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Vom Sklavenhaltungs-Edikt zum Polizeigewalt-Verdikt

Aktualisiert: 28. Aug. 2023

Versuch eines rationalen Diskurses in Zeiten der rasenden Rattenfängerei: Frankreichs Musée national de l‘histoire de l’immigration stellt eine runderneuerte Dauerausstellung vor


Vier Ereignisse, die in Frankreich jüngst Schlagzeilen gemacht haben. Am 27. Juni kommt in der Pariser Vorstadt Nanterre ein siebzehnjähriger Franko-Algerier bei einer Polizeikontrolle ums Leben, laut derzeitigem Kenntnisstand unter himmelschreienden Umständen. Die nachfolgenden neuntägigen Ausschreitungen landesweit übertreffen an Schwere noch jene von 2005. Am 9. Juli bezeichnet der kurz darauf ausgewechselte Erziehungsminister Pap Ndiaye den dem US-Meinungssender Fox News nachempfundenen TV-Kanal CNews als rechtsextrem. Von rechts und rechtsaußen scharf angegriffen, erhält der Sohn einer Französin und eines Senegalesen kaum Beistand von seinen Regierungskollegen. In der Kulturwelt endlich zeitigen der Tod von Milan Kundera am 11. Juli und jener von Jane Birkin am 16. weitherum Trauer. Respektive als Tscheche und als Britin geboren, lebten der Schriftsteller und die Sängerin und Schauspielerin seit den 1970er Jahren in Paris und hatten die französische Staatsbürgerschaft angenommen.


Road to Exile: Bilderflucht mit Immigrantenporträts und Siebensachen-Installation am Ende des neuen Parcours von Frankreichs Immigrationsmuseum (Bild: zit.)

Gemein ist allen vier Ereignissen, dass sie das weite Themenfeld „Immigration“ berühren. In Paris hat Ende Juni das Musée national de l’histoire de l‘immigration eine runderneuerte Dauerausstellung vorgestellt. Wozu braucht es ein solches Museum? Weil Immigration Teil der Landesgeschichte ist und weil Frankreichs Identität ohne die Historie der Zuwanderer nicht verstanden werden kann, argumentiert Constance Rivière, die Generaldirektorin des Palais de la Porte dorée, der das Museum beherbergt. Weil laut jüngsten Statistiken einunddreißig Prozent der Franzosen Immigranten erster, zweiter oder dritter Generation sind. Weil Einwanderer Kriege mitgefochten, zum Wiederaufbau beigetragen und Krisen wie die jüngste Pandemie zu bewältigen geholfen haben. Weil Frankreichs Ausstrahlung in der Welt – auch – auf einer Tradition der Gastfreundschaft und Brüderlichkeit gründet. Und weil das Land ohne den Beitrag von Immigranten in den Bereichen Kunst und Sport so viel ärmer wäre.


Bricht das Museum drum eine Lanze für den Nutzen der Immigration, ist es „parteiisch“ in seiner Befürwortung des Phänomens? Sébastien Gökalp, der Direktor der Institution, verteidigt im Vorwort des Katalogs zur Dauerausstellung einen „neutralen, nach Kräften auf Dokumente abgestützten wissenschaftlichen Ansatz, der das tatsächliche Ausmaß der Einwanderung und ihrer Behandlung in Frankreich im Lauf der Zeiten erfasst“. Der bei der Eröffnung des Museums 2007 vorgestellte Parcours war stark personalisiert: Er zeichnete den Weg eines archetypischen Immigranten nach, von der Entscheidung zum Verlassen der Heimat bis zum Erhalt des französischen Passes. Der neue, von achthundert auf tausendachthundert Quadratmeter vergrößerte Rundgang macht demgegenüber vornehmlich Fakten an elf historischen Daten fest.


Das erste dieser Daten liegt gut ein Jahrhundert vor dem Beginn der ursprünglichen Ausstellung. Im Jahr 1685 wurde der sogenannte „Code Noir“ verkündet, ein Edikt zur Regulierung der Sklavenhaltung in Frankreichs überseeischen Besitztümern. Im selben Jahr widerrief Louis XIV das Edikt von Nantes, das den Landesbewohnern fast neun Jahrzehnte lang eine relative Glaubensfreiheit gewährt hatte. So lassen sich an einem Datum Kolonisierung, Sklaverei und Religionspolitik festmachen. Man kann dieses erste Kapitel als einen Prolog ansehen, der dem Parcours historische Tiefe verleiht: Nach dem Wegzug von 180 000 Hugenotten bis zum Tod des Sonnenkönigs 1715 sah Frankreich nie wieder einen Massenexodus und wurde stattdessen zum Immigrationsland – lange Zeit das erste Europas. Hingegen spielte die Sklaverei (bis zu ihrer endgültigen Abschaffung 1848), vor allem jedoch die Kolonisierung (verstärkt ab Beginn der Eroberung Algeriens 1830) über das Ende des Ancien Régime hinweg eine gewichtige, zunehmend lastende Rolle.


