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marczitzmann

Tierisch allzumenschlich

Vierzig Jahre Stammtischphilosophie: Philippe Gelucks wortwitzreicher Comic-Kater Le Chat

 


Wer ist Le Chat? Mit seiner Comicfigur hat der Belgier Philippe Geluck eine der bekanntesten Katzen im Reich der Fiktion geschaffen, neben E. T. A. Hoffmanns Kater Murr, Lewis Carrolls Cheshire Cat, Otto Messmers und Pat Sullivans Felix the Cat, der ersten Hälfte des Duos Tom and Jerry, Fujiko Fujios Doraemon, Disney’s‘ Aristocats, Jim Davis‘ Garfield, Joann Sfars Chat du rabbin, Simon’s Cat und einigen weiteren. Bekannt ist Le Chat allerdings hauptsächlich im französischen Sprachbereich: Wegen der allgegenwärtigen Wortwitze schwer zu übersetzen, wurde nur ein (kleiner) Teil der mittlerweile vierundzwanzig dem Katertier gewidmeten Alben auf Niederländisch und Englisch übertragen – und kein einziges auf Deutsch. Dabei sind viele der Reflexionen und Maximen des schnurrenden Stammtischphilosophen von quasi universeller Bedeutung.


Was wissen wir über Le Chat als Person? Er weist einerseits katzenartige Züge auf – hat einen Schwanz und spitze Ohren, verachtet tumbe Köter, fängt und frisst Mäuse –, ist anderseits aber (und vor allem) allzumenschlich. Dies sowohl physisch – er trägt für gewöhnlich einen Trenchcoat über weißem Hemd mit Krawatte, in entspannten Momenten auch bloß einen Leopardenslip – als auch sozial. So geht er einer (nicht näher bestimmten) Arbeit nach und hat eine ganz artfremd überschaubare Familie: einen Zwillingsbruder (dem er gern eins aufs Auge gibt, damit man die beiden nicht verwechselt), zwei Kinder (mit den gesponserten Namen L’Oréal und Yoplait), Neffen sowie (in einer schauderhaft nahen Zukunft: mutierte) Enkel… Das mit Abstand wichtigste Wesen in seiner Umgebung ist indes Roger, der Kneipenwirt, der ihm seinen geliebten Muscadet serviert. Wir sagen „Wesen“, weil der Beizer nie je in gezeichneter Form zu sehen ist. „Nur wenn er spricht“, so Le Chat, „weiß man, dass Roger da ist“. Als der Wirt im sechsten Band stirbt, sieht man den sonst ausdrucks- und gefühlsarmen Stammgast schluchzend über dem Tresen zusammenbrechen.


Im Allgemeinen aber erwärmt sich Le Chat mehr für Tiere als für Menschen beziehungsweise allzumenschliche Katzen. So spielt er Cowboy und Indianer mit einem Pfau, fragt sich, wer wohl dem Storch die Jungen bringt, imaginiert einen Afghanischen Windhund mit Burka und hält sich im Goldfischglas einen Struppi („ich wollte ihn bei der Geburt ertränken, aber er hat sich ans Wasser gewöhnt“). Wie letzteres Beispiel zeigt, besitzt Le Chat zwar kein Gewissen, dafür aber ein Bewusstsein. Er weiß, dass er eine Comicfigur ist: „Mein Vater ist eine Feder und meine Mutter ein Tintenfass“. Und er spielt mit diesem Wissen – die vierundzwanzig Alben wimmeln von Verweisen auf die fiktionale Natur ihres schnurrbartlosen Antihelden und/oder auf die Comicgeschichte.


So hat Le Chat schlicht aus dem Grund oft eine Hand hinter dem Rücken, weil er mit dieser eine auf einen Stab montierte Sprechblase hochhält. Und er ist einzig deshalb dick, „weil man mich so darstellt“. Die Klage über das angeblich mangelnde Handwerk des „Typen, der mich zeichnet“ zählt im Übrigen zu den Running Gags der Serie. Wie auch das Spiel mit dem Format des aus drei Panels bestehenden Strips. So bleibt das letzte Panel einfach leer, als Le Chat einmal früher Feierabend macht. Denn das Katertier macht kein Hehl daraus, dass seine Auftritte ein ungeliebter Brotberuf sind: „Mäuse fressen ist mein Instinkt. Vögel fangen ist mein Instinkt. Hier Blödsinn verzapfen ist nicht mein Instinkt – das mach ich bloß für den Zaster.“ Dennoch könnte man etliche der Sprüche, die das sentenziöse Samtpfötchen klopft, in Marmor meißeln. Eine klitzekleine Blütenlese: „Manches Unausgesprochene ist selbstsprechend.“ „Es gibt nur wenige äußere Zeichen inneren Reichtums.“ „Man lernt aus seinen Fehlern – außer beim russischen Roulette.“ „Manche Leute wissen das Unnütze mit dem Unangenehmen zu verbinden.“ „Ein einäugiger Einarmiger, der auf einem Ohr taub ist, muss das Gefühl haben, ein überschüssiges Bein zu besitzen.“


Wie letzteres Beispiel zeigt, ist Philippe Geluck keineswegs ein feinsinniger Moralist. Vieles in seiner Serie ist derb, zotig, ja geschmacklos – was dem Verkauf von 250 000 bis 300 000 Exemplaren pro Album nicht hinderlich ist, im Gegenteil. „Le Chat“ ist – auch – ein Kind des Ungeists von „Hara-Kiri“, der Satirezeitung mit dem programmatischen Untertitel „dumm und böse“, aus der „Charlie Hebdo“ hervorgegangen ist. Entstanden sind die Strips ursprünglich für die Presse: Der erste erschien am 22. März 1983 in der Brüsseler Tageszeitung „Le Soir“ – der unlängst bei Casterman veröffentlichte vierundzwanzigste Band feiert mithin den vierzigsten Geburtstag des ungebärdigen Katers. Entsprechend den Entstehungsumständen kennt die Inspiration Höhen und (viele) Tiefen: Philippe Geluck spielte parallel zu seiner Tätigkeit als Comicautor Theater, wirkte in Talkshows sowie in Unterhaltungssendungen mit und verschreibt sich seit einer Schau in der Pariser Ecole des beaux-arts 2003 zunehmend Ausstellungsprojekten. So säumte er die Champs-Élysées vor zwei Jahren mit zwanzig übermannshohen, je zweieinhalb Tonnen schweren Le-Chat-Bronzeskulpturen und plant – laut derzeitigem Stand: 2026 – an der Brüsseler Rue Royale ein Musée du Chat zu eröffnen. Lassen wir dem Dickerchen mit den sieben Leben das letzte Wort, um nach neun Gläsern Muscadet sein Oeuvre auf den Punkt zu bringen: „Reichlich guter Geschmack. Nüchternheit, so viel man will. Jede Menge Fingerspitzengefühl. Zurückhaltung bis zum Gehtnichtmehr. In rauen Mengen Takt. Raffinement bis zum Abwinken.“ Man kann das durchaus antiphrastisch verstehen.



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