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marczitzmann

Mythomane, Mode-Magnat und Meister des Monogramms

Aktualisiert: 29. Sept. 2022

Am 2. Juli wäre Pierre Cardin, Pionier des Lizenzsystems und Profi der Selbstvermarktung. hundert Jahre alt geworden

In den späten 1950er Jahren begann Pierre Cardin, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Seiner künftigen Pressesprecherin Odile Moltzer öffnete er beim Vorstellungsgespräch die Tür zu seinem Büro mit den Worten: „Pierre Cardin wird sie jetzt empfangen“. Bei Cocktailpartys gab er gern Auskunft über das Befinden seines Namens. „Mein Name ist ganz groß in Buenos Aires“, pflegte er zu berichten, „aber nicht ganz so groß in Caracas“. Einem engen Mitarbeiter verriet er sogar einmal: „Mein Name ist wichtiger als ich selbst“. Eine traurige, ja schockierende Konfidenz. Doch traf diese den Nagel auf den Kopf: Im Lauf der Zeit war das Label wichtiger geworden als sein Gründer, hatte der Name den Vorrang gewonnen vor dem Namengeber.


Wenn der Designer, der am 2. Juli hundert Jahre alt geworden wäre, für eines in die Geschichte eingegangen ist, dann als Pionier des Lizenzsystems in der Mode. Mehr als für einen Stil steht „Pierre Cardin“ heute für eine seinerzeit visionäre Art, sich selbst zu vermarkten. Das Prinzip ist ebenso bekannt wie mittlerweile banal: ein berühmter, verkaufsfördernder Name wird für ein bestimmtes Produkt, einen bestimmten Markt und eine bestimmte Zeitdauer vermietet, gegen eine Sofortzahlung sowie eine Beteiligung am Jahresumsatz. Christian Dior hatte 1948 die wohl ersten Couture-Lizenzen vergeben: für Socken und Krawatten. Aber der 1922 in San Biagio di Callalta bei Treviso geborene Cardin begann zehn Jahre später, seinen Namen nicht mehr nur für Accessoires herzugeben, sondern auch für Konfektion: für industriell en masse gefertigte Kleider zu erschwinglichen Preisen. Und nicht nur für das: auch für Skier und Stifte, für Parfums und Pfannen, für Schokolade, Fernseher, Taschenrechner, Puppen, Wecker und Autos. Die Gesamtzahl der Cardin-Lizenzen schwankte, je nach Quelle, zwischen fünfhundert und achthundert.


Hier eine kleine Auswahl in Bildern:


Auch in anderen Bereichen war Cardin seinen Konkurrenten um Jahre voraus. Er war der Erste, der Prêt-à-porter in populären Kaufhausketten vertrieb: Printemps in Frankreich (was 1960 einen kleinen Aufruhr in der Pariser Modewelt auslöste), Hertie in Deutschland, Selfridges in Großbritannien, La Rinascente in Italien, Takashimaya in Japan. Er war der Erste, der Kleider mit seinem Monogramm (PC) versah, was einst als unsäglich vulgär galt und heute, gerade bei Luxusmarken, in Lettern geschieht, die nicht fett genug sein können. Er war der Erste, der eine Haute-Couture-Schau für Männer veranstaltete – da es seinerzeit noch keine professionellen Models gab, ließ Cardin Anfang 1960 zweihundert Sorbonne-Studenten durch die Salons des Hôtel Crillon paradieren. Und er war der Erste, der Märkte erschloss, an die andere Modeschöpfer nicht einmal gedacht haben mochten: die Riesenreiche Sowjetunion, Indien, Japan und China, Ostblockstaaten wie Albanien und Jugoslawien – heute ist die Marke in rund hundertfünfzig Ländern präsent.


Cardins Geschäftsmodell, wiewohl völlig unorthodox, führte trotz paternalistisch-autokratischem Personalmanagement und oft chaotisch-erratischem Wirtschaften zur Bildung einer der weltweit bekanntesten Marken. Kehrseite dieses Erfolgsmodells mit seiner allzu freigebigen Lizenzvergabe und unzureichenden Qualitätskontrolle war eine allmähliche Abwertung des anfangs prestigereichen Markenimages. Der Verkauf von Cardin-Nippes in Supermärkten oder die Tatsache, dass ein und dasselbe Produkt von einem Land zum andern keineswegs die gleiche Ausführungsqualität aufwies, waren dem Ansehen des Labels abträglich. Freilich: Geschäfte werden nicht nur in Paris, Mailand und New York gemacht – in der sogenannten nichtwestlichen Welt genießt Cardin bis heute einen beneidenswerten Ruf.