Ansicht vom Beginn des Parcours. Ausgestellt sind von rechts nach links: ein Exemplar des „Code Noir“, ein Modell des Sklavenschiffs „L’Aurore“, das Ölbild eines jungen schwarzen Dieners von Hyacinthe Rigaud, dem Autor des bekanntesten Porträts des Sonnenkönigs, und ein demontierbarer und somit gut versteckbarer Hugenotten-Kelch. (Bild: Palais de la Porte dorée, Anne Volery)

Die Fremdenpolitik im modernen Sinn begann mit der großen Revolution. Gemäß den Idealen von 1789 wurde die Einbürgerung vereinfacht; doch fielen etliche frischgebackene Franzosen alsbald der Terreur zum Opfer – eines von vielen Beispielen für die Komplexität, die die Schau mit Erfolg zu vermitteln vermag. Die Anziehungskraft der „Heimat der Menschenrechte“ überlebte indes Napoleons Größenwahn wie auch den Mief der bourbonischen Restauration. Nach den Revolutionen von 1830 und 1848 strömten politisch Verfolgte aus ganz Europa (und namentlich aus den Russland zugeschlagenen Teilen Polens) in den Hort der Freiheit, als den sie Frankreich nicht zu Unrecht ansahen. In jener Zeit nahm das Statut des Flüchtlings erste rechtliche Konturen an. Viel später, in den 1930er und 1970er Jahren würde die Republik Hunderttausende von Hitler- und Franco-Gegnern sowie von Boatpeople aufnehmen, Erstere freilich unter himmelschreienden Umständen.


Robert Capa: Sur la route de Barcelone à la frontière française. Die Foto von Ende Januar 1939 thematisiert die „Retirada“ nach Francos Sieg im spanischen Bürgerkrieg. Binnen weniger Wochen strömten 450 000 Republikaner über die Grenze; die meisten von ihnen wurden in hastig errichteten Lagern zusammengepfercht. (Bild: Palais de la Porte dorée / Robert Capa Magnum Photos)

Um 1880 kam es zu einem ersten markanten Aufflammen von Fremdenhass. Infolge einer langen weltweiten Wirtschaftsflaute wurden „Gastarbeiter“ aus Belgien und Italien zu Sündenböcken abgestempelt; bei Pogromen gab es Tote. Was die Schau immer wieder herausarbeitet: Dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen Wirtschaftskonjunktur, Immigrationspolitik und Fremdenhass. Nur in unserer Zeit scheinen sich letztere von ersterer entkoppelt zu haben: Frankreichs Arbeitslosenrate ist heute so niedrig wie seit über vierzig Jahren nicht mehr, aber zwei von fünf Bürgern haben in der Stichrunde der letztjährigen Präsidentschaftswahl für eine klar immigrationsfeindliche Kandidatin gestimmt. Und die Regierenden tragen dieser Verfasstheit Rechnung mit einer stetigen Verschärfung der Fremdengesetzgebung – das nächste Immigrationsgesetz ist bereits in Vorbereitung.


Antirassismus und Arbeitskampf gingen in den 1970er Jahren oft Hand in Hand. (Bild: Palais de la Porte dorée)

Verdienstvollerweise thematisiert die Schau auch heikle Sujets wie Polizeigewalt, den Aufstieg des rechtsextremen Front national (heute: Rassemblement national), die Konstruktion eines „muslimischen Problems“, die Ausbeutung und vielerorts aus dieser entspringende Revolte fremd(stämmig)er Arbeiter. Fragen wir noch einmal: Ist das Museum „parteiisch"? Der Einleitungstext zum Kapitel „1973“ evoziert die Kämpfe der Zeit – „Anprangerung rassistischer Verbrechen, Reform der Gastarbeiterheime, Anrecht auf eine menschenwürdige Unterkunft, Gewähr eines dauerhaften Rechtsstatus‘, soziale Gerechtigkeit in den Fabriken, Vertretung der Einwanderer in den Gewerkschaften“ – und spricht in diesem Zusammenhang von „abwechselnden Siegen und Episoden der Repression und Ausschaffung“. Wortwahlen wie diese zeigen kaum implizit, dass das Museum für die Ideale von 1789 eintritt: für Freiheit, Gleichheit und sozialstaatliche Brüderlichkeit. Doch in einer Zeit, in der ein Online-Spendenaufruf für den eingangs erwähnten Todesschützen in Polizeiuniform viermal so viel Geld einbringt wie jener für sein fremdstämmiges minderjähriges Opfer, assoziieren viele Bürger diese Ideale mit den weltfremden Hirngespinsten woker Schneeflöckchen. Fast muss sich verstecken, wer heute noch für Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung, den Primat der Menschenrechte usw. eintritt.


