Suggestiver, halluzinogener, kaleidoskopartiger geht Theater nicht
- marczitzmann
- vor 4 Tagen
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Einzigartige Symbiose: Seit Jahrzehnten adaptiert der Regisseur Ludovic Lagarde in Zusammenarbeit mit den Schauspielern Laurent Poitrenaux und Valérie Dashwood fiktionale Erzähltexte von Olivier Cadiot
Closure – ein kurioser Vorname für einen Franzosen – hat sich in den USA verdingt als Lebensberater, Lustknabe und trashiger Epigone von Marcel Duchamp. Mathilde hat jahrzehntelang am Amazonas die Sozialstrukturen von Indianern und von Piranhas studiert. Beide brauchen eine Verschnaufpause, finanziell, vor allem aber existenziell. Auf der Zugfahrt zu dem Herrensitz, den die Forscherin in der gallischen Pampa geerbt hat, lesen die beiden einen jungen Mitreisenden auf, den naiven, lernbegierigen Pierre. Das alles wird in einem Trauerprolog anlässlich der Bestattung von Closures Halbbruder durch das hinterbliebene Geschwisterteil rezitiert, derweil Pierre am Flügel das „Et incarnatus est“ aus Haydns „Großer Mariazeller Messe“ anstimmt und Mathilde mit steinerner Miene die Seiten umblättert.

Dann öffnet sich der Vorhang auf das Landhaus, abstrahiert zu einem Halbdutzend leerer Leinwände, über die immer wieder luftige Dekors flimmern. Ein paar Möbel als Requisiten – die Bühne ist hier nicht mehr als ein weißer espace mental. Anderthalb Stunden lang werden diesen geistigen Raum stark ausstrahlende Erscheinungen bevölkern, die dank ihrer jeweiligen Aura, Stimme, vor allem aber Fixation individuelle Konturen gewinnen. Closures Obsession ist die Gründung eines neuen Glaubens, wobei der Haustyrann in seinem ständigen Bestreben, den anderen noch vor der Definition des nebulösen „Projekts“ Disziplin und Regeln aufzuerlegen, weniger an einen Religionsstifter gemahnt denn an einen Kulturrevolutionär, wo nicht gar an einen Kultführer. Mathildes Marotte ist das Ausgraben der Überreste familiärer Neurosen und feudaler Strukturen, um an dem Ort, dem sie einst entflohen war, ihr tiefstes Selbst freizulegen. Pierre wiederum sucht sich als halbblödes Vollgenie enzyklopädisches Wissen und musikalisches Können anzueignen, um – ja wozu eigentlich? die autodidaktische Vervollkommnung scheint dem tumben Talent Selbstzweck wie Lebenserfüllung zu sein.
Das ungleiche Trio besticht in Ludovic Lagardes Adaptierung von Olivier Cadiots fiktionalem Erzähltext „Médecine générale“ für die Bühne des Théâtre des Abbesses, dem kleinen Saal des Pariser Théâtre de la Ville, mit trocken-humorigen Tiraden, mit gegenstandslosen, umso erbitterteren Disputen und mit absurd-(alb)traumhaften kollektiven Visionen – womöglich Halluzinationen, die vor lauter Irrealität Streifblicke in eine irrlichternde Überrealität zu ermöglichen scheinen.
Doch schneidet der Bearbeiter aus den knapp 400 Seiten der Vorlage zwei gewichtige Elemente heraus. Zum einen sämtliche Begegnungen mit weiteren Personen: Die Landnachbarn sind im Buch köstlich schräg und enden oft als (imaginäre?) Opfer von Closures Mordgelüsten. Zum andern die Bouvard-et-Pécuchet-Thematik: Die Antihelden von Gustave Flauberts nachgelassenem Roman trachten bekanntlich ebenso systematisch wie unintelligent, alles praktische wie theoretische Wissen der Welt zu erwerben – sie versuchen sich in Politik, Liebe und Religion, dilettieren als Lehrer und Landwirte, pfuschen als Dramatiker und Archäologen. Das Trio von „Médecine générale“ hingegen erwägt ohne jedes System, mit Raubüberfällen, Musik- und Theatervorstellungen oder psychotherapeutischen Sprechstunden das klaffende Loch im Portemonnaie zu stopfen – belässt es aber klugerweise bei den entsprechenden Gedankenspielen. Dieser beiden Elemente beraubt, verliert die Dramatisierung von Cadiots Text die Bodenhaftung. Sie fokussiert in vergeistigten Sphären auf die letzten Dinge, um welche Closures, Mathildes und Pierres Gedankengänge in Endlosschlaufen kreisen: das Schöne und das Gute, das Reale und das Erfundene, die Dreifaltigkeit im Allgemeinen und der Heilige Geist im Besonderen. Faszinierend, aber fleischlos.

