Auge quasi instinktgezwungen zur ätherischen Helle blassblauer Himmel über schneebedeckten Bergen am fernen Horizont gleiten macht. Stimulierend, wie der Maler namentlich die beiden vorderen Niveaus mit Bildsymbolen, Bedeutungsebenen und impliziten Botschaften auflädt. Und stupend, wie das im Lauf der Zeiten stumpf und dunkel gewordene Kleinod jetzt wieder glänzt und in farbiger Vielfalt erstrahlt!
Die vorbildliche Dossierausstellung „Revoir Van Eyck“, die ein nicht minder exemplarischer Katalog vertieft, beleuchtet in sechs offenen Räumchen um die „Rolin-Madonna“ ebenso viele Facetten des Bildes. In vier von ihnen hängt mindestens ein weiteres Werk des Flamen, dank hochkarätigen Leihgaben aus Berlin, Philadelphia, Washington sowie Frankfurt (dessen Städel Museum als heimlichen Clou der Schau die „Lucca-Madonna“ auf Reisen geschickt hat, erstmals überhaupt).
Die „Begegnung“ zwischen Nicolas Rolin und der Jungfrau wirkt im Vergleich mit Malereien gleichen Inhalts, die wie die um 1435 gemalte „Rolin-Madonna“ in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden sind, untypisch. Führen diese mithilfe von Größenunterschieden, von Heiligen, die als Mittler auftreten, oder durch eine klare räumliche und/oder visuelle Trennung eine Hierarchie zwischen dem (oder der) jeweiligen Stifter:in und der Heiligen Jungfrau ein, so steht beziehungsweise kniet der burgundische Kanzler hier mit massiver, ja monumentaler Präsenz der Muttergottes gegenüber. Und ist bis auf die kleinste Gesichtswarze porträtiert als ein Individuum, das – mit gerunzelter Stirn und zusammengepressten Lippen – ähnlich gefasst, wo nicht gar gestreng dreinblickt wie auf zwei Gemälden Rogier van der Weydens.
Vereint sind Rolin, Maria und das Jesuskind in einem maßstablosen Interieur zwischen Palast und Kirche, das – für seinerzeitige Betrachter – vertraute und exotische Elemente mengt. Eine ähnliche „romanische“ Fantasie-Architektur findet sich in Van Eycks „Verkündigung“; Inspirationsquellen waren namentlich Kapitelle picardischer und südfranzösischer Kirchen des späten 12. und frühen 13. Jahrhundert. Die Landschaft im Hintergrund entstammt ihrerseits der Welt der Buchmalerei. Wie das Gemälde als Ganzes einer Seite aus einem Stundenbuch gleicht, bei deren Lektüre das Auge ständig zwischen verschiedenen Ebenen hin und her springt. Im vorliegenden Fall zwischen der Hauptszene – die schwer „Entzifferbares“ enthält wie Fragmente des Textes der Frühmette auf Mariä Mantel oder die skulptierten Bibelszenen der Kapitelle –, der Stadt-und-Dorf-Miniatur im Hintergrund und dem zugleich allegorischen und komischen hängenden Garten im Mittelgrund. Diesen bevölkern nicht nur Tiere mit „sündigem“ Symbolgehalt wie Pfau (Eitelkeit), Hase (Wollust) und Elster (Geiz, Zweifel, Diebischkeit), sondern auch zwei kleine Figuren, deren Postur und Unproportioniertheit lächeln macht. Das naturalistisch gemalte Bestiarium wie auch die beiden „unnatürlichen“ Kumpane – womöglich Van Eyck und der Bildbetrachter in einer drolligen mise en abyme – evozieren für Autoren des Katalogs Randzeichnungen von Miniaturen.
Was die „Rolin-Madonna“ faszinierend macht, ist nicht zuletzt ihre Doppelnatur. Das Bild sollte einerseits als Epitaph des Kanzlers nach dessen Tod im Kirchenraum von weitem „lesbar“ sein – von daher die Monumentalität der Hauptfiguren. Es diente anderseits aber seinem Auftrag- und Namengeber wohl zu Lebzeiten als Adjuvans bei der privaten Andacht – von daher die vielen erst bei eingehender Betrachtung aus nächster Nähe (und vorzugsweise von oben, wie beim Lesen eines Stundenbuchs) zu entdeckenden Mikrodetails mit ihrem komplexen Bedeutungsgehalt. Auch enthält die Holzplatte Schraubenlöcher und ist – was die Restaurierung wiederhergestellt hat – rückseitig als eine grüne Marmorplatte in Trompe-l'Œil-Malerei gestaltet. Das Tableau bildete demnach ein dreidimensionales Objekt, das vermutlich auf Dübel montiert im Raum stand, in die Hand genommen werden konnte und möglicherweise als portables Gebetsmöbel die rechte Hand des Herzogs Philipp der Gute auf Reisen durch das von Dijon bis Utrecht versprengte Burgunderreich begleitete.
Mit „Revoir Van Eyck“ findet die Salle de la Chapelle des Louvre nach Jahren der Zweckentfremdung als Teil eines bestürzend inhaltsarmen „Interpretationszentrums“ zurück zu ihrer ursprünglichen Bestimmung. Sophie Caron, Konservatorin des Département des peintures, weist als Kuratorin der Schau den Weg für hoffentlich ähnlich gehaltvolle und lehrreiche Dossierausstellungen.
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