Paolo Roversi im Pariser Musée Galliera – eine Retrospektive in hundert Fotografien
„Ich mag nicht, wenn Fotografien allzu explizit sind, mir ist es lieber, sie hüllen sich in Schönheit und Rätselhaftigkeit“, bekennt Paolo Roversi in einem jüngst veröffentlichten Briefwechsel mit Emanuele Coccia. Ästhetisch und fremd wirken sie in der Tat, die farbig-flauen, Licht und Schatten geheimnisvoll in Schwingung versetzenden Bilder, die der Wahlpariser aus Ravenna seit bald einem halben Jahrhundert schafft. Wollte man den Künstler vor der Folie alter Debatten seines Fachs verorten, wäre er mehr Rubens als Poussin, mehr Piktorialist als Dokumentarist. Und ein Monomane obendrein: Sein Werk besteht – abgesehen von einer Serie über sein Studio in der Lichterstadt und einer zweiten über Vögel – fast ausschließlich aus Modefotografien. Genauer: aus im Studio geschaffenen Porträts weiblicher Modelle.
Rund hundert dieser Bilder – zuzüglich einer Handvoll Aufnahmen von Interieurs, Tieren oder Männern wie John Galliano, Peter Lindbergh oder sich selbst – vereint der Palais Galliera, das Modemuseum der Stadt Paris, jetzt zu einer wundersamen Ausstellung. Alles hier lädt zur quasimeditativen Versenkung ein. Das Chiaroscuro, in das die zugleich prunkvolle und intime Saalfolge mit ihren pompejanischroten Wänden getaucht ist, widerspiegelt jenes der Exponate – auf welche Spots in einer Art mise en abyme Licht und Schatten unregelmäßig verteilen.
Das Malen mit Licht ist, schier buchstäblich, eines von Roversis Stilmerkmalen: Der Fotograf fährt gern mit dem (manchmal buntgetönten) Strahl einer Taschenlampe über den Körper seines Modells, was bei langen Belichtungszeiten von zehn oder mehr Sekunden einen Effekt wie von leuchtenden Pinselstrichen zeitigt. Weitere Experimente sind das Applizieren von feinen Silber- oder Goldblättern, gepressten Blumen oder hauchdünnen Papierstücken auf den Film, das Herstellen sepiafarbener „Vintagebilder“ durch das Entwickeln von Farbfilm in einem Schwarzweißbad sowie das Abfotografieren analoger Schwarzweißbilder mit einer alten Holzkamera, in die Roversi seinen über alles geliebten, doch zu seinem Leidwesen seit 2008 nicht mehr hergestellten Polacolor-Film lädt.
Die Technik ist hier indes bloß Mittel zum Zweck. Dieser lautet: Verfremdung, Verwandlung, Verzauberung. Roversis Modefotografien – für Häuser wie Alaïa, Armani, Jean Paul Gaultier, Yves Saint Laurent, vor allem jedoch Romeo Gigli, Yohji Yamamoto und Comme des Garçons – fokussieren nicht auf Outfits. Sie schaffen vielmehr poetische Visionen, suggestive Traumgesichte, die selbst kompromisslos radikale Kreationen wie jene von Rei Kawakubo mit einer Aura von Verführung und Fragilität umgeben. In diesen Aufnahmen verschwimmen Konturen, vervielfachen sich Schatten, verblühen oder verglühen Farben, reizt die Linse gleich Vermeers Pinsel das Spiel zwischen fokussiertem Vorder- und flauem Hintergrund aus.
Bestens vertraut mit alter Malerei, spielt der Italiener mit den Posen seiner Modelle immer wieder auf spezifische Gemälde an. Vor allem jedoch lässt die geniale, quasibildhauerische Lichtbehandlung den Körper und das Gesicht von Roversis Musen – namentlich erwähnt seien hier wenigstens Saskia de Brauw, Audrey Marnay, Kirsten Owen, Guinevere van Seenus, Stella Tennant und Natalja Wodjanowa – mit einer Eindringlichkeit sondergleichen hervortreten. Von der Intensität ihres Blickes ganz zu schweigen: Wodjanowas Raubtieraugen in einer 2003 entstandenen Serie machen den Betrachter förmlich erstarren, wie ein ins Visier geratenes Kaninchen. Der Katalog zur Ausstellung, in dem die Exponate ganz- oder doppelseitig auf hochwertiges Munken Pure-Papier abgedruckt sind, vermittelt einen Eindruck von der stupenden Güte von Roversis Abzügen.
Dass es hier um Mode geht, vergisst man bald. Die Outfits, die Vorwand und Finanzierung der Shootings bilden, treten meist ganz in den Hintergrund. Aus den Niederungen des Kommerzes führt Roversi seine Schöpfungen in die Sphäre der Kunst; was einst zeitverhaftet war, da dem Modekalender unterworfen, wirkt längst zeitlos. Das Adjektiv „unsterblich“ wollen wir hier nicht bemühen, bringt der Schöpfer in einem der eingangs erwähnten Briefe sein Verständnis des tempus fotograficus doch wie folgt auf den Punkt: „Im Bild festgehaltene Vergangenheit ist eine Art suspendierte Zeit, die im Blick des Betrachters zu einer fortgesetzten Gegenwart wird. Die fotografierbare Zeit ist immer und ausschließlich die Jetztzeit, welche gute Fotografie in eine kontinuierliche Gegenwart verwandelt, eine Art kleine Ewigkeit. Indem sie die Vergangenheit schluckt, dehnt und weitet die Fotografie die Gegenwart.“ In diesem Sinne könnte man Roversis Oeuvre einen kleinen Ewigkeitswert attestieren.
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