Das Profil des Designers verunklären mochte auch die Tatsache, dass seine Kollektionen kaum je eine klar definierte und konsequent durchgezogene Linie aufwiesen. Im Gegenteil waren Cardins monströs umfangreiche Defilees (mit selten weniger als dreihundert Modellen!) eklektisch bis zur Disparatheit. Bewunderer erklärten diesen Umstand mit einem Überfluss an Inspiration, Verächter mit dem Bestreben, den Lizenznehmern in Sidney wie jenen in Seoul und Rio de Janeiro etwas zu bieten. Heute wird Cardin vor allem mit naiv-futuristischen Kostümen à la James Bond assoziiert, wie sie die „Cosmocorps“-Kollektion von 1967 exemplifizierte. Doch kennzeichnend ist zuvörderst der gleichsam skulpturale Ansatz: das Bestreben, den menschlichen Körper mittels Fledermaus-Flügeln, pagodenartigen Schultern, wie Krinolinen in Kleider eingezogenen Hula-Hoop-Reifen und anderen Kunstmitteln plastisch umzumodeln. Dabei war Cardin kein Schreibtisch-Designer, sondern neben Cristóbal Balenciaga einer der wenigen Schneider, die ein Kleid von A bis Z eigenhändig anzufertigen vermochten.


Als einer der ersten hatte er auch erkannt, dass es bei Haute-Couture-Defilees weniger auf Tragbarkeit denn auf Fotogenität ankommt. Das Ergebnis: Jumpsuits für Clowninnen und Outfits für Raumschiff-Krankenschwestern sowie, auf Männerseite, Anleihen bei mittelalterlichen Kostümen beziehungsweise Science-Fiction-Filmen – das Ganze versehen mit völlig überspannten Sonnenbrillen und Helmen. Doch fanden sich neben solchen Space-Age-Kreationen auch immer sehr tragbare, romantisch-elegante Abendkleider, die oft das Werk von Cardins hochbegabtem Mitarbeiter und langjährigem Lebensgefährten André Oliver waren. Alles in allem eine uneinheitliche Produktion, die aber zumindest zwischen 1960 und 1975 starke Akzente setzte.


Visionär war nicht zuletzt Cardins Intuition, dass Mode vom Kontakt mit anderen Künsten nur profitieren kann. Heute betreibt jeder Strumpffabrikant eine Galerie – aber als der Designer 1970 das Pariser Théâtre des Ambassadeurs pachtete und in einen multidisziplinären „Espace Cardin“ mit avantgardistischem Dekor verwandelte, ging ein vernehmlicher Rumor durch die hauptstädtische Kulturszene. Als Innenarchitekt und Schöpfer zum Teil fesselnder Möbel, als Sammler und Mäzen, als Betreiber von Theatern, Festivals und Museen hat sich Cardin bleibende Verdienste erworben – trotz eines persönlichen Geschmacks, der oft diskutabel war.


Als Selbstvermarkter ist der in einem venezianischen Weiler geborene, in Saint-Étienne aufgewachsene Selfmademan womöglich unerreicht – auch wenn der Versuch, „Maxim's“ im Gastronomiesektor als ein Pendant zum eigenen Namen im Modebereich zu etablieren, weniger gut gelang. Auch zog das Skulptieren der eigenen Statue so manches Arrangement mit der Wahrheit nach sich. Wie Cardins Biograf Richard Morais nachweisen konnte, hat dieser weder die Kostüme von Jean Cocteaus Filmklassiker „La Belle et la Bête“ entworfen, wie er behauptete, noch ganz ohne Fremdhilfe seine Gruppe aufgebaut. Und einen allfälligen „Rauswurf“ aus der Pariser Chambre Syndicale de la Haute Couture, weil er Mode via Prêt-à-porter fürs niedere Volks zugänglich gemacht habe, gab es nur in eigenen Darstellungen. Tatsächlich trat Cardin 1966 von selbst aus, weil er nach jedem Defilee sogleich Fotos für seine Lizenznehmer in Asien oder Südamerika brauchte – was einem zwecks Kopierschutz erlassenen dreißigtägigen Bilderverbot des Berufsverbands zuwiderlief.


Doch auch ohne solche Retuschen ist dem Ende 2020 im Alter von achtundneunzig Jahren verstorbenen Mythomanen, Mode-Magnaten und Meister des Monogramms ein Platz in der Designgeschichte sicher.




Verwendete Literatur:
Richard Morais: Pierre Cardin - The Man Who Became a Label. Bantam Press, 1991.

Zum Thema "Lacoste und Cardin" habe ich 2020 eine Reportage für die WOZ geschrieben.

Alle Bilder: flickr
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