So bleibt das progressive Plädoyer des Museums unausgesprochen. Der Elefant im Raum – die millionenköpfige Schar der rechtsextremen Fremdenhasser im Lande – soll augenscheinlich nicht vor den Kopf gestoßen werden. So räsonabel diese Herangehensweise auch scheint (wäre eine andere überhaupt möglich, könnte ein staatliches Museum sich frontal mit einem Viertel, einem Drittel der Wähler und Steuerzahler anlegen?), illustriert sie doch die Aporie des Diskutierens mit Krakeelern, des Argumentierens mit Erfindern alternativer Fakten, des Rationalisierens mit Anhängern von Verschwörungstheorien. Mit feiner Stimme und Fakten zuhauf sucht das Museum neben aufgeschlosseneren Kreisen auch jene zu belehren, die nichts lernen wollen, weil sie schon alles zum Thema zu wissen meinen. Ob das gelingt?


Doch womöglich greifen ja andere Trümpfe. Der Parcours enthält nicht nur Texte, Tafeln und Dokumente, sondern auch Fotos und Filmausschnitte, Ölgemälde und Installationen, ein vierundachtzig Songs zur Migrationsthematik verströmendes Musikstudio sowie einundzwanzig Fokusse auf Einzelschicksale, angereichert durch persönliche Objekte, von der Maurerkelle bis zur Militärmedaille. Auf dieser menschlich-emotionalen Ebene lässt sich vielleicht dann doch ein wirksames Hausmittel gegen Xenophobie verabreichen: Empathie für die vielen Gestalten des Anderen.


La chanson des émigrés: Ein Ausschnitt der Alben-Wand des Musikstudios (Bild: Palais de la Porte dorée, Anne Volery)

Die Geschichte des Museums, von seinen Anfängen als hehrer Wunsch progressiver Kreise bis zur jüngsten Runderneuerung des Parcours, widerspiegelt sprechend die Positionen der involvierten Akteure. Seit 1988 durch linke Historiker wie Pierre Milza und Gérard Noiriel sowie durch Aktivisten mit Migrationshintergrund getragen, stieß das Vorhaben der Schaffung eines Musée de l’immigration auf das höfliche Desinteresse der in jenen Jahren zumeist regierenden Sozialisten. Bis endlich ein neogaullistischer Präsident seine Umsetzung in die Hand nahm. Jacques Chirac, gleich vier Fünfteln seiner Mitbürger entsetzt, dass 2002 der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen in der Stichrunde der Präsidentschaftswahl gegen ihn antreten konnte, gleiste die Museumsgründung bereits im Folgejahr auf. Und zwar mit einem dezidiert politischen Programm: Die negative Darstellung von Immigranten und die daraus entspringenden Diskriminierungen sollten bekämpft, fremdenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen an der Wurzel angegangen werden.


So explizit und kämpferisch wie damals wurde der Daseinsgrund des Museums nie wieder formuliert. Denn mit Chiracs Nachfolger Nicolas Sarkozy gelangte 2007 ein Demagoge an die Staatsspitze, der dem Rechtsextremismus das Wasser abzugraben versuchte – indem er einen Teil von dessen Programm umsetzte. Die Schaffung eines Ministeriums, in dessen Name die Begriffe „Immigration“ und „nationale Identität“ eine unheilvolle Verbindung eingingen, veranlasste acht von zwölf Mitgliedern des Geschichtskomitees der im Entstehen begriffenen Institution prompt zum Rücktritt. Sarkozy rächte sich, indem er das wenige Monate später eröffnete Haus uneingeweiht ließ – weder der Präsident noch ein Minister zeigten sich bei der Inauguration im Oktober 2007. Stattdessen suchte der Staatschef, mit dem Projekt einer Maison de l’histoire de France eine Gegeninstitution aufzubauen, die eine alternative, offizielle Geschichtsversion verbreitet hätte (wie so vielen vollmundigen Ankündigungen Sarkozys folgte auch dieser keine Konkretisierung nach).


Das Immigrationsmuseum, das pikanterweise in einem ehemaligen Kolonialmuseum untergebracht ist, wurde erst 2014 offiziell eingeweiht, durch Sarkozys sozialistischen Nachfolger François Hollande. Da rang das unterdotierte und durch eine überkomplizierte Verwaltungsstruktur belastete Haus bereits mit gravierendem Besucherschwund – im Jahresmittel lag die Besucherzahl in den sieben ersten Jahren bei rund 70 000. Seitdem konnte, auch dank der Leistung renommierter Historiker wie Benjamin Stora und Pap Ndiaye im Leitungsgremium, die Frequentierung markant erhöht werden. Die neue Dauerausstellung soll jetzt 200 000 Besucher im Jahr anziehen; bei unserem jüngsten Besuch herrschte schier pariserisches Gedränge.


Der Palais de la Porte dorée, anlässlich der Kolonialausstellung von 1931 durch Albert Laprade entworfen, beherbergte zunächst ein Musée des colonies. Seine prachtvollen Art-déco-Flachreliefs und -Fresken singen ein Loblied auf Frankreichs „Zivilisationsarbeit“ in den damaligen Kolonien. Manche mutet die Unterbringung eines Immigrationsmuseum in diesem Bau als ein Skandal an, andere sehen darin eine nicht unironische Wende der Geschichte. (Bild: Palais de la Porte dorée, Pascal Lemaître)

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