„Médecine générale“ ist Ludovic Lagardes elfte Zusammenarbeit mit Olivier Cadiot seit 1993. Neben einem frühen Originaldrama, einer Adaptation von Tschechows „Platonow“, einer Gertrude-Stein-Übertragung und einer Oper („Roméo & Juliette“ mit Musik von Pascal Dusapin) bilden sieben Bühnenbearbeitungen fiktionaler Erzähltexte den Kern des Korpus‘. Während Alvise Sinivia, der in „Médecine générale“ den kindlich begeisterungsfähigen Pierre verkörpert und auch für die klangliche und musikalische Konzeption verantwortlich zeichnet, einen Neuzugang bildet, hat Valérie Dashwood (Mathilde) in vier dieser Produktionen mitgespielt, Laurent Poitrenaux (Closure) sogar in acht. Die Symbiose ist so eng, dass man heute beim Lesen von Cadiots Texten die ebenso wandlungsfähige wie einprägsame Stimme des letztgenannten Schauspielers im Ohr hat.
1997 begründete Poitrenaux mit einem in jeder Hinsicht tollen Monolog die Reihe der kultverdächtigen „Lagarde & Cadiots“. „Le Colonel des zouaves“ schilderte aus der Innenschau die Geheimmission eines als Chefbutler bei einem britischen Herrn infiltrierten Agenten. Militärischer Drill des niederen Personals, chamäleonartiges Verschmelzen mit der Natur beim Laufsport, Optimieren des Tischservices durch Erlangen schier roboterhafter Geschmeidigkeit – aber im Publikum zunehmende Unsicherheit, ob man es mit einem durchgeknallten Domestiken zu tun hatte oder nicht umgekehrt mit einem Spion, dem, zu lang undercover, die falsche Identität in Fleisch und Blut übergegangen wäre. Wie Poitrenaux da, mit beiden Füssen fest am Boden, Oberkörper, Arme und Hände pantomimische Choreografien vollführen ließ, wie seine Stimme, stupend elektronisch verfremdet, im Nu ein hochwohlgeborenes Ekel oder eine verführerische Mamsell vors geistige Auge zauberte, ist unvergesslich.

Gleich „Le Colonel des zouaves“ projizieren alle Texte Cadiots virtuoses Kino in den Kopf des Lesers. „Lass uns spielen, dass…“ könnte die Losung des Autors wie seiner Kreaturen lauten. Letztere imaginieren in frei assoziativer Hirnwut quasifilmische Szenen, ja ganze Szenarien, in einer Sprache, die gespickt ist mit Anspielungen, versteckten Zitaten und Doppelsinnigkeiten, mit Pasticcios des Marketingjargons, imitierten Selbstverbesserungsweisheiten, verballhornten Orakel- oder Glückskekssprüchen. Oft schwingt unter der Stimme, die gerade spricht oder erzählt, noch (mindestens) eine weitere Stimme mit – eine Polyphonie, die viele Falschheiten des Zeitgeists von Heute wie von Gestern entlarvt.
„Fairy Queen“ (mit Dashwood in der Titelrolle und Poitrenaux als schnurrbärtig-bissiger Alice B. Toklas) nahm so vermittels des Auftritts einer falschen Fee in Gertrude Steins Pariser Salon das Genre der Performance aufs Korn. „Un Nid pour quoi faire“ (mit Poitrenaux als in der Farce gestrandetem Lear und Dashwood als gemeinem Staatsrat Goethe) spießte das liliputanisch Kleine, ja Kommune eines Königshofs im Exil eines Skichalets auf. Einzig „Un Mage en été“, ein weiterer Monolog mit Poitrenaux, der auf Cadiots Kindheitserinnerungen basiert, verließ das Register des Ironisch-Ätzenden zugunsten eines mehr elegischen Tonfalls. Der genialische Schauspieler schwamm da durch die Luft wie eine Seekuh, tanzte zu Electro wie das Tier 666, sprach mit vielen Stimmen: jener einer Nixe, jener von Theodor W. Adorno, jener der Mutter der Figur, die er verkörperte, und jener von deren Vater, der Paul Morand nachahmte, wie dieser Marcel Proust imitierte... Suggestiver, halluzinogener, kaleidoskopartiger geht Theater nicht.
Verwendete Literatur:
Olivier Cadiot: Médecine générale. P.O.L., Paris 2021. 400 Seite, Euro 21.-.
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